Religionsmonitor 2013: Religiosität und Zusammenleben in Deutschland
Der Religionsmonitor ist ein auf Initiative der Bertelsmann Stiftung federführend von Stefan Huber entwickeltes Messinstrument zur Erfassung der individuellen Religiosität. Es gilt als eines der elaboriertesten und validesten Tools, das bei der notorisch schwierigen Frage, wie Religiosität zu messen sei, helfen kann. Denn es kombiniert die qualitative mit der quantitativen Dimension, insofern es sowohl die verschiedenen Facetten von Religiosität als auch deren mehr oder weniger starke Ausprägung im mentalen Konstruktsystem eines Menschen berücksichtigt. Es legt einen substanziellen Religionsbegriff zugrunde und kann grundsätzlich bei der Erforschung aller Religionen eingesetzt werden.
Die erste Auflage des Religionsmonitors erschien 2008; damals wurden über 21.000 Menschen aus 21 Ländern befragt (vgl. die Zusammenfassungen in euangel 2/2010 und 1/2011). Aktuell liegt nun die Fortführung dieses Projekts mit einer wiederum sehr aufwändigen Erhebung vor, bei der 14.000 Menschen aus 13 Ländern etwa 100 Fragen beantwortet haben. In dieser zweiten Auflage des Religionsmonitors steht weniger die Längsschnitt-Perspektive im Vordergrund, die nach Veränderungen im religiösen Feld im Zeitvergleich fragen würde; gravierende Unterschiede sind innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren auch nicht unbedingt zu erwarten. Vielmehr wurde das Messinstrument erweitert und die soziale und politische Relevanz der Religion in den Fragebogen mit einbezogen. Daher wurden zusätzlich die Bereiche der Werte, der Wahrnehmung der religiösen Vielfalt und des gesellschaftlichen Zusammenhalts thematisiert.
Eine erste Auswertung der Ergebnisse liegt in zwei Publikationen der Bertelsmann Stiftung vor: Die Daten für Deutschland analysieren die Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack und Oliver Müller; einen internationalen Vergleich nimmt der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel vor. Weitere Publikationen mit weitergehenden Analysen für Deutschland sowie ausgewählte Länderberichte sind angekündigt. Im Folgenden werden die Ergebnisse für den deutschen Bereich knapp zusammengefasst.
Betrachtet man die Ergebnisse für die Intensität von Religiosität insgesamt, so belegen die Daten wieder einmal eindrucksvoll die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland, sowohl hinsichtlich der religiösen Praxis (institutionalisiert wie privat) als auch des Glaubens an Gott und der (selbsteinzuschätzenden) religiösen Identität. In beiden Fällen sind die positiven Antworten im Westen doppelt so hoch wie die im Osten: 22% der Westdeutschen besuchen mindestens monatlich einen Gottesdienst und 24% beten mindestens einmal täglich, während es unter den Ostdeutschen nur jeweils 12% sind. Ein Viertel (25%) der Westdeutschen geben an, nie zu beten, unter den Ostdeutschen sind es dagegen zwei Drittel (66%). Auch hinsichtlich des Glaubens an Gott sind die Differenzen ähnlich groß: 54% der Westdeutschen stufen sich als gläubig bzw. eher gläubig ein, unter den Ostdeutschen sind es 23%; die deutliche Mehrheit von fast 70% hält sich im Osten für wenig oder gar nicht gläubig. Überraschend ist allerdings, dass die Zahl der (eher) gläubigen Ostdeutschen sich seit der ersten Erhebung 2008 von 12% auf 23% erhöht hat, was dem sonst zu beobachtenden Trend entgegensteht und von den Autoren auch nicht weiter erklärt werden kann. Auch die Selbsteinschätzung als (ziemlich bzw. sehr) religiös hat sich unter den Ostdeutschen von 6% (2008) auf 12% (2013) erhöht, im Westen ist sie von 18% auf 21% gestiegen. Die spirituelle Selbsteinschätzung hat sich dagegen sowohl im Westen als auch im Osten nur geringfügig erhöht: Von 12% auf 13% im Westen und von 4% auf 6% im Osten. Sowohl im Westen wie im Osten lässt sich eine deutliche Ablehnung von Synkretismus und Dogmatismus erkennen.
Der Stellenwert der Religion im Alltag der Menschen ist im Vergleich mit anderen Lebensbereichen für viele Menschen nur gering: Die Bereiche Familie, Freunde und Freizeit werden von über 90% als sehr bzw. eher wichtig eingestuft, und auch Arbeit/Beruf und Politik sind noch wichtiger als Religion, die im Westen von 54% und im Osten von 27% als (sehr) wichtig angesehen werden; eine noch geringere Bedeutung hat nur der Bereich der Spiritualität. Dabei sind jedoch interessante Alterseffekte auszumachen: Während es bei den oben auf der Rangliste stehenden Bereichen kaum Altersunterschiede gibt, schätzen die Älteren (über 60 Jahre) Religion als deutlich wichtiger ein als die jüngste Gruppe der 16- bis 30-Jährigen (im Westen 70% gegenüber 42%, im Osten 32% gegenüber 21%). Beim Bereich der Spiritualität sind zumindest im Westen kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen zu erkennen (im Durchschnitt schätzen ihn 32% für wichtig ein), während die jüngere und mittlere Gruppe im Osten hier eine stärkere Zuwendung erkennen lassen als die ältere (25% bzw. 27% gegenüber nur 17% bei der älteren Gruppe).
Als wichtigster Prädiktor für die Erklärung individueller Religiosität und Kirchlichkeit gilt die religiöse Sozialisation – hier sind im Altersvergleich dramatische Abbruchsprozesse zu verzeichnen: In allen Altersgruppen ist der Anteil der religiös Erzogenen im Osten niedriger als der im Westen; er liegt in der ältesten Gruppe (über 66 Jahre) im Westen noch bei 70% und im Osten bei ca. 45%, um in der jüngsten Gruppe (16-25 Jahre) auf ca. 25% bzw. ca. 12% abzusinken. Während sich aber im Osten der Anteil der religiös Erzogenen schon seit einiger Zeit auf einem niedrigen Niveau von um die 15% eingependelt hat, scheint der Prozess im Westen noch nicht abgeschlossen. „Dass es vor diesem Hintergrund in nächster Zeit zu einer Renaissance der Religion in ihrer traditionellen Form kommen wird, erscheint somit eher unwahrscheinlich“ (16). Vielmehr gilt: „Fehlende religiöse Erfahrungen und nicht mehr vorhandenes religiöses Wissen führen ... ganz offensichtlich dazu, dass vielen Menschen ein Leben ohne Religion als ganz selbstverständlich erscheint“ (ebd.).
Neben dem Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland sind auch die konfessionsspezifischen Ausprägungen der Religiosität von Interesse. Bei der Betrachtung der Intensität der Religiosität ist meist eine Abstufung „muslimisch – katholisch – evangelisch – konfessionslos“ zu beobachten. So halten 89% der Muslime, 64% der Katholiken, 58% der Protestanten und 10% der Konfessionslosen Religion für (eher bzw. sehr) wichtig. Allein bei der religiösen Praxis (Gottesdienstteilnahme) erreichen die Katholiken den höchsten Wert (33%), gefolgt von den Muslimen (30%). Bei der Frage nach dem Einfluss soziodemographischer Variablen auf die Religiosität lässt sich erkennen, dass ältere und auf dem Land lebende Menschen stärker einer „traditionellen“ (im Sinne von Gottesdienstbesuch und religiöser Selbsteinschätzung und in Abgrenzung von spiritueller Selbsteinschätzung) Form von Religiosität zuneigen; nicht bestätigen lässt sich allerdings ein Zusammenhang von (traditioneller) Religiosität und sozialer Benachteiligung.
Ein weiteres Kapitel des Religionsmonitors befasst sich mit Werten und deren Zusammenhang mit Religiosität. Hier wird versucht, das „Wertegerüst“ der bundesrepublikanischen Bevölkerung zu erfassen. Bei konkreten ethisch-moralischen Fragen (Recht auf Abtreibung, Sterbehilfe, Heirat homosexueller Paare) zeigen sich zwei Konfliktlinien: Zum einen zwischen der „liberalen“ Position der christlich bzw. säkular geprägten Mehrheitsbevölkerung einerseits und der „rigideren“ Position der muslimischen Bevölkerung. Z.B. stimmen 87% der Konfessionslosen, 78% der Protestanten und 70% der Katholiken für die Möglichkeit homosexueller Paare zu heiraten, während es bei den Muslimen nur 48% sind; beim Recht auf Sterbehilfe stimmen 86% der Katholiken, aber nur 42% der Muslime zu. Zum anderen zeigt sich, so die Autoren der Studie, eine deutliche Kluft zwischen der „offiziellen“ Haltung der katholischen Kirche und ihren „einfachen“ Mitgliedern.
Bei der Herausbildung allgemeiner Werte wie Unabhängigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Regelbefolgung und Gerechtigkeit spielt die Familie die größte Rolle: Unter allen Sozialisationsinstanzen wird sie immer am häufigsten genannt, wenn ist um die Vermittlung der genannten Werte geht, gefolgt von Schule und Freundeskreis; die religiöse Gemeinschaft wird weitaus seltener angegeben. Interkonfessionelle Differenzen scheinen dabei nur eine untergeordnete Rolle zu spielen; ebenso zeigen alle Konfessionen eine überwältigende (mindestens 80%) Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform. Zum Stichwort „Wertewandel“ lässt sich konstatieren, dass die älteren Altersgruppen den Werten „Tradition“ und „Sicherheit“ stärker zuneigen als die jüngeren, dass jedoch Hilfsbereitschaft für alle Altersgruppen ohne größere Unterschiede der wichtigste Wert ist. Die jüngeren Altersgruppen wiederum zeigen eine höhere Zustimmung im Bereich „Hedonismus“ als die älteren.
Der zweite neu in den Religionsmonitor aufgenommene Fragenkomplex bezieht sich auf die Einstellungen zur religiösen Vielfalt in Deutschland. Hier wird eine große Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Religionen deutlich: 87% der Westdeutschen und 78% der Ostdeutschen stimmen dem Satz zu, man sollte gegenüber allen Religionen offen sein. Dass religiöse Vielfalt eine Bereicherung ist, vertreten 61% im Westen und 57% im Osten. Gleichzeitig geben 65% im Westen und 59% im Osten an, dass die religiöse Vielfalt eine Ursache für Konflikte darstellt, was nach Meinung der Autoren für ein hohes „Problem- und Realitätsbewusstsein der deutschen Bevölkerung“ (36) spreche.
Bei der Wahrnehmung unterschiedlicher Religionen fällt auf, dass Christentum, Judentum, Buddhismus und Hinduismus überwiegend als Bereicherung und nur von Minderheiten als Bedrohung (beim Judentum aber immerhin von 19%!) wahrgenommen werden; das Christentum trifft also in Deutschland auf eine mehrheitlich positiv eingestellte Grundstimmung. Dahingegen wird der Islam von 49% der Westdeutschen und 57% der Ostdeutschen als Bedrohung wahrgenommen. Auffällig ist der hohe Wert der negativen Einstellung unter den Ostdeutschen, insbesondere da nur 2% aller Muslime in Deutschland im Osten leben. Daraus folgern die Autoren, dass es für die Einstellung zu einer (nicht-christlichen) Religion „offenbar weniger entscheidend [ist], wie genau man sie kennt ..., ausschlaggebend ist vielmehr, welches Bild von ihnen über die Medien vermittelt wird und wie man in der Familie und im Bekanntenkreis über sie redet“ (38). Weitere Analysen zeigen, dass das negativere Bild vom Islam im Osten weniger von religiösen als von sozialstrukturellen Merkmalen (Alter, geringere Bildung, subjektiv niedrigere Schichteinschätzung) abhängt.
Insgesamt zeigt sich für Deutschland folgendes Bild: „Dominant auf dem religiösen Feld sind ... nach wie vor die großen christlichen Kirchen, die allerdings an Ausstrahlungs- und Anziehungskraft verlieren. Die Pluralität unterschiedlicher religiöser Gruppierungen und Organisationen führt nicht nur zur Wahrnehmung der damit verbundenen Gewinne, sondern auch zur Wahrnehmung der Konflikthaftigkeit des Religiösen ... Die Vielfalt religiöser Gruppierungen und Organisationen führt daher zwar kaum zu einer Intensivierung der christlichen Praxis, wohl aber zu Formen der Aufwertung des Christentums auf sprachlicher Ebene“ (43).
Das letzte Kapitel des Religionsmonitors befasst sich mit „Religion und gesellschaftlichem Zusammenhalt“ und fragt danach, welchen Beitrag Religion durch den Aufbau von sozialem Kapital (freiwilliges Engagement, Vertrauen) für die gesellschaftliche Integration zu leisten imstande ist. Hier zeigt sich, dass religiöse Menschen sowohl ein stärkeres freiwilliges Engagement als auch mehr Vertrauen in andere Menschen zeigen, gleich welcher Konfession. Protestanten und Katholiken unterscheiden sich beim Engagement nicht; sie liegen mit jeweils 39% beide über den bundesdeutschen Durchschnitt von 35%. Die Daten des Religionsmonitors können jedoch nicht bestätigen, dass die religiöse Pluralisierung in besonderem Maße interpersonales Vertrauen generiert: „Gesellschaften weisen einen höheren Integrationsgrad auf, wenn sie religiös homogener sind“ (52).
Die Daten der Neuauflage des Religionsmonitors zeigen insgesamt die pastorale Herausforderung für die katholische Kirche an, sich auf eine Mehrheit ihrer Mitglieder einzustellen, die nur eine diffuse Religiosität und eine geringe, meist unreflektierte Bindung an die Kirche aufweisen.
Detlef Pollack / Olaf Müller, Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh 2013 (abrufbar unter www.religionsmonitor.de)