Demografischer Wandel im ländlichen Raum
Ansatzpunkte für die Anpassung an Schrumpfung und Alterung
1. Einleitung
„Hilfe, wir wachsen“ – viele deutsche Städte und Gemeinden sehen sich aktuell mit einer Entwicklung konfrontiert, deren Richtung und Intensität noch zu Beginn des Jahrhunderts kaum vorstellbar schien. Stark steigende Bevölkerungs- und Beschäftigungszahlen haben nicht nur die Nachfrage nach Wohnraum und Gewerbeflächen befördert, gewachsen ist vielerorts auch der Bedarf an infrastrukturellen Leistungen. Betroffen sehen sich keinesfalls nur Metropolen und Stadtregionen, sondern auch manche ländliche Klein- und Mittelstadt.
Der in den 2010er Jahren einsetzende – und durch die Fluchtzuwanderung der Jahre 2014–16 sowie 2022–23 schubartig verstärkte – Wachstumsdruck traf die Politik und die Gesellschaft weitgehend unvorbereitet. Noch um die Jahrtausendwende waren die Diskurse der Raum- und Stadtentwicklungspolitik in Deutschland von den Möglichkeiten eines gelingenden „Schrumpfens“ dominiert. Gesucht wurde nach einem neuen Verständnis von „Entwicklung“ und „Zukunft“ für demografisch schrumpfende und alternde Stadt- und Dorfgesellschaften sowie den diesbezüglichen Möglichkeiten einer qualitätsorientierten Anpassung der gebauten Umwelt und Infrastruktur. Inzwischen stellt sich die Situation allerdings grundlegend verändert dar. Die ungebrochene Zuwanderung in die großen Städte, ihr Umland und attraktive ländliche Räume – als Bildungswanderer, Mittelschichtsfamilien, Kreative und nicht zuletzt als Schutzsuchende aus Kriegs- und Krisengebieten – stellt alte und neue Fragen nach dem „Wie“ und „Wo“ einer sozial, ökonomisch und ökologisch verantwortbaren Wachstumsgestaltung.
Der Herausforderungen demografischer Schrumpfung und Alterung sind damit aber keinesfalls abgelöst. Auch in Zukunft wird die Entwicklung in Deutschland von einer Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung gekennzeichnet sein. Der demografische Alterungsprozess setzt sich dynamisch fort und wird auch in den prosperierenden Regionen und hier insbesondere in suburbanen Gebieten spürbar sein. Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um anzunehmen, dass der bevorstehende Renteneintritt der Boomer-Generation den demografischen Wandel mit Vehemenz auf die Agenda der politischen Entscheidungsträger*innen bringen wird – in der Bundes- und Landespolitik ebenso wie in der Kommunalpolitik. Berührt sind unter anderem Fragen der Fachkräftesicherung, der Finanzierbarkeit und Qualität der kommunalen Infrastruktur, des Wohnungsmarktes und der Mobilitätsangebote, um nur die wichtigsten kommunalen Themen zu nennen.
2. Konturen des demografischen Wandels
Mit dem Begriff des „demografischen Wandels“ werden Veränderungen der Bevölkerungsgröße und -struktur bezeichnet. Für ein Land wie Deutschland, dessen demografische Entwicklung bereits seit den frühen 1970er Jahren von einem im internationalen Vergleich sehr geringen Fertilitätsniveau und einer stetig steigenden Lebenserwartung geprägt ist, manifestiert sich dieser „Wandel“ in hohen (und weiter zunehmenden) Sterbeüberschüssen und einem kontinuierlich ansteigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung. Die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung wird allerdings durch die hohe Zuwanderung aus dem Ausland kompensiert oder sogar überkompensiert. Daher ist die Internationalisierung der Bevölkerung ein dritter Eckpfeiler des demografischen Wandels – neben der Veränderung der Bevölkerungsgröße und der Alterung. Der Anteil der Bevölkerung mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit und Migrationsgeschichte (auch „Migrationshintergrund“ genannt) wird zukünftig weiter ansteigen.
Betrachtet man nicht Deutschland insgesamt, sondern die Teilräume des Landes, werden gravierende Disparitäten in der demografischen Entwicklung sichtbar. Wachsende Großstädte und deren Vororte stehen Städten und Gemeinden mit Bevölkerungsrückgängen gegenüber. Die Grenzen zwischen Wachstum und Schrumpfung lassen sich jedoch keinesfalls allein mit den Kategorien von „Stadt“ und „Land“ festmachen. Deutschland ist in demografischer Hinsicht von einer doppelten Polarisierung geprägt, was bedeutet, dass es wachsende und schrumpfende Städte (letztere zum Beispiel im Ruhrgebiet) sowie wachsende und schrumpfende ländliche Kommunen gibt. Entscheidend für demografische Entwicklungen sind weniger die großräumige Lage und der Grad der Urbanisierung als vielmehr die regionale Wirtschaftsstruktur und das Einkommensniveau, das Angebot an lokaler und regionaler Infrastruktur, landschaftliche Qualitäten und das Image einer Region.
Jenseits regionaler Disparitäten müssen nahezu alle deutschen Städte und Gemeinden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit gravierenden Zuwächsen bei der Zahl der betagten und hochbetagten Bevölkerung, einem Abschmelzen des Erwerbspersonenpotenzials und einem abnehmenden Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung rechnen. Darüber hinaus wird auch die Singularisierung der Gesellschaft weiter voranschreiten, womit ein stetiger Anteilszuwachs von Einpersonenhaushalten gemeint ist. Schon heute ist absehbar, dass die steigende Zahl von alleinlebenden Singles enorme Hausforderungen für den Gesundheitssektor mit sich bringen wird. Neben einer expansiven Nachfrage nach Pflegeleistungen werden die mit sozialer Vereinsamung in Zusammenhang stehenden psychosozialen Belastungen – insbesondere im Alter – an Bedeutung zunehmen. Hier haben auch die Kirchen wichtige Aufgaben in niedrigschwelligen Angeboten sozialer Einbindung und Seelsorge.
3. Eckpunkte für Anpassung an Schrumpfung und Alterung
Was bedeutet all dieses für das politisch-planerische Handeln in ländlichen Kommunen, die schon heute oder in näherer Zukunft von rückläufigen Bevölkerungszahlen betroffen sind? Eine zentrale Erfahrung aus den vergangenen Jahren ist, die Entwicklung von Städten und Gemeinden nicht dem Markt zu überlassen. Der weitgehende Rückzug der Kommunen aus dem Wohnungsbau und die Privatisierung großer Teile der öffentlichen Infrastruktur („Daseinsvorsorge“) sind zumindest mitverantwortlich für aktuelle Herausforderungen. Genannt seien das nicht nur in Städten beobachtbare dramatische Abschmelzen preiswerter Wohnungsbestände, die Monostrukturen des allgegenwärtigen Ein- und Zweifamilienhausbaus und die Ausdünnung der Standortnetze der sozialen Infrastruktur. Die Bewältigung des demografischen Wandels erfordert aktives kommunalpolitisches Handeln und die Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Engagements. Kommunen, die dem demografischen Wandel eher passiv begegnen, geraten in Gefahr, einen Teufelskreis aus Abwanderung, Alterung, wirtschaftlicher Stagnation und Erosion der öffentlichen Infrastruktur nicht aufhalten zu können.
Zugleich zeigt die Erfahrung, dass Strategien einer Trendumkehr durch Wachstum nicht effektiv sind. In den vergangenen Jahren haben unzählige Kommunen versucht, mit einer expansiven Bereitstellung von Bauland für Wohnen und Gewerbe einem Schrumpfungstrend entgegenzutreten. Mag dies in Einzelfällen erfolgreich sein, fördern solche Strategien im Ganzen ein kommunales „Kirchturmdenken“ und ein destruktives Abwerben von Firmen und Haushalten aus den Nachbarkommunen, mit dem die Region insgesamt verliert. Anpassung an den demografischen Wandel erfordert daher eine Kommunalpolitik, die sich von Wachstumsillusionen befreit und neue Wege der Stabilisierung und Regeneration beschreitet. Im Folgenden wird dies an zwei ausgewählten Handlungsfeldern in knapper Form veranschaulicht.
3.1 Wohnungspolitik und Siedlungsentwicklung
Der demografische Wandel wird die Nachfrage nach Wohnraum in den kommenden Jahren gravierend verändern. Dies ist nicht nur durch die Veränderung der Altersstruktur bedingt, sondern geht auch auf den Wandel der Lebensstile zurück. Die zunehmende Zahl von alten Menschen, der Bedeutungsverlust von Eltern-Kind-Gemeinschaften und gleichzeitige Veränderungen der Arbeitswelt wie die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit führen zu einem steigenden Bedarf nach kleinen Singlewohnungen, Zweitwohnungen oder auch gemeinschaftlichen Wohnformen. Insbesondere die Vororte im „Speckgürtel“ der großen Städte sowie ländliche Kommunen stehen vor der Herausforderung, dass die in den vergangenen Jahrzehnten entstandenen Einfamilienhausbestände in absehbarer Zeit mit Nachfragerückgängen konfrontiert sein werden, da keine entsprechend große „Familiengründer-Generation“ nachfolgt. Gleichzeitig muss aber – wie zuvor erwähnt – eine qualitativ veränderte Wohnraumnachfrage befriedigt werden. Ohne einen aktiven, von Politik und Verwaltung gesteuerten und mit der Immobilienwirtschaft kooperativ durchgeführten Stadt- und Quartiersumbau drohen gleichzeitig ein Überangebot an älteren Eigenheimen und Mangelsituationen an modernen barrierefreien Wohnungen.
Kommunen mit rückläufiger Bevölkerungszahl ist dabei zu empfehlen, eine auf den Umbau und die Erneuerung des Bestands orientierte Wohnungs- und Siedlungspolitik zu verfolgen. Neue Einfamilienhausgebiete auf der „grünen Wiese“ können keine Antworten auf die oben erwähnten Strukturveränderungen der Nachfrage geben. Es gilt stattdessen, die Stadt- und Ortszentren zu revitalisieren, wozu auch punktuelle Neubauvorhaben im Mietwohnungssektor beitragen können. Kommunen können die Erneuerung des Bestands durch finanzielle Anreize stimulieren, wenn anstelle von neuen Baulandausweisungen der Erwerb von Bestandsimmobilien finanziell belohnt wird. Eine aktive kommunale Bodenvorratspolitik und der Zwischenerwerb von Immobilien helfen, um auch in „schwachen Märkten“ Impulse für eine Erneuerung von Quartieren zu geben. Auch kirchliche Liegenschaften können für eine Stärkung der gemeinwohlorientierten Wohnungsversorgung zukünftig eine größere Rolle spielen. Die Vorteile attraktiver Innenstädte und Dorfmitten liegen mit Blick auf eine alternde Gesellschaft auf der Hand: Versorgung, Freizeit und Erholung in fußläufiger Nähe ist insbesondere für den Teil der Bevölkerung ein Versprechen, der aufgrund von Mobilitätsbeeinträchtigungen oder Mobilitätsarmut auf die räumliche Nähe zu Angeboten angewiesen ist.
Ein besonderes Manko ländlicher Wohnungsmärkte ist der Mangel an Mietwohnungen mit modernen Wohnstandards. Jüngere Berufstätige, Paare vor der Familiengründung und aus dem Ausland zugewanderte Menschen suchen aber häufig zunächst auf dem Mietwohnungsmarkt. Bestehen hier Defizite in Angebotsquantität und -qualität, kann dies zu einer Verschärfung der Fachkräfteverfügbarkeit führen. Empfohlen sind dann strategische Allianzen aus Kommunalplanung, (kommunaler) Wohnungswirtschaft und Kreditinstituten, um den Mietwohnungsbau an integrierten Standorten in geeigneter Weise zu forcieren.
3.2 Daseinsvorsorge
Für die meisten Bürgerinnen und Bürger ist die räumliche Nähe zu elementaren Gemeinbedarfseinrichtungen, eine sichere und kostengünstige Wasserversorgung oder ein gut ausgebauter öffentlicher Personenverkehr eine unhinterfragte Realität. Im fortschreitenden demografischen Wandel könnte eine qualitativ hochwertige Daseinsvorsorge mit Attributen wie „wohnortnah“ und „kostengünstig“ jedoch ihre bisherige Selbstverständlichkeit verlieren. Der Bevölkerungsrückgang unterwandert die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Infrastruktur, was sich in Angebotsrücknahmen und Kostensteigerungen äußern kann. Der Grund dafür liegt darin, dass es unter länger anhaltenden Schrumpfungsprozessen zwangsläufig zu einer Entkopplung des existierenden Angebots an technischen und sozialen Infrastrukturen und der Nachfrage kommt. Die Kommunen müssen dann ein überdimensioniertes Infrastruktursystem vorhalten, was die Bürgerschaft in Form von steigenden Gebühren und Beiträgen enorm belasten kann. Schon heute gibt es Regionen in Deutschland, in denen die Menschen nicht nur weite Wege zu Schule, Einkauf oder Kirche zurücklegen müssen, sondern auch höhere Preise für den Bezug von Trinkwasser oder die Entsorgung von Abwasser entrichten.
Im Vergleich zur sozialen Infrastruktur ist die technische Versorgungswirtschaft noch weitaus weniger in der Lage, auf rückläufige Bevölkerungszahlen mit einer Reduktion der Leistung und damit auch der Kosten zu reagieren. Die Notwendigkeit, auch bei rückläufiger Bevölkerungszahl eine flächendeckende Versorgung zum Beispiel bei der Lieferung von Trinkwasser und der Abwasserentsorgung aufrechtzuerhalten, die Immobilität und Unteilbarkeit vieler Einrichtungen wie Kläranlagen sowie hohe Fixkostenanteile führen zu sogenannten Kostenremanenzen.
Bei sozialen Infrastrukturleistungen kann durch Schließung oder Zusammenlegung von Einrichtungen grundsätzlich auf die rückläufige Nachfrage reagiert werden. Dies stößt aber in den betroffenen Kommunen auf erhebliche politische Vorbehalte und Widerstände aus der Bürgerschaft. Nichtsdestotrotz geht langfristig kein Weg an einer geplanten Anpassung der Infrastruktursysteme an länger anhaltende Schrumpfung vorbei. Dies erfordert eine behutsame Kommunikation und eine umfassende Beteiligung der Menschen. Interkommunale Bewirtschaftungskonzepte für bestimmte Leistungen wie Frei- oder Hallenbäder können helfen, Leistungen, die einzelkommunal nicht mehr finanzierbar sind, langfristig für eine regionale Nachfrage zu sichern.
Bei der Infrastrukturplanung kommt grundsätzlich erschwerend hinzu, dass dem erwarteten (oder schon eingetretenen) Rückgang der Nachfrage nach bestimmten Leistungen ein Nachfragezuwachs bei anderen Leistungen gegenübersteht. Im fortschreitenden Alterungsprozess werden insbesondere medizinische und pflegerische Angebote verstärkt nachgefragt. Im öffentlichen Raum wird die Barrierefreiheit zu einem entscheidenden Qualitätsmerkmal. Auch hierauf sollten sich Kommunen langfristig vorbereiten und nach geeigneten institutionellen und finanziellen Lösungen suchen.
4. Fazit
Abschließend bleibt festzuhalten, dass Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung zukünftig eher der Normalfall denn die Ausnahme sein werden. Es gilt das Thema „Demografie“ zu enttabuisieren und einen offenen Umgang mit den möglichen Folgen demografischer Veränderungen und den Möglichkeiten ihrer Gestaltung zu kultivieren. Zugleich ist zu konstatieren, dass der demografische Wandel eine langfristig orientierte und querschnitthafte Transformationsaufgabe darstellt, die mit Aufgaben wie der Klimafolgenanpassung, der Digitalisierung in Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung sowie der Transformation der Energie- und Mobilitätssysteme zusammengedacht werden muss. Im Idealfall gelingt es, Konzepte zu entwickeln, mit welchen Siedlungsräume und Infrastruktursystem an den Bevölkerungsrückgang und die Alterung angepasst werden können und welche zugleich Antworten auf den Klimawandel geben. Kompakte und begrünte Innenstädte und Dorfzentren sind dabei ein wichtiger Ansatzpunkt einer demografie- und klimasensiblen Stadtentwicklung.
In der Antwort auf den demografischen Wandel gibt es keine Patenzrezepte. Jede Kommune ist einzigartig und muss daher individuell passende Lösungsstrategien und Maßnahmen entwickeln. Die in diesem Beitrag skizzierten Handlungsmöglichkeiten bieten nur einen überblickshaften Rahmen. Der demografische Wandel ist irreversibel, aber in seinen Auswirkungen gestaltbar. Kommunen bleiben als Lebens- und Arbeitsorte attraktiv, wenn frühzeitig Anpassungsstrategien durch Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft entwickelt werden. Diesbezüglich erfolgreiche Kommunalpolitik ist langfristig orientiert, integriert angelegt, interkommunal vernetzt, offen für Experimente und partizipativ. Kommunen werden die „Herausforderung Demografie“ dann bestehen, wenn das Thema nicht tabuisiert wird, wenn eine bestandsorientierte Stadtentwicklung Leerstand und Wertverluste von Immobilien begrenzt und neue Qualitäten schafft und wenn kooperativ mit der Bürgerschaft und den Nachbarkommunen nach Lösungen gesucht wird.