Schrumpfen und Wachsen
Strukturwandel in der brandenburgischen Braunkohleregion
Wachsen und Schrumpfen werden oft als gegensätzlich wahrgenommen. Ist das so? Ist Wachstum immer gut und Schrumpfen immer mit Verlust verbunden? Auf den ersten Blick mag das so sein. Jedoch lohnt sich eine tiefergehende Betrachtung zu dem Thema. Ich bin gebeten worden, dieses Thema aus dem Blickwinkel einer ostdeutschen Kleinstadt im Lausitzer Braunkohlerevier zu betrachten. Diesem Wunsch komme ich gerne nach. Als Betrachtungszeitraum wähle ich die vergangenen 35 Jahre und ich wage auch einen Ausblick auf die kommenden 15 Jahre. Das ist – bei der heutigen Lebenserwartung – ein halbes Menschenleben.
Meine Stadt, in der ich geboren wurde und in der ich jetzt seit zehn Jahren Bürgermeisterin bin, die Menschen in meiner Stadt, wir haben das Wachsen und Schrumpfen erlebt, besonders das Schrumpfen mit voller Wucht. Was hat das mit uns und aus uns gemacht?
Begonnen hat alles damit, dass die vielen Hoffnungen auf eine gute Zukunft nach der deutschen Wiedervereinigung brutal zerstört wurden. Nicht etwa langsam in homöopathischen Dosen, nein, mit brachialer Gewalt wurde alles, was nicht gewinnbringend war (wie denn auch – nach 40 Jahren Staatswirtschaft?), regelrecht hinweggefegt. Ich kann mich noch gut erinnern an die verzweifelten Frauen, die in der Textilindustrie, aus der ich komme, immer eine gute Arbeit geleistet hatten. Ihre Erfahrungen, ihr Können waren nicht mehr gefragt. Die Hoffnungen und Pläne zerplatzten wie Seifenblasen. Viele sind weggegangen, zu viele. Nichts ist einfacher, als etwas kaputt zu machen, ohne einen Plan entwickeln zu müssen, wie es denn dann weitergehen soll. Ein großes Versäumnis und auch ein Grund für die heutige politische Situation in Ostdeutschland und eben auch in meiner Heimat, in der Lausitz. Oft denke ich, es läuft schon wieder so: erstmal kaputt machen, was in 35 Jahren entstanden ist, ohne einen Plan für das Danach. Oder noch schlimmer: darauf hoffen und voraussetzen, dass andere es schon richten werden. Beim Kaputtmachen kann jeder mitmachen. Dafür braucht es keine Kompetenzen, Wut reicht.
Meine Heimatstadt Spremberg/Grodk war das Zentrum der ostdeutschen Gasversorgung. Mehr als 80 % der Bevölkerung wurde von hier mit Stadtgas versorgt. Die Lausitzer Kohle, unser heimischer Rohstoff, hat uns groß gemacht, wir sind gewachsen. Ohne uns, ohne die Arbeit der Beschäftigten in der Kohle- und Energieindustrie, ging gar nichts. Das hat uns geprägt. Im Dunstkreis dieser Industrie entstanden andere große Industriebetriebe. Viel wurde in die soziale Infrastruktur investiert. Schulen, Kitas, Schwimmhallen, Theater werden noch heute genutzt. Der ÖPNV hat funktioniert. Wir sind gewachsen, wir waren stolz. Aber wir hatten auch Wachstumsschmerzen. Völlig auf der Strecke blieb der Umweltschutz, aber auch der Arbeitsschutz, wie ich mich gut an meine ersten Jahre als Ingenieurin in einem Spremberger Textilbetrieb erinnern kann. Das Wachstum war der Zukunft abgekauft, kein guter Handel!
Heute verklärt sich bei vielen der Blick auf die Vergangenheit. Mir ist das unverständlich. Der Verlust zigtausender Arbeitsplätze bedeutete ja nicht nur finanzielle Einbußen. Er war verbunden mit einem sozialen Abstieg, der Kampf um die Existenz raubte die Kräfte und trübte den Blick in die Zukunft. Schrumpfen ist in der Lausitz nur negativ besetzt. Unsere Fallhöhe war ja auch besonders hoch.
Und doch ist wieder etwas gewachsen. Wir konnten uns stabilisieren, haben uns gefangen. Aber in diesem Wachsen war wenig Neues. Wir versuchten, den alten Zustand wiederherzustellen. Arbeitsplätze waren der einzige Maßstab. Eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau war zwar gelungen, aber zu welchem Preis? Ein Drittel der Bevölkerung der Lausitz wanderte ab oder, schlimmer noch, wurde regelrecht herausgekauft aus der Lausitz. Die Schulinfrastruktur musste angepasst werden, der Wirtschaftsstandort Spremberg/Grodk verlor seine Bedeutung in der betrieblichen Ausbildung. Tausende Wohnungen wurden abgerissen, Industriebrachen prägten das Stadtbild. Neues entstand oft als Kompromiss, ohne staatliche Förderung ging gar nichts. Immer wieder gab es Rückschläge, aber wir hatten uns gefangen, wenn auch auf niedrigem Niveau.
Im Januar 2014 wurde ich zur Bürgermeisterin meiner Heimatstadt gewählt. Mein Wahlprogramm trug den damaligen Gegebenheiten Rechnung. Wir hatten uns alle irgendwie abgefunden mit dem Status quo. Vielleicht waren wir auch mitgeschrumpft, unsere Träume waren bescheiden. Das Ziel war: Es darf nicht wieder schlechter werden.
Dann wurde 2015 deutlich, dass es ernst wird mit dem Kohleausstieg. Schlagartig war alles wieder da aus den Nachwendezeiten. Untergangsstimmung machte sich breit. Wenn der letzte Industriezweig wegbricht, dann haben wir nichts mehr, dann ist die Lausitz und damit auch die Stadt Spremberg/Grodk erledigt, davon erholen wir uns nicht mehr. Wir schrumpfen bis zur Bedeutungslosigkeit, und dabei waren wir doch so wichtig gewesen. So war die Meinung, ist sie teilweise noch heute.
Das war der Punkt, an dem die Wandlung begann. Wir wollten nicht noch kleiner werden, nicht noch kleiner gemacht werden. Von sogenannten Klimaschützern schlug uns Hass entgegen, der einzig darin begründet war, dass in unserer Heimaterde Kohle lag und diese zum Wohle aller genutzt wurde. Im Rahmen meiner Mitarbeit in der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung („Kohlekommission“) wurde ich bei jeder Beratung bedrängt, dabei wollte ich doch dazu beitragen, eine Lösung für eine der drängendsten Fragen zu finden und einen gesamtgesellschaftlichen Kompromiss zu erreichen. Solche Menschen kamen in unsere Lausitz, die alle Regeln missachteten, die ihre vermeintlichen Rechte alleine aus einem selbstgefälligen vermeintlichen moralischen Anspruch ableiteten. Das hatten wir schon mal! Wieder waren sie da, die, die alles besser wissen, aber nichts besser machen, außer alles kaputt zu machen.
Das war der Punkt, an dem sich etwas änderte, der Moment, an dem wir erkannten: Wenn wir nicht neue Wege gehen, wenn wir nur mit uns machen lassen, uns kaputt machen lassen, dann war’s das mit der Zukunft der Lausitz, dann bleibt nur Heidelandschaft, wie vor 200 Jahren.
Erstaunlicherweise hatte das Schrumpfen und die Angst vor der endgültigen Versenkung in der Bedeutungslosigkeit etwas Gutes. Wir dachten um, wir machten Pläne, eigene Pläne!
Das Wichtigste dabei war, die Menschen zu erreichen, um ihnen zu erklären, was der Plan ist, und ihnen Mut zu machen. Dabei half es mir und meinen Kolleginnen und Kollegen Bürgermeistern aus der Lausitz, dass wir einen direkten Zugang zu den Menschen haben. Wir leben in ostdeutschen Kleinstädten, hier läuft man sich täglich über den Weg, hier kann man nicht ausweichen, hier erklären keine beauftragten Kommunikationsexperten, warum Bürgermeisterinnen und Bürgermeister eine Zukunft der Lausitz auch ohne Kohle sehen, ja, dass das überhaupt die Zukunft ist. Diese Nähe hat uns geholfen, denn die Bürgerinnen und Bürger leben nicht im Bundestag, nicht in den Landtagen, sie leben und wohnen in den Städten und Dörfern. Wir können uns nicht verstecken, wir stehen Rede und Antwort, immer, direkt.
Unser Plan, unser Wachstumsplan ist ambitioniert, zukunftsorientiert. Nicht wenigen ist das inzwischen suspekt, quer durch die Gesellschaft geht das. Unser Handeln wird als anmaßend empfunden, unangemessen, zu laut. Aber wir lassen nicht locker. Es geht inzwischen um viel mehr als ums Wachsen. Wir wollen die Ersten sein! Ja, wir trauen uns viel zu, sogar, dass die Lausitz das erste Netto-Null-Valley in Europa wird. „Was ist denn das schon wieder?“, werden wir gefragt. Nun, so wie wir in unseren vermeintlich besten Zeiten ganz vorne waren, als es darum ging, mit Hilfe der Kohle das Land zu versorgen, so wollen wir wieder vorne sein, wenn es darum geht, dies nun auf anderem Wege zu erreichen.
Das ist etwas Neues. Das kann dazu beitragen, dass wir unser Ziel, eine europäische Modellregion für den Strukturwandel zu werden, tatsächlich erreichen. Wir, in der Lausitz, wo wir doch so klein und unbedeutend geworden sind!?
Jetzt, wo Neues entsteht, ist zu beobachten, dass es durchaus Widerstand gegen das Neue gibt. Zu schnell, zu einseitig, als ob wir nicht vor nicht allzu langer Zeit total einseitig auf die Kohle gesetzt haben, keine Leute und, und, und … Aber wir wollen doch raus aus dem Jammertal, wollen wieder wachsen, groß werden, Neues wagen. Oder doch nicht? Wir haben Wachstumsschmerzen, Veränderung tut weh.
Es wird noch eine Weile brauchen, bis wir ein neues Gleichgewicht gefunden haben. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die Balance verlieren, dass wir nicht straucheln. Die Gefahr ist da. Vermeintlich gutmeinende Stimmen locken uns zurück in die Zeit, in der es ruhig zuging, zu ruhig.
Wachstum wird negativ bewertet, Stillstand wird plötzlich gefordert und Innehalten. So ist das, einige haben sich in 35 Jahren daran gewöhnt, dass es immer nur bergab geht. Aufbruch macht sie unruhig. Mit Angst lässt sich gut Politik machen. Nur nichts wagen, alles in Frage stellen, keine Vorschläge machen! Wenn eine solche rückwärtsgewandte, extrem egoistische Sicht auf unsere Chancen im Strukturwandel die Oberhand gewinnt, dann „gute Nacht, Lausitz“. Eine zweite Chance bekommen wir nicht.
Mein Blick 15 Jahre voraus ist natürlich geprägt von meinen Erfahrungen der vergangenen 35 Jahre: Hoffnung, Scheitern, Neuanfang, Zweifel, alles dabei. Auch das Schrumpfen hat uns viel gelehrt, am wichtigsten: nicht aufgeben, Verbündete suchen, zusammenhalten! Mehr Mut als Wut!
Das wird gut werden in der Lausitz, auch wenn wir das Ergebnis noch nicht im Detail kennen. So ist das mit dem Wachsen: Man sieht das Ergebnis erst, wenn es fertig ist.