Inhalt

„Flugversuche im Abwind“

Eine ökumenische digitale Denkwerkstatt über pastorale Innovation und Zukunftsfähigkeit der beiden großen Kirchen

Wie geht es weiter mit der kirchlichen Arbeit in Deutschland angesichts von sozio-kulturellem Wandel, Austritten und schwindenden Ressourcen und Relevanz? Bereits im März 2022 hatten das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der EKD und die KAMP mit anderen Partnern zu diesem Thema eine Tagung im Erfurter Augustinerkloster durchgeführt. Dort ging es, angeregt durch „Erprobungsräume“ und Innovationsbestrebungen in Landeskirchen und Bistümer, darum, wie denn Kirche neu zu denken wäre. Und wie tatsächlich Schritte der Innovation geplant, gegangen und evaluiert werden können, um aus neuen Grundhaltungen von Christ:innen neue Sozialformen von Kirche werden zu lassen, die das herkömmliche territorial-parochiale Modell von Kirche ergänzen.

Bei der digitalen Denkwerkstatt am 19.4.23 sollte hier weitergedacht und weiterberaten werden, wie es um die Zukunftsfähigkeit kirchlicher Erneuerung bestellt ist und welche Rolle dabei der ökumenische Diskurs spielen kann.

Anna-Nicole Heinrich, Präses der EKD-Synode, verwies in ihrem vorher aufgezeichneten Videobeitrag darauf, dass Kirche derzeit wie auf einer Slackline (Kunstfaserband) vom Schlingern zum Balancieren kommt. Einen großen Anteil haben nach Heinrich für die evangelische Kirche die „12 Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“ der EKD vom Sommer 2020. Heinrich versteht das „Balancieren auf der Slackline“ als einen Verständigungsprozess darüber, wie Kirche in die Zukunft gestaltet werden kann. Sie nennt Frömmigkeit (LS 1), Vielfalt (LS 7) und ökumenische mehrkonfessionelle Gemeinden (LS 5). Regionale Netzwerke werden wichtiger, die beteiligend, partizipativ und inklusiv sind, um Handlungsfähigkeit und Sprachfähigkeit im Glauben als Ermöglichung (empowerment) und damit neue Formen mit unterschiedlichen Menschen auszuprobieren. Diese Suche nach neuen Formen versteht die Synoden-Präses der EKD als eine ökumenische Innovationsbewegung.

Hildegard Wustmans, die Leiterin des Dezernats Pastorale Dienste im Bistum Limburg, bietet einen Einblick in konkrete Gestaltung von Ermöglichungsräumen, um das Bistum für die Zukunft gut aufzustellen. Sie verweist zunächst auf multiprofessionelle Stellen in Pastoralteams. Dabei entsteht durch professionsspezifische Perspektiven ein Learning für das ganze Team mit dem Ziel von Horizonterweiterungen und Haltungsänderungen. Das Projekt FAITHPWR ist ein digitales Angebot für junge Erwachsene unter Nutzung sozialer Medien. Digitale Pastoral, so Wustmans, ist organisationales Lernen der Selbstwirksamkeit mit Werkstattcharakter. Schließlich beschreibt sie die neue Leitungsstruktur im Bistum Limburg als Teil und Movens einer Transformationsstruktur: das Bistumsteam und Leitlinien zu Entscheidungen, Prozessen und Grundhaltungen auf verschiedenen Ebenen.

Die Kieler praktische Theologin Uta Pohl-Patalong merkt in ihrem Impuls an, dass Inhalte und Sozialformen von Kirche dann Plausibilität haben, wenn sie eine positive Veränderung des Alltags für Menschen bedeuten. Man solle aufhören mit der bisherigen „Normativität“, vielmehr Zutrauen zu den Menschen und zum Evangelium haben: Räume eröffnen und gestalten, in denen die unbedingte Liebe Gottes erfahrbar wird! Sodass Menschen sagen können: „Hier ist gut sein!“ Die Professorin wirbt dafür, dass kirchliche Arbeit exemplarisch, keine Vollversorgung ist. „Es gibt unterschiedliche Wege, das Evangelium zu kommunizieren. Wir müssen fragen, was die Menschen brauchen, was berührt und verändert.“ Schwerpunkte sind zukünftig mehr noch auf freiwillig Engagierte, auf Netzwerke und eine enge Zusammenarbeit mit Akteur:innen der Zivilgesellschaft zu legen.

Der in Utrecht/​Niederlande lehrende Pastoraltheologe Jan Loffeld kritisiert eine zu starke Institutionengläubigkeit (als Problem und als Lösung): „In Deutschland wird die Glaubensfrage zumeist als Kirchenfrage verhandelt.“ Er verweist darauf, dass die Menschen in den säkularsten Länder Europas (z. B. in den Niederlanden) sich statistisch als die glücklichsten bezeichnen. Ein gnädiger Gott – so Loffeld – ist für ein glückendes Leben offenbar nicht mehr nötig! Mehr noch: Je mehr auf Transzendenz gesetzt werde, desto weniger Relevanz werde verzeichnet. „Erlösung“ wird vielmehr zur Selbstoptimierung. Im Blick auf Erwachsenentaufen in den Niederlanden plädiert der Theologe jedoch für eine entspannte Sichtweise: „Gnade ereignet sich, ohne dass wir etwas dazu tun können.“ Große Bedeutung haben jedoch Narrationen. Loffeld fragt: Was erzählen wir über unsere Innovationen? Wie erzählen Menschen von sich? Es entstehen neue Erzählungen, die Christ:innen lernend wahrnehmen sollen.

In der Diskussion und den abschließenden Statements wurde die Bedeutung der narrativen Grundstruktur nochmals unterstrichen. Was bedeuten darin die Verletzungen und Zerstörungen durch den sexuellen Missbrauch? Wir sind mit der Kirche derzeit nicht am Ostersonntag mit Jubelchristentum, wie es z. B. in der Neuevangelisierung oder anderen charismatisch-pentekostal orientierten Spiritualitäten nahegelegt wird, sondern irgendwo zwischen Karfreitag und Karsamstag.

Andere verweisen auf den Reformbedürfnisstau in der Kirche, der daran hindert, direkt Innovation zu betreiben. Erst sollten die „Hausaufgaben“ gemacht werden und die Relevanzfrage als Umsteuern der Kirche wahrgenommen werden. Das erfordere eine wirkliche Richtungsänderung, nicht nur ein „Aufhübschen“ und ein Weiterbetreiben religiöser „Versorgung“. Wieviel Zeit ist noch zum Umsteuern? Sollte man nicht jetzt schon in den volkskirchlichen Strukturen mit den noch vorhandenen Ressourcen umsteuern? Warum ist es so mühsam, Schritte in diese Richtung zu gehen?

Die Narration, die der spirituelle und sexuelle Missbrauch und der kirchliche Umgang damit darstellen, heißt: institutionelle Selbsterhaltung um jeden Preis! Relevanz wird also zu oft noch mit der Erhaltung der Kirche verknüpft, so wie sie derzeit ist. Dieses Paradigma scheint zumindest in der katholischen Kirche noch nicht signifikant verändert. „Haben die Verantwortlichen in den letzten Jahren wirklich etwas gelernt?“, so fragt ein Teilnehmer. „Es geht noch oft genug nur ums eigene Image!“ Schließlich gehört zur wirklichen Veränderung auch das Erlernen der Kulturtechnik des „Aufhörens". Insofern braucht Innovation auch Exnovation („Verlernen“). Hier könnte von den Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross viel gelernt werden.

Welche Learnings bleiben am Ende?

  • Relevanz des Evangeliums radikal von den Menschen her denken!
  • Kirchlicher Selbsterhaltungs- und Selbstoptimierungstrieb ist die Narration, die derzeit andere existentielle Narrationen verhindert/erschwert.
  • Innovation im Sinne von oberflächlicher Qualifizierung/Optimierung des kirchlichen Betriebs (Normativität: Wie Kirche/​Glaube zu sein hat!) ist keine Innovation; man muss offenkundig tiefer ansetzen.
  • Wir müssen weg davon, dass wir die Menschen als Objekte behandeln, belehren, versorgen, sie organisieren, sie irgendwohin haben wollen oder dass sie irgendetwas tun sollen.
  • Vielmehr: Aufmerksamkeit darauf und Räume dafür, wie Menschen von sich erzählen, wie sie von sich aus initiativ werden, wem und was sie auf welche Weise Relevanz beimessen.
  • Kirche muss partizipativ und ermächtigend werden, in diesem Sinne Räume eröffnen: mehr Aufmerksamkeit auf freiwillig Engagierte als den Subjekten und Akteur:innen der Zivilgesellschaft.

Die Denkwerkstatt zeigt: Es lohnt sich, ökumenisch unterwegs zu sein. Der Diskurs mit der anderen Konfession ohne Positionskämpfe eröffnet Wahrnehmungs- und Diskursräume und produktive Irritationen. Es geht darum, realistisch auf Plausibilitäts- und Relevanzverluste zu schauen, aber auch den Kulturwandel und die Ausstrahleffekte neuer Sozialformen von Kirche wahrzunehmen. Auf jeden Fall gilt die Erfahrung der Jünger mit dem österlichen Christus: Wenn wir so tun, als hätten wir IHN (quasi als Besitz), ist er nicht mehr da. Die Präsenz Christi und seines Evangeliums kann „heilsanstaltlich“ nicht mehr sichergestellt werden, sie muss sich „ereignen“. Und ich/​wir müssen offen dafür sein, wo und wie und mit wem es sich ereignet. Dazu braucht es geeignete organisationale und personale Rahmenbedingungen und Grundhaltungen. Die Veranstalter wollen dranbleiben und den ökumenischen Diskurs über Innovation und Kirchenentwicklung, eventuell unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), weiterhin fortführen und für Interessierte und Verantwortliche in den Kirchen anbieten.