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Territoriale versus kategoriale Seelsorge – Modelle der Zukunft?

Die klassische Diastase von territorialer und kategorialer Pastoral führt in den sich verändernden Kontexten der Seelsorge nicht weiter. In der zukünftigen Pfarrei wird dezentral mehr Verantwortung wahrgenommen werden für die Organisation und Gestaltung von Pastoral durch Generalisten und Spezialistinnen gleichermaßen und in gegenseitiger Zuordnung, je nach Kontexten und Gaben.

Frau Schmitt und Frau Meier

Zunächst möchte ich Ihnen einen fiktiven „idealtypischen“ Tag zweier Seelsorgerinnen vorstellen, wie er an vielen Orten in Deutschland stattfinden könnte:

Um 8:00 Uhr beginnt der Morgen von Frau Schmitt mit dem Religionsunterricht in der örtlichen Grundschule. Im Anschluss trifft sie sich als geistliche Begleiterin zum Arbeitsfrühstück mit dem ehrenamtlichen Leitungsteam der örtlichen Frauengruppe. Als nächstes steht ein Trauergespräch mit der Familie des kürzlich verstorbenen Altbürgermeisters im Kalender. Kurz nach 12:00 Uhr geht sie im Pfarrbüro vorbei und gibt Rechnungen ab. Sie nimmt die neuen Formulare für die Aufwandsentschädigung für Ehrenamtliche mit, die sie später durchlesen wird. Nach einer Mittagspause trifft sie mit dem ehrenamtlichen Team „Katechese“ letzte Absprachen zum anschließenden Weggottesdienst in der Kirche für die 25 Kommunionkinder und deren Familien. Im Supermarkt beim Einkauf begegnet sie Herrn Wischnewski. Im Gespräch wird ihr deutlich, dass der alte Mann seit dem Tod seiner Frau zunehmend vereinsamt und leicht verwahrlost wirkt. Sie ruft deswegen von zu Hause aus Herrn Zimmermann an, der sich im Gemeindeteam um soziale Fragen kümmert, und bittet ihn um eine sensible Kontaktaufnahme. Am Abend steht die vermutlich kritische Sitzung im Pfarrgemeinderat an, in der u. a. über die zukünftige Nutzung von Kirchen und Gemeindezentren sowie über anstehende Veränderungen bei der kirchlichen Sozialstation diskutiert wird.

Ihre Kollegin, Frau Meier, startet den Arbeitstag gemeinsam mit ihrem evangelischen Kollegen. Sie besprechen miteinander, wer heute auf welcher Station im Krankenhaus unterwegs sein wird. Es steht auch die nächste Sitzung des Ethikkomitees zum Thema „assistierter Suizid“ an. Die beiden Seelsorgenden stimmen nochmals ihre Positionen ab und die Perspektive, die sie aus Sicht der Klinikseelsorge einbringen wollen. Beim Besuch am Krankenbett von Herrn Yilmaz wird deutlich, dass er unsicher ist, wie es für ihn als alleinstehende Person nach dem Krankenhausaufenthalt weitergehen soll. Frau Meier nimmt Kontakt zum Sozialdienst auf. Eine Sozialarbeiterin besucht trotz dichten Terminkalenders daraufhin Herrn Yilmaz und kann die wichtigsten Fragen klären. Um 12:00 Uhr leitet Frau Meier den Mittagsimpuls in der Klinikkapelle. In der Mittagspause kommt sie mit den Pflegekräften ins Gespräch und erfährt, dass sich die Pläne zur Fusion des Krankenhauses mit einer anderen Klinik verdichten. Die Pflegenden berichten von ihren Ängsten, zusätzlich zum anstrengenden Pflegealltag. Frau Meier bespricht sich mit dem evangelischen Kollegen. Sie beschließen, einen Termin mit dem kaufmännischen Direktor zu vereinbaren, um die Sorgen der Mitarbeitenden zu thematisieren. Die Sitzung des Ethikkomitees dauert länger. Frau Meier kann nicht bis zum Ende bleiben, da sich die Intensivstation meldet und darüber informiert, dass ein Kind, das bei einem Unfall schwer verletzt wurde, trotz aller Bemühungen gestorben ist. Die verzweifelten Angehörigen benötigen Beistand.

Die müßige Frage nach der „eigentlichen“ Seelsorge

Am nächsten Tag findet eine Dekanatskonferenz statt. Die beiden Frauen tauschen sich zum Thema Seelsorge der Zukunft aus. Frau Meier als Klinikseelsorgerin verweist auf das Beispiel Jesu und auf Gedanken von Papst Franziskus. Sie erklärt, dass die „eigentliche“ Seelsorge an Orten wie Krankenhäusern, Gefängnissen oder Altenheimen geschehe. Dort sei Kirche bei Menschen „am Rande“ unterwegs und ganz bei den Sorgen und Nöten der Einzelnen. Im Gegensatz dazu sei jede andere Seelsorge nur in einer kirchlichen Binnenblase unterwegs und verliere die Bedürfnisse der Menschen schnell aus dem Blick. Sie schließt mit der Aussage, dass dort nur ein überkommenes Programm abgespielt werde und nicht wirklich Seelsorge stattfinde. Weiter betont sie ihre eigene Professionalität, aufgrund von Zusatzausbildungen im Bereich der Gesprächsführung und von ethischen Fragestellungen erworben, die sie zur Seelsorge besonders qualifizierten.

Frau Schmitt ist über die Positionen ihrer Studienfreundin bestürzt und wirft ihr vor, dass sie sich letztlich in eine Nische zurückgezogen hat, in der sie sich in möglichst großer Distanz zum sonstigen kirchlichen Alltag, seinen Herausforderungen und Stresssituationen bequem eingerichtet hat.

Um die Situation zu entspannen, wird der ehrenamtliche Dekanatsratsvorsitzende, der beruflich im Management eines Unternehmens tätig war, gebeten, aufgrund der geschilderten Arbeitstage zu entscheiden, wo aus seiner Sicht die Botschaft des Evangeliums stärker gelebt und verkündet wird. Zugegeben, so deutlich werden die „Kämpfe“ zwischen kategorialer und territorialer Seelsorge selten ausgetragen. Aber wie würde die Antwort des Gremienvorsitzenden wohl aussehen? Es lässt sich vermuten, dass er die Frage nicht versteht. Die Begriffe territorial und kategorial, verbunden mit „Seelsorge“, sind heute außerhalb von kirchlichen Berufsverbänden, Ordinariaten bzw. Generalvikariaten nahezu unbekannt. Der angedeutete Gegensatz erschließt sich nicht aus sich selbst, da Seelsorge in der Regel (außer in digitalen Formaten) an einem konkreten geografischen Ort geschieht, also territorial. Im skizzierten Beispiel ist dies ein Krankenhaus bzw. eine Kommune; in der Notfallseelsorge ist es der Landkreis usw. Auch der Begriff „kategorial“ sagt alles und nichts. Ist Jugendseelsorge eine themenorientierte und damit kategoriale Seelsorge oder geschieht sie in einer Pfarrei und damit territorial? Sind Zielgruppen immer kategoriale Seelsorge? Bin ich dann als Mensch mit einer Hörschwäche ausgeschlossen von der territorialen Seelsorge, da ich der Zielgruppe „Seelsorge für Menschen mit Behinderung“ zugerechnet werde? Was sind Orte von Seelsorge – das Pfarrhaus, die Kirche und das Gemeindezentrum – das Familienzentrum aber schon nicht mehr? Und ehrlich: Wem würden diese Zuordnungen überhaupt helfen? Am Ende stellt sich damit auch die Frage, ob ein Bereich von sich sagen kann, dass er die „wirksamere“ Seelsorge im Sinne des Auftrages Jesu darstellt.

Seelsorge erfordert gleichermaßen Beziehungen und Kenntnisse

Im Prozess Kirchenentwicklung 2030 der Erzdiözese Freiburg wurde 2019 in einer ersten Phase die Frage der Zukunft territorialer und kategorialer Seelsorge intensiv in einer sogenannten Fachgruppe diskutiert. Auftrag war u. a., einen Vorschlag zur Zukunft der kategorialen und territorialen Seelsorge zu erarbeiten. Schnell wurde deutlich, wie wenig eine Unterscheidung hier zukunftsweisend ist. Es entstand eine Diskussion zur Frage, was Seelsorge kennzeichnet, ähnlich wie es das Dokument der Deutschen Bischofskonferenz „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“ darlegt. Die Überlegungen konnten an eine Arbeitsgruppe zur Vision und diözesanen Strategie weitergegeben werden, so dass im aktuellen Leitbild des Erzbistums formuliert wurde: „Wir glauben der Frohen Botschaft, die uns in Jesus Christus offenbart wurde. Er bezeugt uns die umfassende Liebe Gottes, die offen ist für alle Menschen und niemanden ausschließt. Sie ist uns Maßstab, in gleicher Weise unsere Beziehungen mit anderen zu leben.“

Beiden Bereichen, der „kategorialen“ wie auch der „territorialen“ Seelsorge, ist gemeinsam, dass sie von Beziehungen ausgehen und spezifische Kenntnisse im jeweiligen System benötigen. Die Klinikseelsorgerin muss sich im System Krankenhaus auskennen und akzeptiert sein, da sie sonst weder die Nöte der Mitarbeitenden oder von Patienten kennenlernen noch Lösungen ermöglichen kann. Gleiches gilt aber genauso für die Seelsorgerin in der Gemeinde. Auch sie muss Akzeptanz besitzen und die Menschen vor Ort kennen. Dabei ist deutlich geworden: Es braucht jeweils eine gute professionelle Basis. In der Erzdiözese Freiburg ist dies bis heute eine entsprechende pastorale Ausbildung. In der „klassischen“ Pfarrseelsorge lässt es sich unmittelbar auf dieser Basis tätig sein. In vielen „kategorialen“ Handlungsfeldern werden aber weitere Spezialausbildungen gefordert (Klinische Seelsorgeausbildung, Kurs zur Notfallseelsorge u. Ä.). Das Beispiel oben zeigt aber, wie viele unterschiedliche Zielgruppen, Themen und Anforderungen an einem einfachen Tag auf die Personen jeweils zukommen. Die Perspektive kann deswegen nicht sein, für die „kategoriale“ Seelsorge auf eine spezifische, professionelle Zusatzausbildung zu verzichten, sondern stattdessen, auch im Bereich der „territorialen“ Seelsorge, zu überlegen, zu welchen Themen es ebenfalls vertiefende Weiterbildungen benötigt, so dass Verkündigung, Feier der Liturgie, der diakonische Auftrag, das Zusammenleben als Gemeinschaft oder die Bearbeitung von Konflikten in der Pfarrei entsprechend aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse geschehen und nicht auf der Basis einer Ausbildung, die eventuell Jahrzehnte zurückliegt.

Dafür bietet es sich an, im Anschluss an einen von Matthias Sellmann geäußerten Vorschlag zukünftig von Generalisten und Spezialisten zu sprechen. Beide Begriffe sind an allgemeine gesellschaftliche Kontexte anschlussfähig und aussagekräftiger als die bisherigen. Allrounder, die bei unterschiedlichsten Zielgruppen und Themen in einer großen Bandbreite von Aufgaben gefordert sind, verdienen hierfür genauso Respekt wie Spezialistinnen, die sich in einen kleinen Ausschnitt pastoraler Handlungsfelder in die Tiefe eingearbeitet haben.

Seelsorge in einer subsidiären Systematik

Im Prozess Kirchenentwicklung 2030 der Erzdiözese Freiburg ist Subsidiarität das Leitsystem der Organisation. Dies bedeutet, dass Seelsorge immer „von unten nach oben“ aufgebaut wird. Diözesane Steuerung steht damit verbunden immer unter der Prüfung, ob sie wirklich der unmittelbar verantwortlichen und handlungsfähigen Einheit dient. Die Grundannahme ist, dass Seelsorge im geografischen Raum der Pfarreien geschieht und dort die entsprechende Verantwortung liegt, weil hier mutmaßlich die größte Kenntnis zu lokalen Fragen und Bedürfnissen vorhanden ist. Diese Verantwortung beinhaltet ebenfalls den Blick auf die „Spezialorte und ‑themen“. Eine durchschnittliche Pfarrei der Erzdiözese wird bei ihrem Start am 1.1.2026 etwa 50.000 Katholikinnen und Katholiken, ca. 1000 ehrenamtlich Engagierte, 25 Kindertageseinrichtungen, fünf öffentliche oder private Krankenhäuser, jeweils drei kirchliche Sozialstationen und kirchliche (Alten-)​Pflegeheime, einen Wallfahrtsort, eine große Anzahl an öffentlichen Schulen unterschiedlichen Typs usw. umfassen. Es wird vor Ort gemeinsam mit den ehrenamtlichen Verantwortungsträgern entschieden werden, wie diese Handlungsfelder in der neuen Pfarrei verortet werden und mit welchen Ressourcen sie jeweils ausgestattet werden. Die neuen Pastoralteams mit durchschnittlich 23 pastoralen Mitarbeitenden erlauben es, sowohl Generalisten als auch Spezialisten hinreichend Raum zu geben. Wie in Modellprojekten bereits erprobt, wird es z. B. beim Religionsunterricht möglich werden, statt kleinteiliger Unterrichtszuteilungen für alle Spezialisierungen für Schulseelsorge oder größere Deputate für Einzelne zu schaffen. Ähnliches könnte im Bereich der Katechese erfolgen. Erfolgreiche Modellprojekte von Ehrenamtskoordination und Engagemententwicklung sprechen z. B. für eine Spezialisierung in diesem Bereich.

Neue Herausforderung: Gestalten und Lernen in Teams

Mit dem Verzicht der Unterscheidung von territorialen und kategorialen Handlungsfeldern ist auch die Absicht verbunden, dass in den Teams ein gegenseitiges Lernen und eine Reduzierung von blinden Flecken erfolgt. Erweitert man den Blick über die Gruppe der pastoralen Mitarbeitenden hinaus auf das Thema multiprofessioneller und multikompetenter Teams, so wird deutlich, dass ein „Pastoralteam“ der Zukunft bunt sein wird und durch den jeweiligen professionellen Blick auf den geografischen Raum und nicht durch eine unabhängig davon vorgenommene thematische Abgrenzung arbeitet.

Der geografische Raum bzw. das Territorium wird auch in Zukunft eine Ordnungsgröße bleiben, da hier die Gesamtorganisation der Ressourcen (Menschen, Räume, Finanzen) und die Gesamtverantwortung liegen. Das Territorium zwingt aufgrund der Größe und damit verbunden der Vielzahl an Menschen und Themen zu einer Überprüfung und Veränderung bisheriger Routinen. Es bietet die Chance, sich entsprechend der diözesanen Ziele (Diözesanstrategie) neu zu orientieren und alte Muster und Kategorien hinter sich zu lassen.

Trotzdem ist allen Verantwortlichen bewusst, dass es um einen Übergang geht: Die Anzahl der (möglichen) pastoralen Handlungsorte wie Krankenhäuser, Altenheime etc. wird bleiben. Abnehmen wird die Zahl sowohl der bezahlten wie auch der ehrenamtlich Engagierten in einer Pfarrei. Abnehmen werden vermutlich auch die rein kirchlich genutzten Handlungsorte wie Kirchen oder Gemeindezentren. Durch die ab 2026 startende gemeinsame Verantwortung, die Zusammenarbeit im Team sowie die Erweiterung der Verantwortungsbereiche des Pfarreirates können zunächst Erfahrungen und Kenntnisse über alle Handlungsfelder hinweg gesammelt werden. Damit werden sich bei zukünftigen Schwerpunktsetzungen die jeweils vorhandenen Ressourcen und Chancen in einen guten Abgleich bringen lassen.