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Menschsein – zwischen Wachsen und Schrumpfen

Christian Grethlein fokussiert auf das Altern als Lebensphase, wo das Schrumpfen (aber auch das Wachsen!) im menschlichen Leben besonders greifbar wird. Dabei blickt er nicht nur auf historische Entwicklungen und biblische Einsichten, sondern gerade auch auf aktuelle Herausforderungen. Deutlich wird dabei, dass Wachsen und Schrumpfen vielfach in einem Wechselverhältnis zueinander stehen.

Menschsein ist – auch – ein biologischer Prozess. Von dorther sind Wachsen und Schrumpfen von Anfang an miteinander verbunden. Dabei überwiegen in den ersten beiden Lebensjahrzehnten die Wachstumstendenzen, was sich im weiteren Verlauf des Lebens reduziert, umkehrt und schließlich in den Tod als Abschluss vielfältiger Verfallsprozesse führt, die man metaphorisch durchaus als Schrumpfen bezeichnen kann (s. zu den Lebensaltern Grethlein 2019). Bereits in der zweiten Schöpfungserzählung der Bibel ist dieser Verlauf im Blick – und wird als Wille Gottes deklariert. Denn Gott schafft den Menschen aus „Staub“, also Vergänglichem (Gen 2,7).

Altern als aktuelle Herausforderung

In den ökonomisch gut gestellten Ländern der Erde, wie z. B. in Deutschland, vollzieht sich gegenwärtig ein tiefgreifender demografischer Wandel. Geringe Geburtenzahlen und gleichzeitiges Ansteigen der Lebenserwartung führen zu einem immer größeren Anteil alter und hochaltriger Menschen. „Bis Mitte der 2030er Jahre wird in Deutschland die Zahl der Menschen im Rentenalter (ab 67 Jahren) […] auf mindestens 20,0 Millionen steigen“ (Statistisches Bundesamt 2022). Damit sind große Herausforderungen verbunden, individuell, sozial und gesellschaftlich. Knapp formuliert: In Gesellschaften, die nicht nur ökonomisch seit Jahrzehnten Wachstum, also „Immer‑mehr“ als Ziel haben, nehmen die Zahl und der Anteil der Menschen an der Bevölkerung rapide zu, die sich biologisch im Stadium vermehrten Schrumpfens befinden.

Angesichts der Aktualität dieser Entwicklung fokussiere ich im Folgenden meine Überlegungen zu „Menschsein – zwischen Wachsen und Schrumpfen“ auf diese Bevölkerungsgruppe. Bei ihrer soziologischen bzw. gerontologischen Bestimmung stehen grundsätzlich zwei Theorien einander gegenüber (s. ausführlicher und differenzierter Tesch-Römer 2023). Im – bis in die 1960er Jahre dominierenden – Defizitmodell wurden die mit dem Altern verbundenen Verluste ins Zentrum gestellt: „Altern wird bei diesem Ansatz als ‚zeitabhängiger, irreversibler und vorhersagbar fortschreitender Funktionsverlust‘ angesehen“ (Erhardt 2014, 41). Dagegen steht die Aktivitätstheorie. In ihr „wird erfolgreiches Altern eng mit (hoher) sozialer Aktivität und Interaktion in Verbindung gebracht“ (ebd. 45). Sieht man genauer hin, so stehen beim ersten Ansatz Hochaltrige, heute meist ab dem 80. Lebensjahr angesetzt, beim zweiten dagegen zum sog. Dritten Lebensalter (also nach Ruhestand bis zum 75./80. Lebensjahr) Gehörende im Mittelpunkt. Dazu spielt bei der Einschätzung des Alters auch die grundsätzliche Sicht aufs Leben eine Rolle: Das „Immer‑mehr“, wie es für die Lebensformen des „homo faber“ sowie des „homo oeconomicus“ (s. Grethlein 2022a, 260–262) grundlegend ist und sich altersbezogen in Konzepten wie „Anti‑Aging“ oder – positiv formuliert – den „Silver‑Agers“ äußert, steht Erfahrungen aus dem Bereich der Pflege Hochaltriger entgegen. Hier dominieren Multimorbidität und soziale Ausgrenzung das Feld.

In diesem Spannungsfeld ist ein Blick in die biblische Tradition und auf deren Sicht auf das Alter, und damit auf Wachsen sowie Schrumpfen im menschlichen Leben, hilfreich.

Altern in biblischer Perspektive

Die Neuheit der Alters-Thematik – eben bedingt durch die starke Zunahme alter Menschen (und den Rückgang junger) – zeigt sich darin, dass das Altern in der Bibel nur selten Thema ist (s. zusammenfassend Grethlein 2024, 70–92). Ein Blick auf Lebensdaten der Könige von Juda zeigt auch warum: Ihr Sterbealter lag zwischen 926 und 597 v. Chr. durchschnittlich bei 44 Jahren (s. Wolff 1977, 177). Da es sich bei Königen um eine sehr privilegierte Gruppe handelte, muss für die normale Bevölkerung von einem erheblich niedrigeren durchschnittlichen Sterbealter ausgegangen werden. Das heute medizinisch-biologisch beobachtete „Schrumpfen“ in den vorgerückten Jahren, letztlich in den konkreten Prozess des Sterbens mündend, war also nicht – wie heute – vor allem ein Geschehen bei alten Menschen, sondern ereignete sich häufig, ja meist in jüngeren Jahren. Allerdings werden an etlichen Stellen in der Hebräischen Bibel – en passant – Altersbeschwerden genannt (s. die Zusammenstellung bei Grethlein 2024, 71 f.). Besonders beschwerlich erschien die mit dem Alter nachlassende bzw. ausbleibende Fruchtbarkeit, weil die – eventuellen – Nachkommen für die soziale Stellung und nicht zuletzt die Versorgung im Alter entscheidend waren. Dass das Verhältnis zwischen den Generationen nicht spannungsfrei war, geht schon aus der Tatsache des vierten Gebots im Dekalog hervor: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird“ (Ex 20,12; ähnlich Dtn 5,16). Der Ursprungssinn von „ehren“, im Hebräischen wortwörtlich: „schwermachen“, weist darauf hin, dass es dabei offenkundig – auch – um die ganz konkrete Versorgung der Alten ging, also das „Schwermachen“ ihrer Essensportionen.

Lediglich in zwei Zusammenhängen ist Alt-Sein und ‑Werden ein eigenes Thema in der hebräischen Bibel. So heißt es von Abraham: „Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter, als er alt und lebenssatt war“ (Gen 25,8). Dies wird noch für vier andere in ihrem Leben in besonderer Nähe zu Gott stehende Personen ausgesagt (Isaak, Gen 35,29; David, 1 Chr 23,1; Hiob, Ijob 42,17; Jojada, 2 Chr 24,15). Demnach gibt es also ein „Genug“ an Leben, das zufrieden sterben lässt. Zum anderen wird in weisheitlichen Schriften, vor allem im Buch Kohelet (Prediger), das Alt‑Werden und ‑Sein zum Thema. Leitend ist hier – mit 38‑maligem Vorkommen – das Bild des „Windhauchs“ (hebr. hӕbӕl) für menschliches Leben. Die Konsequenz daraus: „So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat“ (Koh 9,7–9a). Das – dann im Mittelalter breit ausgeführte – „Vanitas“ (Nichtigkeit)‑Motiv wird hier mit der Mahnung „carpe diem“ („Genieße den Tag“) zusammengefügt. Demnach ermöglicht die Einsicht in das Schrumpfen – das schließlich in den Tod führt – das Wachsen, konkret: den Genuss des Lebens. Nicht ein „Immer-mehr“, das letztlich die Gegenwart jeweils in die Zukunft verschiebt und so rastlos macht, sondern das Wissen um die Begrenztheit ermöglicht Lebensgenuss. Interessanterweise betont Kohelet in diesem Zusammenhang auch die Bedeutungslosigkeit von Reichtum, der wohl wichtigsten Triebfeder heutiger „Immer‑mehr“‑Gesellschaft: „Wer Geld liebt, wird vom Geld niemals satt, und wer Reichtum liebt, wird keinen Nutzen davon haben. Das ist auch eitel“ (Koh 5,9).

Schließlich werden in der prophetischen Tradition „Wachsen“ und „Schrumpfen“ menschlichen Lebens anschaulich zusammengeführt. So kündigt Jahwe Zebaoth für seine Rückkehr zum Zion an: „Es sollen hinfort wieder sitzen auf den Plätzen Jerusalems alte Männer und Frauen, jeder mit seinem Stock in der Hand vor hohem Alter, und die Plätze der Städte sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort spielen“ (Sach 8,4 f.).

Im Neuen Testament begegnen nur am Rand alte Menschen (Zacharias und Elisabeth, Lk 1; Simeon sowie Hanna, Lk 2). Die „Leitgestalten der neutestamentlichen Zeit, Johannes der Täufer, Jesus, Stephanus, Jakobus der Herrenbruder, Paulus, Petrus und die Zebedaiden“ sterben vorzeitig gewaltsam (Wischmeyer 2003, 78). Dazu kommt die das Lebensgefühl der ersten Christ*innen prägende Naherwartung. Anthropologisch fand sie ihren Niederschlag in der für die Taufe grundlegenden Unterscheidung von „altem“ und „neuem“ Menschen (s. beispielsweise 2 Kor 5,17). Sie stand aber in keinem Zusammenhang mit dem chronologischen Lebensalter. Das biologische Wachsen und Schrumpfen werden hier also gleichermaßen grundsätzlich relativiert: Entscheidend ist die Beziehung zu Christus, und damit zu Gott.

Heutige Perspektiven

Offensichtlich gerät heute die biologisch bzw., theologisch formuliert, die im Schöpfungshandeln Gottes angelegte Balance zwischen Wachsen und Schrumpfen aus dem Gleichgewicht. Am deutlichsten tritt dies wohl in der ökologischen Krise zu Tage. Die hellsichtig vom Club of Rome 1972 angemahnten „Grenzen des Wachstums“ mündeten – fast fünfzig Jahre später – in die Einsicht, „dass all die Probleme mit dem Menschheitswunsch endlosen Wachstums auf einem endlichen Planeten zusammenhängen“ (von Weizsäcker/​Wijkman 2018, 11). Soziologisch formulierte Harald Welzer als Konsequenz dieser Einsicht den Appell zum „Aufhören“: „Um die Herausforderungen durch einen drohenden gefährlichen Klimawandel und auch aller anderen gleichermaßen dringlichen ökologischen Krisenerscheinungen realistisch anzugehen, muss man mit vielen Dingen aufhören. Das geht nicht idealistisch per Bewusstseinsbildung, sondern nur durch eine sich verändernde Praxis selbst“ (Welzer 2021, 86).

Auch von daher verdient die Zunahme alter Menschen verstärkte Aufmerksamkeit. Das biologisch in ihnen angelegte „Schrumpfen“ könnte ein wichtiges Gegengewicht zur heute verbreiteten Wachstumsideologie des „Immer‑mehr“ bilden. Zwei gerontologische Beobachtungen legen dies nahe: Zum einen ist bei alten Menschen immer wieder eine stärkere Hinwendung zur Natur, genauer: zur Schönheit der Natur zu bemerken. Bei meiner ehrenamtlichen Besuchstätigkeit im St. Franziskus-Hospital Münster berichten mir hochaltrige Menschen immer wieder hiervon: etwa vom Zauber, der von einer schönen Blume ausgeht, oder von der tiefen Ruhe, die der Mond am Nachthimmel ausstrahlt. Dass solche Betrachtungen und Eindrücke nicht unter dem das Alltagsleben prägenden Diktat der Beschleunigung entstehen, liegt auf der Hand. Hartmut Rosa führt dies in seiner Resonanztheorie anschaulich und differenziert aus (s. Rosa 2016). Zum anderen beobachtet – hiermit durchaus zusammenhängend – der schwedische Soziologe Lars Tornstam „eine im Alter gesteigerte natürliche Sensibilität für das Spirituelle“ (Kunz 2022, 152), also eine Tendenz zur „Gerotranscendence“ (Tornstam 2005). Das – biologisch gesehen – Schrumpfen der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit geht demnach bei vielen Menschen mit einem Wachsen spirituellen Erlebens einher.

Das Schrumpfen im Alter ist demnach nicht (nur) ein Verlustprozess, sondern enthält „ein Potential zur Ausbildung einer neuen Sichtweise auf […] das Leben“, und zwar in einer kosmischen, einer selbstbezogenen und einer sozialen Dimension (s. Herbert 2019, 127). Sprachlich kommt dies im Deutschen auch im „Doppelsinn“ von „Aufhören“ zum Ausdruck: „Aufhören im Sinne von beenden und aufhören im Sinne von aufmerken. Wenn ich nämlich etwas lasse, entsteht Raum für das, was ist und was ich dann mit Intensität hören kann“ (von Brück 2020, 87).

Exemplarische Ausblicke

Eine solche biblisch motivierte Auslegung der biologischen Prozesse des Wachsens und Schrumpfens im menschlichen Leben, wie ich sie exemplarisch am Beispiel des Alt-Seins und ‑Werdens als in ihrem Umfang neuer individueller, sozialer und gesellschaftlicher Herausforderung skizzierte, hat Konsequenzen für den Alltag. Dies sei abschließend an drei Beispielen kurz gezeigt:

Erst seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich langsam in unserer Gesellschaft ein allgemeiner Ruhestand, der durch auf das chronologische Alter bezogene Regelungen bestimmt ist. Eine entscheidende Etappe war hier die Einführung der Rentenversicherung durch Adenauer 1957. Mit diesem umlagefinanzierten System sollte vor allem dem „Schrumpfen“ der Lebenskräfte Rechnung getragen und konkret ein auskömmliches Leben auch jenseits der Erwerbstätigkeit ermöglicht werden. Zugleich führte dies aber zu einer – mittlerweile angesichts des demografischen Wandels auch volkswirtschaftlich problematischen – Ausgliederung aller Menschen ab einem bestimmten Alter aus dem für die Gesellschaft zentralen Bereich des Erwerbslebens und damit der Öffentlichkeit. Die angedeuteten Gewinne bei der Einsicht ins Leben – Stichwort: Wahrnehmung von Naturschönheit, Gerotranzendenz – bleiben dadurch im Erwerbsbereich ausgeblendet. Demgegenüber empfiehlt der Sozialpädagoge Lothar Böhnisch, den „Ruhestand“ durch eine „Ruhetätigkeit“ zu ersetzen (Böhnisch 2018, 262). Konkret geht es dabei um eine Partizipation im Erwerbsbereich, die auf das „Schrumpfen“ im Alter Rücksicht nimmt, zugleich aber Raum für im Alter gewonnene Einsichten, also „Wachsen“, eröffnet. Erste Ansätze in dieser Richtung zeigen sich im Bereich des öffentlichen Lebens – allerdings jenseits des Ökonomischen – seit einiger Zeit in Form zunehmenden Engagements alter Menschen in Ehrenämtern (s. Wetzel/Simonson 2017).

Ebenfalls zentral für menschliches Leben ist der Bereich des Wohnens. Häufig setzen hier bei alten Menschen mit dem Beginn von Krankheiten und Behinderungen Probleme ein. Nur ein kleiner Teil der Wohnungen in Deutschland ist altersgerecht gebaut, so dass sie z. B. ohne Probleme mit Rollator zugänglich sind. Auch hier entwickeln sich erste Ansätze, um das Verbleiben alter Menschen in ihrer angestammten Umgebung zu ermöglichen und so auch den Kontakt zu und mit Jüngeren aufrechtzuerhalten. Neben Baumaßnahmen – wie Einbau eines Treppenlifts, einer ebenerdigen Dusche u. Ä. – sind neben unterschiedlichen Formen nachbarschaftlicher u. ä. Hilfe Projekte zu nennen, die das soziale Miteinander auch baulich fördern. So bietet z. B. das Wohnprojekt San Riemo in München-Riem bei einer Gesamtwohnfläche von 2.679 Quadratmetern eine Gemeinschaftsfläche von 205 Quadratmetern (s. Herberhold 2022, 106). Das „Schrumpfen“ im Alter führt da zu einem „Wachsen“ in sozialer Hinsicht.

Schließlich ist der End- und Zielpunkt des „Schrumpfens“ im Alter in den Blick zu nehmen, das Sterben (s. Grethlein 2022b). Es ist heute weitgehend aus dem Alltag ausgegliedert und professionell loziert in Krankenhäusern, Pflegeheimen und dann nach dem Tod in Bestattungsinstituten. Dadurch versäumen Menschen aber eine für die Einsicht in die Bedeutung von „Aufhören“ wesentliche Erfahrung. Initiativen wie die Hospizbewegung und die Palliativmedizin bemühen sich, Räume zu schaffen, in denen Menschen begleitet sterben können. Gerade bei der Begleitung von Sterbenden und deren – im wortwörtlichen Sinn – Schrumpfen kann Menschen bewusst werden, wie unsinnig das „Immer‑mehr“ im Leben ist und wie wichtig, sich der eigenen Grenzen bewusst zu werden. Der von Kohelet aufgezeigte Zusammenhang von Begrenztheit und Lebensgenuss, also von Schrumpfen und Wachsen, kann hier neu entdeckt werden.