Vom Aufbrechen und Heimkommen
Wie eine neue Empfangskultur einen Haltungswechsel ermöglicht
„Nicht die Mitte ist der Ort des schöpferischen Neubeginns,
der sich vielmehr, oft unverstanden oder verlacht,
an den Rändern ereignet.
Die Mitte ist ein gewohnheitsgesättigter, träger, anmaßend-selbstzufriedener Ort.
An den Rändern dagegen, im Schattenbereich des Subtilen,
der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren,
eben dort erscheint zaghaft,
was sich anschickt, die Wirklichkeit zu verändern“.
(Fabio Pusterla, schweizerisch-italienischer Schriftsteller)
Angesichts spärlich gefüllter Kirchenbänke und weiter sinkender Mitgliederzahlen kommt man in vielen Kirchengemeinden auf den Gedanken: „Wenn die Menschen nicht mehr zu uns kommen, dann gehen eben wir zu den Menschen!“ Das klingt etwas trotzig, aber auch tatendurstig. Man würde sich auf diese Weise auch einmal aus seiner trägen Mitte herausbewegen. Und die Idee erscheint ja so naheliegend wie einfach.
Aber ist das wirklich so einfach? Wie macht man das überhaupt? Wo genau geht wer hin? Und was bedeutet es für das Selbstverständnis des Pastoralteams, sein „Territorium“ zu verlassen? Kann das überhaupt „etwas bringen“?
Denn die Leute „da draußen“ warten nicht ausgerechnet auf einen Pfarrer, einen Diakon oder eine Gemeindereferentin. Nicht einmal mehr die Hälfte der Menschen in Deutschland gehört noch einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Es ist schon lange offenkundig, dass wir als Kirche stetig an Relevanz für die Menschen in unserem Land verlieren. Gleichwohl hat man nicht den Eindruck, dass die Kirchen darauf angemessen innovativ reagieren würden. Allein Einsparprogramme mit verbrämenden Namen gibt es immer wieder.
Das diesem Beitrag voranstehende Zitat des Dichters Fabio Pusterla verweist auf ein grundsätzliches Phänomen, das m. E. auch den Zustand unserer Kirche prägt. Wir agieren stets aus uns selbst, aus unserem katholischen Verständnis von Gott, Kirche, Welt und Mensch heraus. Für dieses Verständnis ist die kirchliche Lehre das Zentrum, für das Handeln vor Ort die Kerngemeinde der Getauften und Gefirmten die Mitte. Womöglich liegt da ein Problem.
Einseitige Kommunikation verstärkt Entfremdung
Als die sehr mit sich selbst beschäftigten deutschen Theaterhäuser in eine grundsätzliche Krise abzurutschen drohten, resümierte die damalige Freiburger Theaterintendantin Barbara Mundel: „Es genügt nicht, zu überleben. Wir müssen uns eine neue Relevanz erarbeiten. Wir brauchen Spezialisten für Übergänge, Zwischengewissheiten und Laboratorien“ (Mundel/Mackert 2011). Liest man diesen Satz aus der Kirchenperspektive, kann man ihn so auslegen: Es reicht nicht, zu wissen, dass wir etwas Einmaliges anzubieten haben – nämlich die Frohe Botschaft. Wem wollen wir sie verkünden, wenn unsere Kirchen immer leerer werden? Und warum verlieren wir Menschen, obwohl wir diesen Schatz der Frohen Botschaft mit allen teilen wollen? Wir benötigen Leute und Orte, die uns helfen, auf diese Entwicklung konstruktiv zu reagieren.
Der Mitgliederschwund hat sicher viele Gründe. Einer der Gründe scheint zu sein, dass man uns nicht mehr glaubt. Dass wir als Kirche nicht mehr glaub‑würdig sind. Das ist fatal für eine Institution, die Glauben zur Grundlage ihrer Existenz hat. „Die Kirche interessiert sich nicht für mich. Sie nimmt mich nicht ernst. Sie ist mit sich selbst und mit ihren Skandalen beschäftigt. Sie ist nicht von heute“ – derartige Stellungnahmen kennen wir sicher alle, die wir in der Kirche arbeiten. Mit aus der Zeit gefallenen Denk- und Handlungsweisen (etwa institutioneller Umgang mit Missbrauchsskandalen; Haltung gegenüber Frauen, queeren Menschen, Laien; restriktive Sexualmoral; intransparente und paternalistische Entscheidungsprozesse) können immer weniger Menschen etwas anfangen.
Verstärkt wird diese Entfremdung durch das in unserer Kirche verbreitete einseitige Kommunikationsmodell. Das Wechselspiel von Senden und Empfangen ist bei uns häufig auf das Senden reduziert. Dies drückt sich auch in der Terminologie kirchlichen Agierens aus – Verkündigung, Frohe Botschaft, Mission, Evangelisierung, Katechese, Sendungsraum (sic!) usw.
Und das Empfangen? Welche Sorgen, Nöte, Verletzungen, Frustrationen (auch ausgelöst durch Erfahrungen mit der Kirche) die Menschen im Sozialraum beschäftigen, das spiegelt sich in kirchlichem Alltag kaum wider.
Genauso wenig erfahren wir von den Sehnsüchten der Menschen, die nicht in die Kirche kommen. Wir kennen ihre Träume, ihre Potenziale oder ihre Ideen nicht. Das alles könnte uns bereichern, uns zukunftsfähig machen, uns neue Relevanz geben. Stattdessen fehlt es in Pastoralteams häufig an der Vorstellungskraft, dass wir von den anderen Menschen in Quartier und Stadt etwas lernen könnten. Dass unser Blick auf die Welt, auf Gott, auf uns selbst Erweiterndes erfahren könnte, wird nicht in Betracht gezogen. Wenn wir zu wenig im Austausch mit den Menschen im Sozialraum sind, ist Relevanzverlust die logische Folge.
Eine neue Empfangskultur ist notwendig
Natürlich ist die Verkündigung ein elementares Feld in der Kirche. Aber unsere Art der „Kommunikation“ steht dem Zustandekommen eines Dialogs, einer echten Begegnung im Wege. Dabei brauchen wir Begegnungen mit anderen mehr denn je. Nur wenn wir in neuen Kontakt kommen mit kirchennahen und kirchenfernen Menschen, Christ*innen und Andersglaubenden, Leuten aus der Mitte und von den Rändern, Menschen aus allen Kulturen und Traditionen, nur dann lassen sich beidseitig Ressentiments hinterfragen, aufweichen und Einstellungen vielleicht auch verändern.
Für ein Zustandekommen und ein Gelingen solcher Begegnungen ist eines elementar, aber in unserer kirchlichen Realität nicht selbstverständlich und umfassend etabliert: eine Kultur der Offenheit, Transparenz, der Neugier, der aufrichtigen Anerkennung und Wertschätzung des anderen Lebensentwurfes. Die Menschen im Quartier müssen das Gefühl haben, dass wir sie wirklich und bedingungslos wahr‑ und ernstnehmen.
Es braucht eine neue Empfangskultur. Das meint nicht die oft thematisierte „Willkommenskultur“, sondern die Bereitschaft zum Empfangen und Aufgreifen von Signalen der Menschen – auch und vor allem der Menschen jenseits der Kirchenmauern.
Das klingt zunächst recht unspektakulär, ist jedoch eine grundlegende Veränderung: Es bedeutet nichts weniger als einen Haltungswechsel in der pastoralen Praxis. Eine Abkehr von einer im katholischen Kontext noch immer weit verbreiteten paternalistischen Haltung hin zu einer offenen, demütigen Bereitschaft zur Begegnung auf Augenhöhe.
Es heißt, dass wir andere, fruchtbare Möglichkeiten des Menschseins und des Christseins erproben und reflektieren wollen. Mehr noch: dass wir uns verändern (lassen) möchten.
Menschen spüren schnell, ob wir ernsthaft Interesse an ihnen und ihren Erfahrungen und Expertisen haben. Der Pastoraltheologe Prof. Dr. Bernd Hillebrand bringt es auf den Punkt: „Wir werden gemessen […] an unserer Haltung und nicht an Themen“ (Hillebrand 2021a).
Eine Haltung der zugewandten bedingungslosen Offenheit können wir nur in Begegnungen beweisen. Hier können wir Veränderungshilfe bekommen. Wir sollten endlich auch jene ansprechen, mit denen wir nicht reden. Aber wer ist hier „wir“?
Engagementförder*innen im Erzbistum Köln als Spezialist*innen
Barbara Mundel spricht von „Spezialisten“ für „Übergänge und Zwischengewissheiten“. Im Erzbistum Köln haben wir solche Menschen: Hier gibt es seit einigen Jahren den Beruf der Engagementförderin/des Engagementförderers. Derzeit etwa 50 Kolleg*innen aus ursprünglich vielen unterschiedlichen Professionen arbeiten auf Basis diözesaner Standards, aber auf jeweils individuelle Weise daran, die Arbeit ihrer Kirchengemeinden mit den Menschen im Sozialraum zu synchronisieren und das Bild von Kirche vor Ort zu erneuern. So generieren sie auch Impulse für einen Haltungswechsel.
Die Kolleg*innen entwickeln engagementfreundliche Strukturen und neue partizipative Elemente in ihren Pfarreien. Dazu bauen sie z. B. Netzwerke kirchlichen und bürgerschaftlichen Engagements auf (oder treten bestehenden bei), machen Angebote für Menschen, die etwas gestalten, sich einbringen oder etwas für andere tun möchten. Sie greifen die Ideen der Menschen auf, unterstützen und begleiten die Realisierung. Im Pastoralteam und in den kirchlichen Gremien machen sie sich zu Anwält*innen von Menschen, Impulsen, Ideen, Entwicklungen. Die Engagementförder*innen sind also am „Puls der Menschen“ im Sozialraum orientiert – und nicht am innerkirchlichen Bedarf. Sie trachten in der Regel nicht danach, Lücken zu füllen und beispielsweise Lektor*innen, Katechet*innen zu akquirieren. Mit großem Herzen, offenen Ohren und aufrichtigem Interesse initiieren oder erneuern sie einen Dialog zwischen Kirche und Menschen/Institutionen in der Stadt und machen Kirche neu als Teil des kommunalen Lebens sichtbar.
Das eigene Territorium verlassen – dafür haben wir ein Vorbild
Weil wir jedoch anderen nur noch selten in der Kirche, in unserer Gemeinde begegnen, müssen wir andere Orte finden, an denen dies möglich ist: also das eigene Territorium verlassen. Diese Vorstellung geht für manche Hauptamtlichen in den Pfarreien einher mit einem Gefühl der Unsicherheit, der Unwägbarkeit. Denn damit verlassen wir die Komfortzone. Wir gehen runter von dem Feld, auf dem wir die Ordnung und die Regeln bestimmen. Wir gehen raus aus unserer Blase.
Wahrlich nicht in jeder Pfarrei kann ein*e Engagementförder*in einfach im Pastoralteam verkünden, dass man sich jetzt mal den Menschen an anderen Orten der Stadt zuwenden wolle, jenseits unserer kirchlichen Souveränitätssphäre.
Aber wenn wir es tun, treffen wir oft auf Menschen, die Ideen haben, die Wünsche äußern oder etwas gestalten wollen. Womöglich wollen einige sogar Ideen in die kirchliche Arbeit einbringen, neue liturgische Formate etwa. Wenn wir sie im Ausprobieren unterstützen, kommt es schnell zu Klärungsbedarfen in den Pastoralteams oder Gremien. Gewohnheiten und Visionen prallen aufeinander. Das Teilen von Verantwortung, Machtverzicht, das Aufweichen paternalistischer Strukturen führen zu Widerständen, aber die Klärung ist notwendig. Denn „nur, wenn wir es schaffen, Prozesse zu ermöglichen und auszuhalten, die wir nicht bis ins Letzte kontrollieren können und wollen, werden wir glaubwürdige Veränderungen in Gang setzen“ (Mundel/Mackert 2011, 135).
Aus Erfahrung können wir versichern: Da, wo ein Aufbruch ermöglicht wird, werden die Beteiligten nicht von Verunsicherungen belastet, sondern erfüllt von einer bewegenden Neugier, einer anderen Lebendigkeit, einer Vorfreude darauf, Neues zu erleben und zu erfahren.
Für solches Tun, für das Hinausgehen, für die Hinwendung zu Menschen, besonders zu jenen, die am Rande von Kirche oder Gesellschaft stehen oder ganz außerhalb, haben wir ein Vorbild: Genau das hat Jesus getan.
Praxisbeispiel: Ein „Laboratorium“ auf drei Rädern
Leider sind wir nicht mehr sehr geübt darin, rauszugehen und den Kontakt auf anderem Territorium zu suchen und dort Begegnungen zu schaffen. Wir müssen uns ausprobieren. Analog zu Barbara Mundels „Laboratorien“ brauchen wir Orte, an denen wir experimentieren, Versuchsanordnungen herstellen können. Das müssen nicht zwingend feste Orte sein.
Eine Vorgehensweise ist es, unterschiedliche Orte temporär aufzusuchen: Innenstädte, Stadtteilfeste, Stadtplätze oder auch Wohnheime für Geflüchtete oder für Obdachlose. Das tun einige der Engagementförder*innen, stellen etwa ein Sofa auf die Straße und laden die Menschen zu Kaffee und Gespräch ein.
In Remscheid-Lennep agieren wir manchmal im Stile einer „künstlerischen Intervention“ im öffentlichen Raum: Mit einer Piaggio Ape (dem italienischen motorisierten Dreirad) agieren ehrenamtlich Engagierte mit dem hauptamtlichen Engagementförderer auf Stadtteilfesten oder anderswo im Quartier. Die Ape ist mit wechselnden Werbeplanen bespannt, eine Plane ist z. B. mit „GEMEINDE TRIFFT“ und dem Logo der Kirchengemeinde bedruckt. Am Aktionsort packen wir Strandliegen, Kunstwiese und Sonnenschirme aus, bauen eine Szenerie, die neugierig macht, und unterbrechen die Alltagsroutine. Vorbeikommende Menschen laden wir ein, mit Fruchtcocktail im Liegestuhl Platz zu nehmen, sich der Alltagshektik zu entziehen. Über diese spielerische Arbeitsweise kommen wir in einen Austausch, etwa über die Frage: „Sind Sie schon mal baden gegangen?“ Rasch entwickelt sich ein Gespräch über Erfahrungen mit dem eigenen Scheitern. Weil die Leute spüren, dass wir ernsthaft an ihren Erzählungen interessiert sind, erfahren wir, was sie bewegt. Und unsere Gesprächspartner*innen erfahren im Verlaufe der Aktion, was uns bewegt. Ähnlich agieren wir auch im Park, vor einem Wohnheim oder auf dem Friedhof (etwa an Allerheiligen) und schaffen neue Begegnungen.
„Servicestellen Engagement“ sind Resonanzräume
Neben mobilen Aktionsformen errichten Engagementförder*innen auf anderem Territorium jenseits des Pfarrzentrums ganz neue Orte, die den Menschen signalisieren: Hier seid ihr willkommen, hier hört man euch zu, hier werdet ihr ernst genommen, hier könnt ihr Ideen einbringen und verwirklichen – wir helfen dabei.
Diese „Laboratorien“ heißen „Servicestellen Engagement“ und repräsentieren ein recht junges Modell im Erzbistum Köln. Die Servicestellen sind offene Schnittstellen zwischen Kirchengemeinde und Sozialraum, dabei sind sie unterschiedlich konzipiert – sie können in einem Ladenlokal in der Stadt beheimatet sein oder in einem Stadtteilzentrum gemeinsam mit kooperierenden Einrichtungen. Aber auch mobile Formate können ein Servicestellen-Engagement sein. Andere präsentieren sich virtuell im Netz und agieren zwischen Digitalität und Präsenz.
Im Idealfall wird die Struktur der Servicestelle in der Pfarrei gemeinsam von Engagementförderung, Pastoralteam, Pfarrgemeinderat und Kirchenverwaltung und ehrenamtlich Engagierten entwickelt. Diese Engagierten sind die eigentlichen Spezialist*innen, die wir brauchen. Ohne ihre Expertise bleibt die Gefahr groß, dass wir in den Kirchengemeinden in unseren Routinen verharren und nicht oder nur zögerlich aufbrechen zu einem Haltungswechsel. Mit ihrer Hilfe kommen wir raus aus unserer Wagenburg. Denn nicht unsere Konzepte machen Zukunft von Kirche aus, sondern es sind Menschen, die in der Lage sind, auf andere Menschen zuzugehen (vgl. Hillebrand 2021a). Wir brauchen ihre Erfahrungen, ihre Ideen, ihre Energie.
Warum sollten sie uns all das geben? Ausgerechnet sie, die wir womöglich lange nicht im Blick hatten, mit denen wir keinen Kontakt suchten? Vielleicht deshalb, weil sie spüren, dass wir es ernst meinen; dass wir an ihren Persönlichkeiten interessiert sind; dass wir wirklich lernen und uns verändern wollen.
Das können die Menschen erfahren in „Servicestellen Engagement“ oder ähnlich geeigneten Räumen. Im gelingenden Falle bieten wir den Menschen damit Resonanzräume. Auch jene, die kaum Gehör finden, die anders denken und leben, können sich hier ausdrücken. Wenn wir in der Praxis beweisen, dass hier Platz ist für Zweifel und Diskurs, für Fremdes und Irritierendes, dann werden die Menschen anders auf die Ortskirche schauen als bisher. Denn wir geben ihnen einen Raum, in dem sie eine Bühne haben, wo sie sich selber, ihre Persönlichkeit weiterentwickeln können. Wenn wir Freiräume bieten und nutzen, Spielräume erweitern, Denkräume öffnen, dann werden diese Räume zu Keimorten für eine neue Haltung in unserer kirchlichen Praxis (vgl. Hillebrand 2021a).
Unsere Erfahrung zeigt, dass Menschen, die ein Ungenügen an der Gesellschaft, an der Kirche oder am eigenen Leben empfinden und etwas verändern und tun wollen, solche geschützten Räume auch nutzen. Und dann entsteht vieles wie von selbst. Ausgehend von den Themen, Bedürfnissen, Leidenschaften der Leute bilden sich Gruppen, die sich fortan regelmäßig treffen. Selbsthilfegruppen, Kreativkreise, Hilfsinitiativen, Weltcafés, Bibelkreise, Literaturclubs und manches mehr.
Servicestelle in Lennep als Produktionsstätte künstlerischer Formate
Damit ist schon viel erreicht. In Remscheid-Lennep haben wir noch einen besonderen Ansatz: Wir verstehen unsere Servicestelle in einem Ladenlokal in der Lenneper Altstadt als Produktionsstätte. Hier sammeln sich unsere Erfahrungen aus den Begegnungen mit Menschen in den unterschiedlichen Formaten. Aus diesen Impulsen und Ideen entwickeln wir mit unseren neuen Kontakten eigenständige Kulturprojekte. Wir kombinieren eine Kultur des Empfangens, Zuhörens, des Zugehens mit Angeboten des Ermöglichens, der Transformation, des Spielens. Das motiviert Menschen, ihre Anliegen in Ausstellungen, Aufführungen, Performances und Medien wie Filmen, Podcasts oder Büchern zum Ausdruck zu bringen und zur Diskussion zu stellen.
Menschen, die wir und die sich zuvor oft nicht kannten, füllen diese künstlerischen Projekte mit Begeisterung und Leben aus. Wir agieren gemeinsam in Wohnheimen für Geflüchtete, in Vereinen, in Treffs für Senior*innen, im öffentlichen Raum, in der Servicestelle und anderswo. Schon mehrfach wurden diese immer in Kooperationen realisierten Arbeiten mit Preisen bedacht. Das interkulturelle und inklusive Kunstprojekt „MEIN GOTT, LENNEP!“ wurde 2022 in Kassel mit dem „Andere Zeiten Missionspreis“ ausgezeichnet. Für die Menschen verbindende, Energien und Mut freisetzende Arbeit „Weltort Lennep“ wurden uns 2019 in Essen der „Katholische Preis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus der Deutschen Bischofskonferenz“ und 2018 in Köln der „Lotsenpunkt Förderpreis“ verliehen.
Würden wir auf unserer „Kircheninsel“ verharren, hätte keine von diesen unzähligen Begegnungen stattgefunden, wäre keines unserer Projekte entstanden. Fruchtbare Begegnungen sind keineswegs ausschließlich dann möglich, wenn wir „uns auf den Weg nach draußen machen“. Auch in der Gemeinschaft der heiligen Messe, in Bibel- oder Familienkreisen und anderen gemeindlichen Formaten gelingt es. Aber in der Regel bleiben wir hier „unter uns“, im Vertrauten und Gewohnten. Neue Impulse und Ideen finden wir eher, wenn wir unser Territorium verlassen. Unsere Projekte wirken wie Sauerstoffzufuhren. Das hilft uns, ein neues, frischeres Bild von Kirche in der Gesellschaft aufblühen zu lassen. In helleren Farben kann es glaubwürdig erzählen von einer Kirche im Ort, die dem Quartier, den Menschen und ihren Lebenswelten zugewandt, aufrichtig interessiert, heutig, veränderungsfreudig, innovativ ist.
Zu sich selbst kommen
Im Kern haben wir es in der Engagementförderung mit dem Ermöglichen von spirituellen Erlebnissen zwischen Menschen zu tun. Wenn das Wirken des Heiligen Geistes in Begegnungen und im Tun von Menschen aufblitzt, erfahrbar wird – dann ist für einen Moment das soeben noch unmöglich Scheinende wirklich geworden.
Gleichwohl kommt es vor, dass wir gefragt werden: „Was habt ihr denn als Kirchengemeinde davon? Dieser ganze Aufwand! Kommen durch diese Arbeiten nun mehr Menschen in die Messe?“
Ist dies die richtige Frage? Oder fragen wir uns eher: „Was haben die beteiligten Menschen davon?“ Denn es ist doch der genuine Auftrag von Kirche, den Menschen nahe zu stehen, ihnen zu dienen (vgl. Hillebrand 2021a). Nicht aus einer allwissendenden, allzu selbstgewissen Position heraus, sondern als Begleitende auf Augenhöhe.
Das bedeutet doch nichts als: Wenn wir als Kirche unser Territorium verlassen, kann uns das zurückführen auf unser ureigenes Terrain. Weg von der Beschäftigung mit Regeln und Verboten, mit Machterhalt und Bürokratie, hin zu den Menschen. Jenseits des Territoriums kann uns mit neuen Menschen eine Neuaneignung unserer genuinen Aufgabe gelingen. Im Fortbewegen, in der Begegnung mit anderen findet Kirche auch wieder zu sich selbst.