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Nach unten wachsen?

Die Provokation einer Zivilisation der Armut

Vor dem Hintergrund, dass angesichts der globalen ökologischen Krisen, die immer deutlicher werden, herkömmliches Wachstum zunehmend an die Grenze kommt und zerstörerische Wirkungen zeigt, fragt Martin Kirschner mit Papst Franziskus: Welches zivilisatorische Konzept streben wir an, wie können wir Wachstum neu verstehen?

Zwei Arten von Wachstum

Unsere Zeit ist von Erfahrungen vielfacher Krisen geprägt, die ineinandergreifen und einander verstärken. Konflikte und Spaltungen in Politik, Gesellschaft und auch Kirche verschärfen sich, bis hin zu einer internationalen Konfrontation, eskalierender Gewalt und Kriegen, deren Ende nicht absehbar ist. Die moderne Kultur des Wachstums und Erfolgs mit ihren Vorstellungen einer stetigen Ausweitung menschlicher Möglichkeiten hin zu größerem Fortschritt, wachsender Freiheit und Selbstbestimmung, größerem Wohlstand und einer besseren Zukunft hat ein entfesseltes Wachstum hervorgebracht, das in ein „Wachstum nach unten“ umschlägt: in eine zerstörerische Dynamik, die nicht mehr gebremst werden kann und in die Katastrophe führt. Die Vorstellung von Wachstum als einem linearen Fortschritt in der Kontrolle des Menschen wurde von der Angst vor einem „exponentiellen“ Wachstum abgelöst, das sich wie in der Coronapandemie auf ein Virus beziehen kann, aber auch auf Angstbilder wie die „Flüchtlingswellen“ oder die „Bevölkerungsexplosion“. Im Hintergrund steht die enorme Beschleunigung der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung wie auch der Bevölkerungszahl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Great Acceleration). Die Finanzkrisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen, wie durch Spekulation rasch wachsende „Blasen“ plötzlich platzen und enorme Geldmengen vernichten können.

Wachstum ist in all diesen Zusammenhängen nicht auf natürliche Prozesse des Werdens und Vergehens, auf die Rhythmik des Lebens in der Natur bezogen, sondern zielt auf abstrakte Größen wie Geldmenge und Finanzvolumen, Bruttoinlandsprodukt, CO2-Konzentration in der Atmosphäre oder auch Menschen als „Bevölkerung“, mithin auf Zahlenreihen und Statistiken, die eine eigene Faszination ausüben. Sie können gemessen, grafisch dargestellt, durch Regulierungen, Maßnahmen und Eingriffe beeinflusst werden. Sie verweisen auf Entwicklungen, ermöglichen Prognosen, zeigen aber auch Risiken an, die nur zum Teil kalkuliert und beherrscht werden können – und zugleich mit unkalkulierbaren, unbekannten „Restrisiken“, mit nichtgewollten „Nebenwirkungen“ und „Kollateralschäden“ konfrontieren. Wachstum und Schrumpfen stehen hier im Kontext einer Beobachtung, Vermessung und Kontrolle der Welt, die deren Steuerung und „Regierung“ ermöglicht: Sie konfrontieren mit Macht und Ohnmacht, mit Fortschrittshoffnung und Ängsten vor Risiken und Kollaps. Die Bibel weiß um die Gefahren etwa von Volkszählungen, die Personen zu Nummern und kontrollierbar machen, um Steuern einzutreiben oder sie in den Krieg zu schicken (1 Chr 21; 2 Sam 24; Ex 30,12–16; Lk 2,1 ff.). Eine solche Sicht kann auch den Blick auf Kirche und Seelsorge prägen. Im Zentrum stehen dann nicht „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes 1), sondern die Fragen, welchen Anteil der Bevölkerung Kirche umfasst und erreicht, wieviel Einfluss sie auf Menschen und Gesellschaften hat, wie ein Territorium verwaltet werden kann. In den Worten von Papst Franziskus in Evangelii gaudium: Eine solche Sicht zielt darauf, „Räume zu besitzen“, statt in der Verkündigung des Evangeliums und im inspirierten Miteinander von Menschen „Prozesse anzustoßen“ (EG 222–225), aus denen etwas Neues, Überraschendes entstehen kann, das nicht kontrolliert und verwaltet wird.

Während im leiblichen, „analogen“ Raum der Natur und der menschlichen Lebenswelt „Wachstum“ in die Zyklen von Werden und Vergehen, Geburt und Tod eingebunden ist, spielt sich die moderne Idee eines grenzenlosen Wachstums in virtuellen Vorstellungsräumen ab, die von Zahlenreihen, Berechnungen, Quantitäten und von Techniken ihrer Beeinflussung, Steuerung und Beherrschung geprägt sind.

Die Rede von „Wachstum“ und „Schrumpfen“ kann also zwei unterschiedlichen Logiken folgen. Diese verweisen auf gegensätzliche Formen, sich denkend, handelnd und fühlend auf die Welt zu beziehen. In der Krise der Gegenwart stößt eine Zivilisation an ihre Grenzen, die im zweiten Jahrtausend ausgehend von Europa weltweit zur dominanten Form geworden ist, die Welt zu bewohnen, sie zu vermessen und zu erobern, zu bewirtschaften und zu beherrschen, sie zu nutzen und auszubeuten. Das im Westen zur Herrschaft gekommene Christentum ist ein Teil dieser Zivilisation: Es hat sie mit hervorgebracht und ist selbst von ihr geprägt, geht aber nicht in ihr auf. Mit der konstantinischen Wende wurde das Christentum zu einem Teil der herrschenden Kultur und selbst zu einem Instrument der Herrschaft. „Wachstum“ konnte so leicht missverstanden werden als eine Expansion des Christentums im Sinne der Einverleibung von Völkern und Bevölkerung in die Kirche, als Ausweitung von geistlichem Einfluss und Herrschaft (im Bündnis mit weltlichen Mächten, wirtschaftlichen Interessen, europäischem Kolonialismus …), als „Herrschaft über die Seelen“ und Intensivierung der Disziplinierung nach innen im Zuge der Konfessionalisierung, als Selbstbehauptung der Kirche gegenüber der Moderne oder in Anpassung an die Moderne. Auch hier zählen die Zahlen, geht es um Einfluss, Macht, Relevanz und um das Beherrschen und Verwalten von Räumen und ihrer Bevölkerung. Eine solche herrschaftliche Gestalt von Kirche stößt an ihre Grenzen: in Schrumpfungsprozessen und dem Verlust an Einfluss wie in Mitteleuropa, in einer Pluralisierung des Christentums, in der Verlagerung seiner Dynamik in den globalen Süden, im Verlust der Möglichkeit hierarchischer Steuerung von einem Zentrum her, im Aufbrechen von Unterschieden, in Fragmentierung und Polarisierungen innerhalb der Kirche(n). Die Skandale um Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt zeigen, wie in Strukturen und einer Kultur geistlicher Herrschaft das Evangelium in sein Gegenteil verkehrt werden kann. Ivan Illich (2020) sieht in der Entwicklung der westlichen Moderne insgesamt solche Tendenzen wirksam, die er weder als Erfüllung des Christentums noch als seine Antithese deutet, sondern als seine Perversion oder Korruption – wobei das Beste für Illich stets Gefahr läuft, ins Schlimmste zu kippen.

Die Krise des Wachstums und eine ganzheitliche Ökologie

Die politische, ökonomische und gesellschaftliche wie die geistige und kulturelle Krise der Gegenwart verdichtet sich in einer ökologisch-sozialen Katastrophe, welche im Begriff ist, das Leben und die Bewohnbarkeit des Planeten als solche zu zerstören. In der Ökologie- und Klimabewegung wird denn auch am kreativsten nach Alternativen zur dominanten Kultur des Wachstums gesucht: In Entwürfen eines „grünen Wachstums“, aber auch in radikaleren Entwürfen einer Post-Wachstumsgesellschaft, in der Suche nach Entschleunigung und anderen Lebensstilen, auch in Hinwendung zu Formen von Spiritualität, zu indigener Weisheit und alternativen Wissensformen. Es geht darum, die planetaren Grenzen zu achten, abstraktes „Wachstum“ nicht die Bewohnbarkeit des Planeten zerstören zu lassen sowie menschliches Handeln und Wirtschaften nachhaltig und global gerecht zu gestalten. Faktisch ist ein solches Ethos ökologischer Nachhaltigkeit jedoch selbst gefährdet, als Projekt der Mittelschicht und eines gehobenen, kosmopolitisch ausgerichteten Bildungsbürgertums der Städte die sozialen Konflikte und Polarisierungen weiter anzuheizen, zumal wenn die aus der Friedensbewegung hervorgegangenen grünen Parteien dazu übergehen, internationale Konflikte durch militärische Gewalt zu lösen und als Kampf zwischen Gut und Böse zu inszenieren.

Der ökumenische konziliare Prozess hat schon seit den 1980er Jahren herausgestellt, dass Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zusammengehören. Papst Franziskus formuliert diesen Zusammenhang programmatisch in seinen beiden Sozialenzykliken Laudato si’ und Fratelli tutti. Dabei greift er zusammen mit den Erfahrungen des Globalen Südens und den Ergebnissen der Klimaforschung die Anliegen und Einsichten der Befreiungstheologie lehramtlich auf und integriert sie in die katholische Soziallehre. Die Spannung zwischen einer Gesellschaft des Messens und Beherrschens einerseits, einer Kultur der Verbundenheit und der lebendigen Beziehungen andererseits kehrt in Laudato si’ wieder in der Spannung von Ökonomie und Ökologie angesichts der „Sorge um das gemeinsame Haus“. Wörtlich meint Ökonomie die Vermessung, Verwaltung und Bewirtschaftung des Hauses: Indem die bewohnbare Erde vermessen wird, kann sie angeeignet und „privat“ in Besitz genommen werden; indem Güter und Nutzen abstrakt als (Geld‑)​Werte und Kapital gefasst werden, lassen sie sich scheinbar unbegrenzt anhäufen und in der Hand weniger konzentrieren; indem die Natur als Material und Information behandelt und in ihrer Gesetzmäßigkeit studiert wird, lässt sie sich ausbeuten, unterwerfen und beherrschen. In einer solchen Logik erscheint Wissen als Macht und dominiert ein Verständnis instrumenteller Vernunft. Papst Franziskus spricht von einem „technokratischen Paradigma“, das globalisiert wurde und sich mit dem modernen Anthropozentrismus verbindet, der den Menschen als selbstbestimmtes, seine Interessen verfolgendes Individuum fasst, welches sich gegen andere und gegen die Natur behaupten muss. Dem korrespondiert eine von Franziskus immer wieder angeprangerte „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ (EG 54, 61; LS 52, 92; FT 30, 57, 199) und eine Wirtschaftsform, die am Wohlstand der Privilegierten ausgerichtet ist und große Teile der Menschheit ausschließt: „Diese Wirtschaft tötet“ (EG 53).

Eine integrale, ganzheitliche Ökologie nimmt demgegenüber die bewohnbare Erde als gemeinsames Haus in ihren vielfältigen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, in ihrer Verwundbarkeit und Schönheit in den Blick. Ein solcher Blick ist fähig zu staunen. Er hebt die Sonderstellung des Menschen in seiner Freiheit und Verantwortung nicht auf, bettet sie aber ein in das Beziehungsgeflecht der Erde und versteht die Vernunft als leiblich in konkrete Kontexte eingebundenes Vermögen des Menschen, sich fühlend, unterscheidend, handelnd in der Welt zu orientieren, sich darüber mit anderen zu verständigen und in der Reflexion kritische Distanz auch sich selbst gegenüber zu gewinnen. Die sich bereits vollziehende ökologisch-soziale Katastrophe fordert einen grundlegenden Kurswechsel: Was in der Gesellschaft als „Große Transformation“ zu einer nachhaltigen und global gerechten Lebens- und Wirtschaftsweise diskutiert wird, lässt sich im Kontext des Glaubens als „integrale Umkehr“ fassen, welche sozioökonomische, kulturelle, ökologische und kirchlich-pastorale Aspekte verbindet (vgl. das Schlussdokument der Amazonassynode und das nachsynodale apostolische Schreiben Querida Amazonia). Papst Franziskus hebt die Notwendigkeit eines „radikalen Paradigmenwechsels“ und einer „mutigen kulturellen Revolution“ hervor, die er mit der Hinwendung zu einer „integralen Ökologie“ verbindet (vgl. Laudato si’; Veritatis gaudium 3 f.; Laudate Deum).

Eine „Zivilisation der Armut“ als Alternative zur „Zivilisation des Reichtums“

Einen solchen radikalen Paradigmenwechsel hat bereits in den 1980er Jahren der baskische Jesuit Ignacio Ellacuría gefordert, indem er zur Abkehr von einer „Zivilisation des Reichtums“ aufrief, hin zu einer „Zivilisation der Armut“, die der Ausrichtung am Evangelium und am Reich Gottes korrespondiert. Dies ist freilich eine Provokation: Muss menschliches Handeln und eine gesellschaftliche Ordnung nicht gerade auf die Überwindung von Armut und die Ermöglichung von Reichtum, Erfolg und Wohlstand zielen? Wäre es nicht pervers, Armut als erstrebenswertes Ideal zu zeichnen? Sollte man nicht auch in der Ökologie lieber einen Green New Deal anzielen, mit einem Wachstum, das durch technologischen Fortschritt und kräftige Investitionen ermöglicht, den Wohlstand zu verteidigen, mit Nachhaltigkeit zu verbinden und noch auszubauen? Solche Ansätze versuchen, die Krise im alten Paradigma zu bewältigen, indem die gewohnten Muster von Wachstum, Fortschritt und kolonialer Ausbeutung einen grünen Anstrich erhalten. Die Eskalationsdynamiken der Gegenwart werden damit nicht unterbrochen. Ich möchte demgegenüber die Orientierung an einer „Zivilisation der Armut“ bzw. „einer geteilten Genügsamkeit“ (Pittl/​Prüller-Jagenteufel 2016) als Möglichkeit markieren, mit Wachstum und Schrumpfen in einer anderen Weise umzugehen und einen Ausweg aus den Krisenszenarien der Gegenwart zu suchen. In Anlehnung an Ellacuría und Papst Franziskus beziehe ich im Folgenden dafür den Gegensatz der beiden Zivilisationsformen auf ihr Verständnis von Wachstum.

Eine „Zivilisation des Reichtums“ setzt auf die Versprechen von Wohlstand, Selbstbestimmung, Fortschritt, indem durch eine arbeitsteilige, auf Privatwirtschaft und Konkurrenz setzende Ökonomie, über Handel und technologische Herrschaft über die Natur der allgemeine Wohlstand vermehrt, Krankheiten besiegt, Armut überwunden wird. Wer könnte etwas gegen diese Versprechen haben? Die Ausrichtung an Reichtum, Wachstum und Erfolg impliziert allerdings auch, den Blick auf die Reichen und Erfolgreichen zu richten: Sie bilden das Modell gelingenden Lebens. Ihr Reichtum und Erfolg soll auf andere ausstrahlen (in die ärmeren Schichten „hinuntersickern“, trickle down). Die anderen, die keinen Erfolg haben, die arm, weniger gebildet sind, keine Machtmittel haben, um unternehmerisch ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, sondern sich und ihre Arbeitskraft verdingen müssen oder auf der Flucht um ihr Überleben kämpfen, spielen in einer solchen Sicht keine entscheidende Rolle: Sie kommen bestenfalls mit ihrer Arbeitskraft und als Konsumenten in den Blick oder aber als Hilfsempfänger, deren „Nutzen“ darin besteht, dass die Erfolgreichen an ihnen ihre Menschlichkeit beweisen können. Sie sind nicht die Protagonisten einer Zivilisation des Reichtums. Hinzu kommt, dass die hehren Versprechen von Fortschritt und Wohlstand ständig neue Krisen produzieren, Ausbeutung von Menschen und Natur, sozialen Ausschluss und Gewalt. Der Grund dafür liegt nicht in moralischem Versagen oder in einer unzureichenden Umsetzung von freiem Markt und technischem Fortschritt, sondern in inneren und strukturellen Widersprüchen, die diese Zivilisation prägen und von ihren Versprechen lediglich überspielt werden: Die Orientierung am Lebensstil und an den Erfolgskriterien einer privilegierten Schicht ist nicht universalisierbar. Es bräuchte mehrere Erden, um den Lebensstandard der sogenannten „entwickelten“ Gesellschaften allen Menschen zugänglich zu machen. Das Modell von Reichtum, Wohlstand und Erfolg hängt an der Möglichkeit, sich nicht nur Dinge und Waren, sondern auch Produktionsmittel und Arbeitskraft sowie Gemeingüter wie Land und Rohstoffe, Luft und Wasser anzueignen. Dem Reichtum der einen korrespondiert die Armut der anderen; dem selbstbestimmten Leben, der Macht und Herrschaft der einen steht die Ohnmacht, das Ausgeliefertsein und die Fremdbestimmung der anderen gegenüber. Die Akkumulation von Besitz und Kapital verbindet sich mit Macht und dem Gefühl von Sicherheit, sie schafft zugleich Konkurrenz und Ungleichheit, entfesselt eine Dynamik, das zu begehren, was andere begehren und haben. Das Ideal von Wachstum und fortschreitendem Wohlstand wird entweder zum Nullsummenspiel, in dem der Nutzen des einen zum Schaden der anderen wird, oder es verbindet sich mit der Illusion unbegrenzten Wachstums, dessen Kosten auf die Natur, auf andere Menschen und Regionen oder auf künftige Generationen abgewälzt werden.

Der Soziologe Hartmut Rosa hat das Weltverhältnis beschrieben, dass aus der skizzierten Logik der Aneignung folgt: Die eigene Freiheit wird expansiv als Verhältnis der Beherrschung und Kontrolle der Welt in zunehmender Reichweitenvergrößerung und Beschleunigung verstanden. Dabei hat sich dieses Weltverhältnis längst verselbständigt: „Noch absurder ist, dass wir dieses ganze Wachstum ja gar nicht deshalb haben wollen, weil wir einfach gierig wären. Wir brauchen es, weil wir ohne Wachstum das gesamte bestehende gesellschaftliche Gefüge nicht mehr erhalten könnten“ (Rosa 2023, 38). Rosa spricht von einem „rasenden Stillstand“, in dem die Gesellschaft in Steigerung und Beschleunigung erstarrt ist und der Sinn der Bewegung verloren gegangen ist (ebd. 22). Wachstum und permanente Steigerung zielen nicht auf kreative Prozesse oder frei gewählten „Fortschritt“, sondern dienen der Systemerhaltung, erscheinen als „alternativlos“. Diese „Logik der gesellschaftlichen Einrichtungen [stifte] systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt“ (ebd. 41), so Rosa. Damit geht die Fähigkeit verloren, in ein Verhältnis zur Welt zu treten, das in aller Aktivität zugleich empfänglich ist, die Unverfügbarkeit der Wirklichkeit (und ihres transzendentalen Grundes) wahrt und damit resonante, sinnstiftende und erfüllende Beziehungen zur Welt eingehen kann.

Eine „Zivilisation der Armut“ ist in ihren Grundoptionen einer „Zivilisation des Reichtums“ entgegengesetzt. Das meint natürlich nicht, dass sie Armut und Not idealisiert oder gar auf Verarmung zielt. Sie kehrt aber die Perspektive und Gewichtung um. Ausgangspunkt ist die „Option für die Armen“ bzw. das „Hören auf den Schrei der Armen und der Erde“, wie Papst Franziskus mit Leonardo Boff formuliert. Die Armen, Ausgegrenzten, Übersehenen, an den Rand Gedrängten kommen dabei als Protagonisten ihres Lebens und der Welt in den Blick. Das meint einerseits eine Solidarität mit ihnen, die dazu führt, dass Politik, Wirtschaft, Technik und erst recht die Kirche sich in ihrem Handeln zuerst an der Sicherung der Grundbedürfnisse aller Menschen orientieren sowie an einem Gebrauch und Genuss der Gemeingüter, der allen Menschen und Lebewesen zugutekommt und die Grenzen der Belastbarkeit des Planeten wahrt. Es meint aber auch, Menschen am Rande der Gesellschaft, Flüchtlinge, Minderheiten usw. als Protagonisten der Gesellschaft ernst zu nehmen, die in ihrem Kampf um Überleben und menschenwürdiges Leben Entscheidendes beizutragen haben. Es bedeutet schließlich auch, ein Bewusstsein für die eigene Armut, Bedürftigkeit, Abhängigkeit und das Eingebundensein in die Beziehungen mit anderen Menschen, Tieren sowie der Erde zu entwickeln: Wir sind nicht die „Herren“ im eigenen Haus, sondern wir sind Beziehungswesen, die einander brauchen und die nur miteinander glücklich werden können. Das Wichtigste im Leben lässt sich nicht „aneignen“: Wir können die Landschaft und die Natur, die Mitmenschen und selbst den eigenen Körper, erst recht ideelle Werte oder gar Gott nicht „in Besitz nehmen“ und beherrschen. Wir haben die Welt nicht als Menschen betreten, die wissen, was sie wollen, die ihr Leben frei entwerfen und ihren individuellen Nutzen maximieren, sondern wir sind als Säuglinge geboren und von unserer Mutter ernährt worden, haben in der Ansprache unserer Eltern das Sprechen gelernt, haben im Blick der Anderen uns selbst sehen gelernt, sind in der Taufe in die Gemeinschaft des Glaubens hineingeboren worden. Die Orientierung an Armut kann offen machen für einen Reichtum im Erleben von Welt und Natur, in Beziehungen, Gastlichkeit und Freundschaften, den wir gerade nicht besitzen können, sondern den wir nur genießen und vermehren, indem wir ihn miteinander teilen.

Mit diesem Perspektivwechsel kommt eine andere Art von Wachstum in den Blick. Sie ist verbunden mit einer Globalisierung der Solidarität, der Hoffnung und der Liebe, wie sie Papst Franziskus in Fratelli tutti umreißt. Man könnte von einem anderen „Wachstum nach unten“ sprechen, das nicht das Kippen des Fortschrittsstrebens in Gewalt und Katastrophe meint, sondern eine Hinwendung an die sozialen, territorialen und existentiellen Ränder und zu den dort lebenden Menschen, womit auch die verdrängten Seiten der Wirklichkeit in den Blick kommen. So kann ein geistliches Wachstum beginnen, in dem sich passives Moment und aktives Moment verbinden. Indem ich mich dem (fremden und eigenen) Leiden aussetze, kann ich auch in neuer Weise Freude erfahren und beschenkt werden. Das geschieht aber nicht ohne mich, sondern indem ich meine Verantwortung übernehme, mich mit anderen verbinde und verbünde, antwortend und gemeinsam Welt gestalte. „Wachsen nach unten“ meint dabei auch, dass die eigenen Wurzeln wachsen: dass ich mich im Geflecht der Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten mit anderen zusammentue; dass ich mich mit der Erde, der Heimat, der Natur verwoben weiß; dass ich Wurzeln im Glauben schlage und pflege und mein Leben an jener kommenden Herrschaft festmache, die verborgen schon im Wachsen ist (Mk 4).

Das zahlenmäßige Wachsen oder Schrumpfen von Kirche im Sinn ihrer organisatorischen und weltlichen Macht sowie ihrer Selbsterhaltung ist dann nicht entscheidend. An die Stelle der flächendeckenden Organisation, die Räume besetzt, rückt das Bild von der selbstwachsenden Saat und vom winzigen Senfkorn, das zur Staude und zum Weltenbaum wird, in dem die Vögel des Himmels wohnen und Gott loben (Mk 4,30–32). Das Zweite Vatikanische Konzil versteht die Kirche in diesem Sinn als messianische Gemeinschaft und als Zeichen der Hoffnung für die Menschen:

„So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfasst und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die stärkste Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils. Von Christus als Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit konstituiert, wird es von ihm auch als Werkzeug der Erlösung angenommen und als Licht der Welt und Salz der Erde (vgl. Mt 5,13–16) in alle Welt gesandt.“
(Lumen gentium 9)