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Verstreut, vernetzt, verbunden: Glaube und Spiritualität in digitalen Räumen

Es gehört zu unserer vielfältigen, individualisierten Gegenwart, dass glaubende Menschen sich mit ihrer persönlichen Spiritualität, ihrem Lebensstil und ihren Bedürfnissen nicht unbedingt in dem wiederfinden, was an ihrem Lebensort oder in erreichbarer Umgebung kirchlich angeboten und/oder möglich ist. Wie digitale Räume bieten können, was im Territorialen schwer möglich ist, zeigt Andrea Imbsweiler an zwei Beispielen.

Es ist eine Binsenweisheit: Das Internet kennt keine Grenzen (es sei denn, man errichtet sie, wie einige autoritäre Staaten, künstlich mit einigem technischen Aufwand) – schon gar keine kirchlichen. Für die Kirche mit ihrer territorialen Grundstruktur war das lange nicht leicht zu verstehen. Legendär ist die Frage eines Bistumsverantwortlichen angesichts der ihm präsentierten Nutzerzahlen eines beliebten kirchlichen Onlineangebots, wo man denn sehen könne, wie viele davon aus dem eigenen Bistum stammten, wohl aus dem Interesse, ob der finanzielle und personelle Aufwand dafür den Bistumsangehörigen oder vor allem „Fremden“ zugutekamen.

Nach dem aus der Not geborenen Boom von Online-Angeboten in der Corona-Zeit ist es für kirchliche Internetprojekte nun wieder schwieriger geworden: Wenn es doch wieder unbeschränkt möglich ist, in den Kirchen und Gemeindezentren zusammenzukommen, warum dann noch Ressourcen ins Digitale stecken?  Vor allem der gewohnte Betrieb in den Gemeinden vor Ort soll funktionieren, so gut es noch geht. Digitale Projekte laufen, wenn überhaupt, oft on top – zusätzlich, nebenbei, mit geringer Priorität oder gleich komplett ehrenamtlich ohne offizielle Unterstützung.

Dabei bieten digitale Formen die Chance, auch speziellere Interessen und Bedürfnisse zu bedienen, die lokal bzw. territorial nicht abzubilden sind. Dafür möchte ich zwei Beispiele vorstellen.

AufWind Lingualpfeife-Community: eine Art Online-Gemeindehaus

Hier stehen die Türen immer offen: Menschen treffen sich täglich zu Gebet, ernsthaften Gesprächen und lockerem Geplauder. Der Zugang ist grundsätzlich für alle frei; wer möchte, kommt herein und kann Gesprächspartner:innen und Gemeinschaft finden. Man tauscht sich über den Glauben aus und über das Leben. Wer das möchte, kann sich mit Fragen, Sorgen oder Anliegen vertraulich an Seelsorger:innen wenden. Viele bringen sich ehrenamtlich ein, um alles am Laufen zu halten und einen sicheren, angenehmen Raum für alle, die kommen, zu gewährleisten.

Das klingt nach einer Gemeinde, wie viele sie sich wünschen. Aber etwas ist entscheidend anders als etwa in der Pfarrei vor Ort: All das spielt sich nicht in einem Kirchenraum, einem Gemeindezentrum und/oder Pfarrhaus in der Stadt X oder dem Dorf Y statt, sondern online. Die Lingualpfeife-Community kommt aus dem gesamten deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) und trifft sich übers Internet auf einem Discord-Server, einer Plattform, die Schrift-, Sprach- und Videochats ermöglicht.

Ein weiterer Unterschied: Das Ganze ist nicht kirchenamtlich geplant, finanziert und verantwortet, sondern aus der Initiative von Menschen entstanden, die sich online um ein gemeinsames Thema gefunden und sich selbst weiter organisiert haben. Getragen wird die Community vom ehrenamtlichen Engagement der Mitglieder. Priester und andere Seelsorger:innen sind, gleichfalls ehrenamtlich, dabei und ansprechbar, haben aber keinen offiziellen Auftrag und auch nicht aufgrund ihres Berufs Leitungsaufgaben.

Gebildet hat die Gemeinschaft sich ursprünglich um den Youtube-Kanal von Ludwig Martin Jetschke (damals noch Student, mittlerweile Lehrer, und dazu Kirchenmusiker) im Kommentarbereich seiner Orgelvideos, die zunächst vor allem Orgel-, Kirchenmusik- und Liturgieinteressierte anzogen. In den Kommentaren entstanden Gespräche und Diskussionen; bald weiteten sich die Gesprächsthemen auf andere Glaubensfragen aus. Nachdem die Kommunikation in den Kommentaren immer umfangreicher wurde und sich ein starkes Gemeinschaftsgefühl bildete, zog die Community zuerst auf WhatsApp und schließlich, kurz vor der Corona-Pandemie, auf Discord um, wo verschiedene Kanäle Unterhaltungen zu verschiedenen Themengebieten, zum gemeinsamen Beten oder „einfach so“ erlauben. Zur Lingualpfeife-Community gehört aber auch, dass es nicht beim rein digitalen Kontakt bleibt, sondern immer wieder Mitglieder sich an einem Ort verabreden und „von Angesicht zu Angesicht“ begegnen, in größeren Abständen auch bei einem offiziellen Community-Treffen, dem sogenannten „LinguMeet“.

Die Corona-Zeit mit Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und dem Aussetzen von Gottesdiensten, dann die lange Zeit noch durch Hygienekonzepte und Abstandsgebote erschwerter Bedingungen für alle Treffen vor Ort war eine intensive Zeit für die Lingualpfeife-Community, in der fast jederzeit Kontakt und Gespräch möglich war und unter anderem auch viele Gottesdienste online gefeiert wurden, für die die Teilnehmer eigene Formen der Partizipation und Mitgestaltung entwickelten.

Heute, einige Zeit nach der Rückkehr einer Art von „Normalzustand“, ist in der Community weniger Betrieb. Das liegt sicher auch daran, dass die inzwischen rund 600 angemeldeten Mitglieder zu einem großen Teil durchaus auch in den Gemeinden vor Ort kirchlich präsent sind, dort Liturgie mitfeiern oder mitgestalten und sich engagieren. Ein Platz für Kontakt, Austausch und gemeinsames Gebet ist die Community aber nach wie vor. Sie ersetzt für viele nicht etwa die Anbindung an eine Ortsgemeinde, sondern ergänzt sie um Elemente, die dort fehlen oder in der dortigen Form für den Einzelnen nicht passen. Für andere ist sie der einzige Kontakt zu einer christlichen Gemeinschaft, den sie haben. Auf jeden Fall für die, die sich dort nach wie vor treffen und engagieren, bereichernd und wertvoll über das hinaus, was sie an ihren Wohn- und Lebensorten für sich finden – sonst kämen sie ganz einfach nicht.

Netzkloster: digitale Meditationsgemeinschaft

Ein digitaler Raum für analoge Meditation und Achtsamkeit, eine Schule und ein Treffpunkt für Menschen, die eine ganz bestimmte Form der Spiritualität in der Tradition christlicher Kontemplation und eine gemeinsame Übungspraxis pflegen – und das unabhängig vom Lebensort, unabhängig auch von konfessioneller Zugehörigkeit. Das ist die Idee des Netzklosters, das als FreshX von der evangelisch-methodistischen Kirche (EMK) der Schweiz getragen wird.

In der Stille sitzen und Beten kann man selbstverständlich auch allein, aber vielen Christen, die mit dem kontemplativen Gebet in Berührung gekommen sind und es z. B. im Rahmen eines Exerzitienkurses eingeübt haben, fehlt im Alltag die Bestärkung durch andere auf einem ähnlichen Weg. Entsprechende Meditationsgruppen gibt es bei weitem nicht überall. Für manche haben sich daher Online-Gruppen als hilfreich erwiesen, in denen sie digital verbunden gemeinsam meditieren und sich über die Erfahrungen mit ihrer Meditationspraxis austauschen können.

Einen solchen von überall her zugänglichen digitalen Treffpunkt bietet auch das Netzkloster an. Es veranstaltet zum einen (im Wesentlichen) online stattfindende Einführungskurse, zum anderen regelmäßig wöchentlich eine gemeinsame Meditationszeit und monatlich dazu eine Austauschmöglichkeit. Von Anfang an wurde dabei über die (deutschsprachige) Schweiz hinausgedacht. Im Rückgriff auf die gesamte kontemplative und mystische Tradition des Christentums spielen auch Konfessionsgrenzen hier keine Rolle.

In vielen Punkten ist das Netzkloster geradezu gegensätzlich zur Lingualpfeife-Community: hier ein offiziell kirchliches Angebot unter professioneller Leitung, sehr fokussiert auf feste Zeiten und eine bestimmte Spiritualitätsform, in seinem Auftritt in einer sehr modernen Ästhetik durchgestaltet – dort der selbstorganisierte Freiraum mit vielen verschiedenen Möglichkeiten, Leben und Glauben zu teilen.

Im Kern aber geht es bei beiden Angeboten darum, Menschen mit bestimmten Interessen und Bedürfnissen, für die sie an ihrem Lebensort keinen Raum und/oder keine bzw. zu wenig Gleichgesinnte finden, digital zusammenzubringen und so Gemeinschaft im Glauben zu ermöglichen, egal ob ergänzend zur Präsenz in einer örtlichen Gemeinde oder als mehr oder weniger einziger Andockpunkt an christlicher Gemeinschaft.

Digitale Perspektiven für eine territorial denkende Kirche

Die Beispiele zeigen, wie digitale Gemeinschaftsformen Glaubenden in ihrer Spiritualität und ihrer Lebensgestaltung Gemeinschaft und Unterstützung bieten können, die sie vor Ort nicht finden. Das wäre gerade in einer Zeit, wo das eher schwindende Angebot in den Gemeinden immer weniger die vielfältigen Interessen und Vorstellungen abbilden kann, ein guter Grund für die Bistümer, sich in diesem Bereich weiter und verstärkt zu engagieren.

Die Lingualpfeife-Community hat sich ohne offiziellen Auftrag in Eigeninitiative und selbstorganisiert entwickelt. Das ist bemerkenswert und an sich vielleicht schon Hoffnungszeichen und Modell für die Zukunft. Vielleicht wäre es aber trotzdem eine gute Idee, solche Initiativen – falls und soweit die Gemeinschaften selbst das überhaupt wollen – auch seitens der Bistümer nach Möglichkeit zu unterstützen (allerdings ohne sie dabei unter Kontrolle bringen zu wollen!) und damit die Vielfalt christlichen und kirchlichen Lebens zu stärken.

Das Beispiel des Netzklosters zeigt eine Art von kirchlichem digitalen Engagement, das die Unterstützung einer persönlichen Spiritualität und Gottesbeziehung in den Vordergrund stellt, nicht das klassische Gemeindeleben. Von Anfang an wurde dabei über die (deutschsprachige) Schweiz als Zuständigkeitsbereich der EMK hinausgedacht. Ebenso steht die konfessionelle Prägung ganz im Hintergrund gegenüber der gemeinsamen spirituellen Tradition des Christentums, das Angebot richtet sich nicht primär an die eigenen Mitglieder und versucht auch nicht, Mitglieder zu gewinnen.

Den Bistümern und allen Kirchen ist der Mut zu wünschen, dass sie sich von der Digitalität immer mehr inspirieren lassen, über territoriale (und andere) Grenzen weit hinauszudenken, und so neue Wege und Formen christlichen Lebens für die Zukunft zu ermöglichen und zu unterstützen.