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Schrumpfen und Wachsen

Kirchenbildung als Transformation zu einer Kirche der Minderheit

Wie kann Kirchenentwicklung begriffen und gestaltet werden unter den Prämissen von Wachsen und Schrumpfen angesichts der derzeitigen Datenlage von Glaube und Kirche und der vielfältigen und pluralen Vorstellungen von Kirche der Zukunft?

Mit dem Titel „Reduktion! Warum wir mehr Weniger brauchen“ haben die Salzburger Hochschulwochen im vergangenen Jahr 2023 offenbar einen Nerv getroffen. In vielen Bereichen scheinen wir ökologisch und ökonomisch an einem strategischen Wendepunkt angekommen, der ein Umdenken oder eine fundamentale Veränderung erforderlich macht. Bestimmte Modelle zur Begrenztheit der Lebensdauer von Systemen lassen Qualität statt Quantität, Schrumpfung und Rückbau statt Wachstum als neue Entwicklungsstrategien hervortreten. Jedenfalls zeigt sich, dass bestimmte Tendenzen als Chance erkannt werden, sich neu und anders aufzustellen.

Geht es dabei um ein Weniger desselben oder um das Mehr eines anderen? Ist Schrumpfen immer ein möglichst zu vermeidender Verlust, weil die Gesamtperspektive auf eine bestimmte Form von Wachstum angelegt ist, das unsere Systeme offensichtlich mittel- und langfristig an Grenzen führt?

Apostelgeschichte und Mission: Der Glaube breitet sich aus

Für Glaube und Kirche war wie in der Wirtschaft lange Zeit die Perspektive des Wachsens, der Ausbreitung und des Immer‑mehr bestimmend und zielführend. Das Narrativ der Apostelgeschichte: Der christliche Glaube und die Bewegung des neuen Wegs breiten sich durch das Wirken des Geistes und durch die Unterstützung von Aposteln und Missionaren immer weiter aus: „… ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). Missionsreisen führten zu Gründungen von Gemeinden in Asien und dem europäischen Griechenland, bis zum Zentrum und Haupt des Imperiums, Rom: „Den Heiden ist dieses Heil Gottes gesandt worden. Und sie werden hören!“ (Apg 28,28). In Röm 15,24 ist von Pauli Reiseplänen für Spanien zu lesen, also zum westlichsten Punkt gegenüber dem Osten (Jerusalem) als dem Ursprungsort des neuen Glaubens, womit literarisch eine „Durchquerung“ oder „Umfassung“ des gesamten Imperiums, der damals bekannten Welt, angedeutet wird. Weitere Ausbreitung des Christentums über Soldaten und Händler nach Germanien, Gallien und Irland einerseits, nach Indien andererseits, später die Christianisierung als Staatsräson unter Kaiser Karl und seinen Nachfolgern im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im nördlichen und östlichen Deutschland zeigen, dass der christliche Glaube sich ausbreitet. Die Missionsbestrebungen in Lateinamerika und Asien in der Frühen Neuzeit, in Afrika insbesondere in der Kolonialzeit des 19. Jh. zeigen, dass Ausbreitung oft auch mit asymmetrischem Kulturtransfer oder Ausbeutung verbunden war.

Analog zu den politischen Bestrebungen zur Erringung von zusätzlichem Machtbereich und zur Bildung von möglichst zusammenhängenden Territorialstaaten durch Heiratspolitik, dynastische Übernahmen nach dem Ausbleiben von Thronfolgern und Krieg zur Festigung der Macht in der Frühen Neuzeit zeigten und zeigen sich auch das Christentum und seine institutionelle Repräsentanz, die Kirche, in ihrem Anspruch, möglichst viele Menschen zu erreichen und ihrem System „einzuverleiben“ und möglichst viele Gebiete zu „kontrollieren“. Das System christlicher Glaube und Kirche war (und ist zu großen Teilen immer noch) in seinem Selbstverständnis und seiner Praxis ebenfalls auf Wachstum, Ausbreitung und Vergrößerung geeicht. „Mission“ ist bis heute mit diesen Narrativen verbunden, kirchliches Handeln in solchem Sinne vergleichbar mit dem „Tun einer Transportfirma“ (Karl Rahner).

Grenzen des Wachstums – Postwachstum

Wir befinden uns jedoch nun inmitten einer Epoche, in der diese Vorstellung von Wachstum an Grenzen kommt. Eine immer weiter steigende Weltbevölkerung und bestimmte Lebensstile bringen hohen Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen mit sich. Die derzeitige Form des Wirtschaftens in Mikro- und Makroperspektive ist auf Wachstum, fortwährenden Verbrauch und immer neue Produktion und Bereitstellung von Gütern und die Weckung (und Stillung) von Bedürfnissen angelegt, die nicht allein der Daseinsvorsorge dienen, sondern kulturellen, statusbezogenen und hedonistisch-selbsterfüllungsbezogenen Zwecken. Längst ist deutlich, dass wir uns – nicht nur wegen des menschengemachten Klimawandels – zumindest in vielen Teilen dieser Welt hin zu einer Postwachstumsökonomie verändern müssen. Erschwerend kommt noch die Frage der Gerechtigkeit, sozial und global verstanden, bei der Verteilung von materiellen, immateriellen und ideellen Ressourcen, Erträgen und Lasten hinzu. Es wird heiß diskutiert, ob die Alternative eher in einem „grünen“, also nachhaltigen Wachstum besteht, was grundsätzlich die Perspektive des Wachsens beibehalten würde, oder ob nicht tatsächlich die Option von Verzicht und die Rücknahme von Ansprüchen und Konsumstandards das Gebot der Stunde ist.

Bezogen auf den christlichen Glauben und die verfasste/n Kirche/n scheint sich in Deutschland und anderen Ländern des modernisiert-industrialisierten Westeuropas spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg und beschleunigt seit den 1960er Jahren ein Prozess des Schrumpfens zu realisieren. Allen kirchlichen Versuchen zum Trotz, eine Trendumkehr hin zu mehr Wachstum oder kirchlichem Aufbruch einzuleiten (vgl. Zeit zur Aussaat, DBK 2000; Kirche der Freiheit, EKD 2006), scheint sich ein solches „Wachsen gegen den Trend“ (EKD) nicht einstellen zu wollen. Eher ergibt sich eine Situation von Burnout oder „Reform-Stress“ (Karle 2007, 72).

Was schrumpft und was wächst?

Es lohnt sich, genauer hinzuschauen, was schrumpft und was möglicherweise auf alternative Weise wächst. Zunächst geht der Fokus auf den Rückgang. Das Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge hat im Jahr 2019 mit der Projektion 2060 (Gutmann/​Peters 2021) herausgearbeitet, dass durch den demografischen Wandel (weniger Nachwuchs), verbunden mit einer zunehmenden Abstinenz junger Eltern, ihre Kinder taufen zu lassen, aber auch durch Kirchenaustritte die Zahl der Mitglieder der beiden großen Kirchen in Deutschland sich bis 2060 ungefähr halbieren dürfte. Die Einnahmen der Kirchen durch die Kirchensteuer dürften sich bis 2060 in ihrer Kaufkraft ebenso auf die Hälfte reduzieren. Mittlerweile scheint es, dass die prognostizierte Halbierung beider Größen bereits vor 2060 erreicht sein wird.

Hinzu kommt, dass der Immobilienbestand in den Bistümern und Landeskirchen, Pfarreien und Gemeinden u. a. wegen langfristiger – auch durch notwendige energetische Maßnahmen bedingter – Aufwendungen radikal vermindert werden muss. Dabei spielt auch eine Rolle, ob eine Immobilie mit ihrer derzeitigen Nutzung nach Art und Nutzerzahl (Sakralbau, Gemeindezentrum etc.) tatsächlich am richtigen Platz steht. Auch die ästhetische Qualität von Baukörper und Innenausstattung steht zukünftig zur Disposition und will überprüft und ggf. angepasst werden, um einladend und nutzerorientiert zu sein.

Schließlich ist es – wie auch in anderen Branchen – das pastorale (Fach‑)Personal, das den Kirchen zunehmend fehlt. Interessent:innen für einen hauptberuflichen Dienst in der Pastoral der Kirche stehen nicht Schlange, die Neupriesterzahlen tendieren gegen den Limes Null, aber auch andere, nicht-ordinierte pastorale Berufsträger:innen sind Mangelware. Zu dem allgemeinen gesellschaftlichen Personal- und Nachwuchsmangel mag sicher noch eine gewisse mangelnde Attraktivität speziell des Arbeitgebers Kirche hinzukommen.

Reaktionen in den Bistümern sind strukturelle Reformen, die zu größeren pastoralen Territorien führen (Großpfarrei, pastorale Räume etc.). Diese Prozesse werden durchaus ambivalent gestaltet und wahrgenommen. Natürlich ergeben sich einerseits Synergieeffekte bei Verwaltung und Leitung, allerdings werden die Strukturveränderungen oft so verstanden und beklagt, dass sich „die Kirche“ von den Menschen vor Ort entfernt. Sicherlich, eine hauptberufliche „Versorgung“ oder Betreuung in einem herkömmlichen paternalistischen Stil wird eindeutig weniger werden und kann nicht mehr flächendeckend realisiert werden. Eine größere Pfarrei oder ein pastoraler Raum heißt aber nicht, dass vor Ort ein lebendiges Glaubensleben nicht möglich ist. Dieser Wandel setzt jedenfalls voraus, dass Menschen in einer neuen Perspektive Verantwortung übernehmen, um für sich und mit anderen, die dieser Deutungsgemeinschaft nicht angehören, das Evangelium auf neue Weise zu entdecken, zu teilen, auf neue Weise den Glauben zu feiern und den Menschen zu dienen.

Transformation bedeutet hier, dass eine traditionelle, zuvorderst auf ihre eigene Gemeinschaft und ein liturgisches „Angebot“ durch Hauptberufliche bezogene Gemeinde, die bislang so etwas wie das Maß aller Dinge darstellte, immer weniger Realität ist. Solche Gemeinden werden (ver‑)schwinden, u. a. auch deshalb, weil sich in ihnen die geistliche Lebendigkeit einer attraktiven spirituellen Performanz gegenüber dem krampfhaften Festhalten an traditionellen Formen offenbar immer weiter verringert. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt Gemeinden, die sich inklusiv, an ihrem Umfeld interessiert und damit geistlich kreativ und als offene geprägte Orte zeigen. Sie sind allerdings derzeit nur an wenigen Stellen zu beobachten.

Der soziale Raum, der Genius eines bestimmten Ortes, das Miteinander der Menschen (nicht nur der Mitglieder oder der „Aktiven“), ihre Bedarfe und Gaben als der Kontext, in dem sich Gottes Reich zusagen und realisieren will, sind noch viel zu wenig im Blick für das Entstehen neuer „Orte des Evangeliums“.

Die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) von 2022

Die ersten Ergebnisse der nun ökumenisch durchgeführten Kirchenmitgliedschaftsunterschung liegen auf dem Tisch und werden anfanghaft für den weiteren Verlauf der kirchlichen und pastoralen Zukunftsentscheidungen gedeutet und diskutiert. Sie beinhalten nicht nur Aussagen zu Mitgliedschaft, (Reform‑)Erwartungen an die Kirche durch Mitglieder und Nichtmitglieder, Austrittneigung etc., sondern auch zu Religion und gelebtem Glauben. Sie sind repräsentativ für die Bevölkerung in Deutschland und zeigen deutlich, dass nicht nur Kirchlichkeit und entsprechende Praxis, sondern auch Religiosität insgesamt (Gottesdienstteilnahme, Gebet, Glaubensinhalte etc.) schwinden. Dabei wird heiß diskutiert, ob tatsächlich ein Schwinden von Religion hin zu mehr Säkularität oder eher ein Wandel hin zu einer religiösen Individualisierung und Pluralisierung stattfindet. Diese Debatte ist nicht neu. Es ist aber ein Unterschied, ob man davon ausgeht, dass die Menschen grundsätzlich ein religiöses „Gen“ haben und an Religion und religiöser Sinndeutung interessiert und dafür ansprechbar sind und die Kirchen und ihre Repräsentanten nur noch nicht die richtige Art und Weise und den richtigen Schlüssel gefunden hätten, oder nicht. Zumindest bei Kasualien kann die evangelische Kirche eine bestimmte Nachfrage an Pop-up-Hochzeiten und Spontantaufen in Flüssen und Seen vorweisen. Auch Segnungen oder Gottesdienste zu besonderen Gelegenheiten, nicht zuletzt bei Katastrophen, sprechen schon für eine gewisse Ansprechbarkeit von Menschen. Ob dies allerdings tatsächlich als Nachfrage nach Religion zu werten ist oder eher als eine sozial-gesellschaftliche (nach der KMU ist hierbei die Erwartungshaltung gegenüber den Kirchen wesentlich höher als in religiösen DIngen), bleibt offen. Erfahrungen in den Citykirchenprojekten oder in der Tourismuspastoral, Krankenhausseelsorge oder Militär- und Polizeiseelsorge, wo die Resonanz kirchlichen Handelns trotz Mitgliedschaftsquoten von unter 50 % bis zu 85 % der betreffenden Personen erreicht und hohe Zustimmungswerte hat, zeigen, dass Menschen passager und anlassbezogen oder in bestimmten Lebenssituationen kirchlich ansprechbar, aber nicht unbedingt glaubensbezogen hochidentifiziert sind und nicht langfristig und verbindlich kirchlich-organisational vereinnahmt werden wollen.

Die klassischen Beteiligungs- und Gemeinschaftsformen scheinen quantitativ tatsächlich zurückzugehen, zumindest in bestimmten Bereichen: Ehrenamtliche für das Aufrechterhalten von klassisch-gemeindlichen Funktionen oder für Pfarrgemeinderäte, traditionelle Kirchenchöre etc. sind immer schwerer zu akquirieren. Dem steht entgegen: Kreative pastorale Ideen und Initiativen, die gesellschaftlichen Mehrwert generieren, bei denen die Beteiligten sich selbst in guter Weise einbringen können, bei denen sie den Eindruck haben, dass sie eine sinnvolle Arbeit machen und selbst davon ideell erfüllt werden, liegen im Trend. Nur zeigen sich solche Initiativen immer weniger im internen Bereich kirchlicher Binnenvollzüge, sondern zumeist da, wo Kirche über ihre eigenen Grenzen in den sozial-gesellschaftlichen Raum hinaustritt, Kooperationen mit nicht-kirchlichen Organisationen und Personen wagt und merkt, dass sie dabei Resonanz erfährt und die Plausibilität ihres Engagements bei den Partnern steigt.

Analog zeigen sich bei der KMU denn auch Erwartungen an die Kirchen, die nicht so sehr im dezidiert religiösen Bereich, sondern eher in Bereichen liegen, die gesellschaftliches Wohlergehen und Entwicklung, einen Beitrag zu einem guten Leben für möglichst viele Menschen unterstützen.

Der in den Niederlanden lehrende Pastoraltheologe Jan Loffeld legt sich fest, wenn er konstatiert, dass eine traditionell angenommene frei flottierende (individualisierte oder pluralisierte) Religiosität als Anknüpfungspunkt für eine wie auch immer verstandene Evangelisierung nicht mehr zur Verfügung steht. Mehr noch: Das Christentum verschwindet aus dem kulturellen Gedächtnis. Es gibt immer weniger religiöse Kodierungen, die zur Deutung zur Verfügung stehen würden. Wie geht Evangelisierung – so seine Frage – unter den Prämissen von Freiheit und Nicht-Notwendigkeit Gottes (Säkularität)? Seine These: Der Mensch ist, wenn schon nicht ein unhinterfragbar religiöses (vgl. Karl Rahners These vom übernatürlichen Existenzial), so doch ein auf Erzählungen (Narrationen) angelegtes Wesen. In der säkularen Situation müsse sich – so Loffeld – kirchliche Verkündigung eher in einer Minderheitensituation darauf einstellen, Räume zu schaffen, wo hinter den kleinen Lebenserzählungen von Menschen (small stories) die big story des Christentums erahnbar würde (vgl. Loffeld 2024).

Als Minderheit Sekte oder Sauerteig? – Eine Transformation zum Qualitativen

Es kann also angesichts der schrumpfenden quantitativen Kennzahlen von Glaube und Kirche nicht darum gehen, Bemühungen um Wiederherstellung der vorigen Zustände zu erhöhen, mit welchen Ressourcen denn auch? Alle Appelle zu missionarischem Handeln, die eine Rechristianisierung in einer traditionellen Form, die Rückgewinnung von kirchlichem Einfluss auf Menschen und gesellschaftliche Funktionsbereiche sowie die Rückkehr zu religiöser oder kirchlicher Praxis in Aussicht stellen oder einfordern, gehen meines Erachtens an den Kennzahlen vorbei und sind verzweifelte Versuche, die aktuelle und zukünftige Situation einer Minderheit nicht wirklich anzunehmen. Und schließlich ist es auch unredlich, im Kontext der Debatten um Synodalität Evangelisierung gegen Reformen auszuspielen, etwa wenn der Nuntius in Deutschland in seinem Grußwort zur Frühjahrsvollversammlung der deutschen Bischöfe die Zahlen der KMU heranzieht, um von den Bischöfen größere Kraftanstrengungen in Katechese und Verkündigung zur Evangelisierung qua Verbreitung des (traditionellen) Glaubens in einer Situation des „mangelnden Glaubensbekenntnis“ und des „religiösen Analphabetismus“ zu erwarten.

Wo das aber geschieht, dass die Situation der Diaspora oder der Minderheit (vgl. Schönemann 2018) mit begrenzten Einflussmöglichkeiten und ohne Machtanspruch wirklich innerlich angenommen wird, da entstehen neue Formate, mit anderen das Evangelium zu entdecken und buchstabieren zu lernen, so entstehen möglicherweise neue Formate des Kircheseins mit neuen Weisen der Spiritualität, des Feierns, des Dienens, des Engagements und der Übernahme von Verantwortung und Leitung.

So gibt es genug Personen und Einrichtungen, die Kirche neu denken und auf neue Weise ausprobieren und auf diese Weise pastorale Innovation gestalten, nicht um zum Herkömmlichen zurückzukommen, sondern um Transformation des Glaubenslebens und kirchliche Präsenz zu erreichen. Es entstehen konfessionsübergreifend organisierte und reflektierte Erprobungsräume neuer Gestalten von Kirche (z. B. bei der Evang. Kirche in Mitteldeutschland), an diversen Orten werden (pastorale) Pioniere ausgebildet und entsprechende Innovationspraktiken ausgewertet, beim 8. Strategiekongress Geschäftsmodelle künftiger Kirche evaluiert, die vielgestaltig, fluide, emanzipatorisch und unternehmerisch sein werden. Es ist in jedem Falle zu vermeiden, dass Kirche sich in einem sich abgrenzenden Identifikationsangebot zur „kleinen Herde“ oder zum „heiligen Rest“ der Wahren und Reinen gesundschrumpfen will. Die Gefahr zu dieser Option ist jedenfalls offensichtlich vorhanden und für viele verlockend.

Erprobungsräume und pastorale Innovation zur Kirchenbildung statt Gemeindewachstum

Wie angedeutet gibt es derzeit viele Versuche der Veränderung der (inneren) Bilder und Narrative, der Grundoptionen, dann auch der Gemeinschaftsformen, der Formate des Engagements und der Mitverantwortung, der Verlaufsformen (was gemacht wird und wie es angegangen wird), der Ästhetik des sozialen Miteinanders und der konkreten Prozesse von Kirche.

Sobald dies reflexiv-begleitend wird, scheint doch sehr oft noch eine Grundmelodie durchzuscheinen, die an der herkömmlichen Idee des Wachstums festhält. Vor allem in freikirchlichen Kontexten oder in traditionell-kirchlichen, die strukturelle Veränderungen grundsätzlich ablehnen (z. B. Frauenordination, Mitentscheidungsrechte, stärkere Beteiligung der Gläubigen bei der Auswahl des kirchlichen Führungspersonals etc.), werden Verkündigung, Mission, Evangelisierung und Gemeindebildung zumeist noch als Wachstum und Ausbreitung des Herkömmlichen und wird nicht Kirchenbildung (Ekklesiogenese) als etwas qualitativ Neues verstanden und versucht.

Bei der Bewertung pastoraler Innovation zeigt sich oft ein Zueinander von organisationssoziologischen und theologischen Kriterien. Es ist einerseits sinnvoll, kirchliche Entwicklung nicht ohne soziologische, sozialpsychologische oder organisationsentwicklerische Perspektiven zu betrachten, wie sie jeder Organisation zukommen. Andererseits gibt es jedoch für kirchliche Sendung darüber hinaus theologische Gesichtspunkte, die mit der Art und Weise der Botschaft und des Kircheseins verbunden sind. Daher ist es genauso unsinnig, einerseits „Erfolg als keinen der Namen Gottes“ zu bemühen, um die „Erfolglosigkeit“ des eigenen Agierens spirituell zu bemänteln, wie auf der anderen Seite verzweifelt immer das Gleiche mit immer größerem (inneren und ressourcenbezogenen) Aufwand und immer größerer Enttäuschung weiterzumachen, um das Schrumpfen nicht wahrhaben zu wollen oder in kleine Erfolge umzuetikettieren. Natürlich benötigt es eine gewisse „Marktorientierung“, die zeigt, ob die eigenen Formate Menschen ansprechen oder nicht. Hier ist sicher auch der Ort für innerkirchliche Reformen, die in der KMU so deutlich durch die Kirchenmitglieder von ihrer Kirche erwartet werden, um kirchliche Räume der Vielfalt, der Freiheit und des Engagements zu ermöglichen. Dies sei allen ins Stammbuch geschrieben, die ein Problem damit haben, wenn sich die „heilige Kirche“ mit ihrer überzeitlich verstandenen „besten Botschaft der Welt“ „dem Zeitgeist anpassen“ soll.

Dazu sei noch angemerkt: Auch radikale Reformen werden natürlich nicht dazu führen, dass Kirche und Glaube zu „alter Größe und Kraft“ zurückfinden. Das beliebte Argument, die evangelische Kirche kenne ja die Frauenordination und sei von den gleichen Auflösungserscheinungen betroffen wie die katholische, verkennt, dass es hier eben um qualitative Kriterien der Sendung und Beteiligung geht, die gleichwohl notwendig sind, um Plausibilität und Resonanz kirchlicher Präsenz und kirchlichen Handelns bei sich dem christlichen Glauben anvertrauenden Menschen zu erhalten bzw. wiederherzustellen.

Wie gesagt, die meisten Versuche der Vitalisierung (sic!) von Gemeinde und Kirche gehen von einer Kombination organisationstheoretischer und theologischer Kategorien aus.

Während im freikirchlichen Kontext das Bild vitaler Gemeinden oft noch stark mit ihrem numerischen Wachstum verbunden wird, kommen andere Ansätze eher mit Kriterien daher, wie sie jede Organisation für ihre Entwicklung berücksichtigen sollte.

So nennt Christoph Schalk (2003) als zentrale Aspekte bestärkende Leitung, gabenorientierte Mitarbeit, lebendige Spiritualität, zweckmäßige Strukturen, gemeinschaftlichen Glauben, ganzheitliche Teams, zeugnishaftes Helfen und vertrauensvolle Beziehungen.

Auf einer ähnlichen Abstraktionsebene legt Robert Warren, Gemeindeaufbauexperte in der anglikanischen Kirche, auf folgende Punkte Wert (vgl. Warren 2013):

  • Kraft und Orientierung aus dem Glauben an Jesus Christus beziehen (energized by faith)
  • Den Blick nach außen richten (outward-looking focus)
  • Herausfinden wollen, was Gott heute will (seeks to find out what God wants)
  • Neues wagen und wachsen wollen (facing the cost of change and growth)
  • Als Gemeinschaft handeln (operates as a community)
  • Raum schaffen für alle (makes room for all)
  • Auf das Wesentliche konzentrieren (does a few things and does them well)

In Deutschland ist der umfassende Prozess Erprobungsräume. Kirche anders entdecken.gestalten.erleben der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland beispielhaft geworden. Die durchaus auch in diesem Projekt in ihrer Bedeutung und ihrer Wertigkeit stark diskutierten Kriterien für Erprobungsräume lauten:

  • In ihnen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu.
  • Sie überschreiten die volkskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen: Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude.
  • Sie erreichen die Unerreichten mit dem Evangelium und laden sie zur Nachfolge ein.
  • Sie passen sich an den Kontext an und dienen ihm.
  • In ihnen sind freiwillig Mitarbeitende an verantwortlicher Stelle eingebunden.
  • Sie erschließen alternative Finanzquellen.
  • In ihnen nimmt gelebte Spiritualität einen zentralen Raum ein.

Die Erprobungsräume sind – vielleicht dank ihrer ostdeutschen Provenienz – bereits einen Schritt weiter, da sie nicht mehr herkömmliche Gemeinden wachsen lassen, sondern neue Gemeindeformen entdecken und entwickeln helfen, die sich bewusst als Minderheit sehen, sich aber an der Kontextorientierung und am Dienst an den Menschen messen lassen.

Qualitatives Christentum als „kreative Minderheit“

Die Frage nach Wachsen und Schrumpfen zeigt sich somit durchaus ambivalent. Im Blick auf das christologische Mysterium des Weizenkorns, das sterben muss, weil es ja sonst allein bleibt (vgl. das Gottesloblied Nr. 210), oder bezogen auf eine kenotische Soteriologie („Er war wie Gott, […] entäußerte sich, wurde wie ein Sklave“; Phil 2,6–7), die sich in der Verkündigungstheologie des Paulus („Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“; 2 Kor 12,10b) findet, zeigt sich das spezifisch Österliche im Durchgang vom Leiden und Sterben zum Auferwecktwerden, das kirchlichen Prozessen als theologische Deutung mitgegeben wird. Solche theologischen Figuren sind durchaus ambivalent: Sie können bewirken, dass man selbstbezogen in einen Opfermythos kommt, sich als Opfer stilisiert, um Mitleid und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es kann aber auch sein, dass die Qualität des österlichen Durchgangs vom Leben über Leid und Tod zu einer neuen Existenz für ekklesiale Prozesse und Präsenzen hoffnungsvoll und ohne Miesepetrigkeit und Schuldzuweisungen angenommen wird.

Die aktuelle und wohl auch zukünftige Situation sollte demnach nicht zu Resignation und Lähmung oder falschem Übereifer führen, weil das Bekannte und Liebgewonnene schrumpft und nicht mehr wächst. Es sollte vielmehr Aufmerksamkeit und Hoffnung geben auf eine neue Gestalt von Glauben und Kirche, die sich als Minderheit derzeit herausschält, oft genug in Auseinandersetzung oder Konflikt zu den herkömmlichen Strukturen und Erwartungen. Dabei ist es dann entscheidend, wie diese neue Gestalt sich dann qualitativ zeigt.

Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige bringt seit geraumer Zeit den Begriff der „schöpferischen Minderheit“ in den Diskurs um die Entwicklung von Kirche ein. Es kommt eben darauf an, welche Art von Minderheit Christen sein wollen, mit den und für die Menschen, mit denen sie zusammenleben: inklusiv, offen, verbindend, auf die Mehrung des Guten bei den anderen bedacht, um so ein proaktives Zeugnis vom Gottesreich als der Metapher für die Präsenz des heilenden und Hoffnung schenkenden Gottes zu sein und zu geben.

Qualitative Kriterien der Sendung der kommenden Kirche – Der Stil des Evangeliums

Wenn in der zukünftigen Kirche der Minderheit das qualitative Element für die Wahrnehmung der Sendung entscheidend ist, dann können Kriterien benannt werden, an denen sich eine Kirchenentwicklung quasi entlanghangeln kann:

  • Inklusion statt Exklusion
  • Überschreitung von Grenzen zum „Anderen“ (liminale Kirche)
  • Gastfreundschaft in attraktiver Form anbieten und bei anderen annehmen
  • Offenheit und Lernbereitschaft (bzw. ‑fähigkeit), Experimentierfreude, Fehlertoleranz, Feedback-Kultur
  • Die Zusage Gottes zu den Menschen in unterschiedlichen Formaten entdecken, feiern und teilen (Rituale und Narrative), für sich selbst und für andere erfahrbar werden lassen
  • Den Beitrag der Orte, Kontexte, Bedarfe, Berufungen und Gaben der – wie auch immer – Beteiligten (stakeholder) sehen und als Momentum der Kirchenentwicklung nutzen
  • Die Kommunikation des Evangeliums nicht als ein von den Prozessen unterschiedenes kompaktes Depositum, sondern als Integral der eigenen Erfahrungen wahrnehmen, deuten und teilen (Performativität ist die eigentliche Vollzugsform des Glaubens)
  • Geistliches Wachstum bei Individuen (Mikroebene) und Gemeinschaften (Mesoebene) erkennen und fördern (attraktive geistliche Praxisformen und soziale Dienste)
  • Eine Kommunikation pflegen, die Autonomie und Diversität schätzt und fördert
  • Teilhabe und Übernahme von Verantwortung ermöglichen und fördern
  • Eher auf Ermöglichung und Ermächtigung statt auf Versorgung und Verwaltung achten
  • Die Ressourcen (engagierte sowie hauptberufliche/​ordinierte Personen, Finanzen, Immobilien) für den Sendungszweck einsetzen und nicht umgekehrt die Sendung den Ressourcen unterordnen
  • Die Hoffnung wachhalten
  • Zentrale Bedeutung haben neue Formen von geistlicher leadership.
  • Der Spirit der Gemeinschaft und der Prozesse sollte geprägt sein von Qualität und Plausibilität, von Relevanz und Resonanz.
  • Die Zukunft dieser Form von Kirche wird unabdingbar von der verantwortlichen Beteiligung von Gläubigen abhängen, die nicht in einem Anstellungsverhältnis stehen. Die Prozesse der dazu nötigen Wiederherstellung des Vertrauens und der persönlichen Identifizierung sowie Bildung und Begleitung durch ordinierte und nicht ordinierte Hauptberufliche stehen erst ganz am Anfang oder haben noch gar nicht richtig begonnen.

Es braucht in dieser künftigen Kirche der Minderheit eine neue Sensibilisierung unserer Verkündigung, eher in Richtung „Wir erleben etwas!“ als „Wir wissen etwas!“. Es geht nicht mehr primär um die Wahrheitsfrage und um eine verbindliche Sozialgestalt von Kirche. Wir müssen einverstanden sein und einüben, dass wir keine institutionelle Kraft mehr haben, nicht mehr disziplinieren oder ekklesiologisch festlegen können.

Das Wozu der Kirche ist etwas anderes, als flächendeckend zu „versorgen“ oder möglichst viele erreichen zu wollen. Juden versuchen das nicht. Sie fragen nicht: „Wie können wir alle erreichen?“ Sondern eher: „Sind wir Gottes Volk? Sind wir ein Zeichen in dieser Welt?“ Das muss dann aber auch so sein, dass es verstanden werden kann. Das bedeutet übersetzt: Sind unsere Einrichtungen ein Zeichen dafür, dass es vielleicht doch einen Gott gibt? Welcher „Stil“ herrscht in unseren Einrichtungen? Wir sollten weniger tun, dafür aber zeichenhaft klar. Die Frage ist: Wo kommt uns Gott in den Narrativen der Menschen entgegen, wo wir hörbereit sein sollen? Und dies bis hin zu den Kernaussagen unseres Glaubens. Wir könnten Seelsorge und Katechese als Schutzraum verstehen und gestalten, wo Menschen von sich erzählen, wie ihr Weg geht.

Ausblick

Es geht nicht mehr um klassisches Wachstum einer herkömmlichen Gestalt und Praxis von Glaube und Kirche. Diese scheint unaufhaltsam zu schrumpfen und auszutrocknen. Es kann nur darum gehen, die künftige Kirche mit veränderten Grundhaltungen sich als qualifizierte Minderheit in bewusster und kreativer Annahme von Säkularität und ihrer eigenen kleinen Rolle weiterentwickeln zu lassen. Und ganz zum Schluss ein säkulares Zeichen der Hoffnung: Am Maximilianmuseum in Augsburg entdeckte ich eine Tafel mit der Aufschrift: „NICHTS verschwindet jemals GANZ.“