Inhalt

Seelsorge nicht von den Grenzen her denken!

Ein Zwischenruf

Angesichts der Herausforderungen struktureller Veränderungen in der Kirche gilt es, zum einen Seelsorge erreichbar zu gestalten und sie zum anderen nicht von territorialen Grenzen her zu denken. Dieser Beitrag soll eher als Zwischenruf verstanden werden, nicht als Rezept oder Patentlösung, die unsere Personal- und Finanzschwierigkeiten zu lösen imstande ist.

Strukturreformen mit Stift und Landkarte?

Seit Jahrzehnten begleiten Strukturveränderungen in der Pastoral die in den (Erz-)​Diözesen tätigen Verantwortungsträger:innen auf allen Ebenen. Der Mangel an Personal und an den nötigen finanziellen Ressourcen nötigt die Verwaltungen der Diözesen dazu, bisherige Strukturen zu reformieren, Pfarreien zusammenzulegen oder deren Grenzen zu erweitern. Da auch die Zahl der Mitglieder der Kirche und insbesondere der aktiv an den kirchlichen Angeboten teilnehmenden Menschen zurückgeht, scheint sich rein mathematisch das Verhältnis von Hauptamtlichen in der Seelsorge und den Gläubigen gar nicht so stark zu verändern. Die praktische Erfahrung mit den Strukturreformen in den (Erz-)​Diözesen Deutschlands zeigt jedoch, dass die Menschen gewohnte Bezugsgrößen nicht gerne zurücklassen. Strukturveränderungen, die von den Initiator:innen der Veränderungen „auch als Chance“ verstanden werden sollen, greifen offenbar doch mehr in das Lebens- und Glaubensgefühl der Menschen ein, als man meinen möchte.

Wenn Bischöfe und die Verantwortungsträger:innen in den Diözesen Strukturreformen in Angriff nehmen, dann ist die Versuchung groß, erst einmal zu Stift und Landkarte zu greifen. „Die Kirche darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen“ – so lautet die unverrückbare Vorgabe. Dabei ist dieses Anliegen grundsätzlich berechtigt, denn Seelsorge sollte für die Menschen erreichbar bleiben.

Die möglichst barrierefreie Erreichbarkeit von Seelsorge ist aber etwas anderes als jene Vorstellungen, die mit dem Territorialprinzip noch zumindest den Schatten jener Feudalzeiten verbinden, in denen der Pfarrherr neben der weltlichen Herrschaft ein bestimmtes Gebiet sein Eigen nennen konnte, zumindest was die dort wohnhaften Seelen anging. Man war „Pfarrer von …“ und die Identifikation mit dem Territorium als solchem war bei den Geistlichen in der Regel sehr groß. Diese Haltung sollte man aus heutiger Sicht nicht verurteilen. Diese Zeiten waren von einem hohen Verantwortungsbewusstsein der Pfarrer für „ihr“ Territorium geprägt. Man sorgte sich, wenn Menschen nicht mehr zum Gottesdienst kamen, und empfand physischen Schmerz, wenn die Zahl der Osterbeichten zurückging.

Entgrenzungen allenthalben

Inzwischen sieht unsere Gesellschaft aber ganz anders aus und ist von Vielfalt geprägt: religiös, konfessionell, weltanschaulich. Es gibt nahezu kein – wie auch immer – umgrenztes Gebiet, in dem die Bevölkerungszahl auch nur annähernd der Zahl der dort lebenden Katholik:innen entspricht. Als katholischer „Pfarrer von“ teile ich mir die Zuständigkeit in Sachen Religion auf demselben Territorium mit evangelischen Pastor:innen, Imamen und anderen Religionsvertreter:innen.

Die Erfahrung mit den Strukturreformen in den letzten Jahren und Jahrzehnten zeigt, dass es nicht gelungen ist, alte Strukturen einfach durch neue zu ersetzen. „Pfarreien neuen Typs“ oder andere Bezeichnungen für größere Seelsorgeräume konnten die Pfarreien alten Typs nicht wirklich ersetzen. Bei den Menschen leben die alten Strukturen weiter, und wenn nicht durch einen radikalen Schnitt Kirchen verkauft oder ersatzlos abgerissen werden, sehen sie keinen Anlass, in den neuen Seelsorgeräumen genauso zu denken und zu empfinden, wie sie das in der klassischen Pfarrei getan haben. Kurz: Die Pfarrei ist nicht tot, ebenso wenig nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Pfarr‑Gemeinden, die sich auf der Grundlage der Gemeindetheologie am Ideal einer „lebendigen Gemeinde“ orientierten. Die neuen und größeren Strukturen haben die alten nicht einfach ersetzt, vielmehr sind neue Organisationsformen dazugekommen. Die Leiter von Pfarrverbänden und Pfarreien können viele Geschichten davon erzählen, wie unterschiedlich sich ihre jeweilige Rolle in den einzelnen Pfarreien gestaltet, je nach den Traditionen in diesen Pfarreien.

Umso mehr scheint es mir wichtig, Seelsorge bei den sicher notwendigen Wandlungsprozessen nicht von den Grenzen her zu denken. Bei einem starren Festhalten am kirchenrechtlich vorgegebenen Pfarrprinzip, bei dem immer ein Priester an der Spitze einer Verwaltungseinheit – welcher Größe auch immer – stehen muss, dürfen wir den Menschen nicht böse sein, wenn sie weiterhin in den für sie wichtig gewordenen traditionellen Grenzen denken.

Seelsorge ist ein ganzheitliches und mehrdimensionales Interaktionsgeschehen

Im März 2022 haben sich mit dem Papier „In der Seelsorge schlägt das Herz der Menschen“ die deutschen Bischöfe – in diesem Umfang erstmalig – zur Seelsorge geäußert.

Bei dem Papier fällt auf, dass für kirchliche Seelsorge eine ganze Reihe von Koordinaten wichtig sind. Seelsorge wird als ganzheitliches und mehrdimensionales Interaktionsgeschehen in einer pluralen Gesellschaft verstanden, in dem die Feier der Sakramente entlang der Biografien der Menschen ebenso zentral ist wie die Nähe zu den Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen. Dabei sind Räume und Orte wichtig, um eine sich an Qualitätsstandards orientierende Seelsorge zu ermöglichen. Seelsorge muss sich auch abgrenzen gegenüber missbräuchlichen Formen.

Die territoriale Abgrenzung von Seelsorge spielt jedoch in dem Papier eine untergeordnete Rolle. Dies korrespondiert mit den zahlreichen Ansätzen, als Bezugsgröße für das seelsorgliche Agieren den Sozialraum zu sehen. Dem liegt das Verständnis zugrunde, dass ein Team von Seelsorger:innen erreichbar ist für die Menschen im Sozialraum und deren seelsorgliche Bedürfnisse von der Feier der Sakramente über das Einzelgespräch bis zum Treffen von Jugendgruppenleiter:innen oder dem Senior:innenclub.

An diesem Ansatz gibt es auch massive Kritik von theologischer Seite. Der Sozialraum sei schließlich keine kirchliche Größe. Dem ist entgegenzuhalten: Das soll er auch nicht sein und werden. Er ist nicht die „Pfarrei neuen Typs“, er ist nicht der Raum, mit dem wir neue Grenzen setzen und in den wir alte Vorstellungen von kirchlicher Hoheit über Territorien hineinprojizieren könnten. Das liegt in erster Linie daran, dass es je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Sozialraumdefinitionen gibt. Eine verbindliche Verständigung über exakte Grenzen eines Sozialraums wird es daher nicht geben, allenfalls pragmatische Lösungen wie die vorhandenen Stadt- oder Landkreisgrenzen.

Feststellbar sind aber gemeinsame Themen aller in einem Gebiet wirkenden gesellschaftlichen „Player“, die auf die Menschen in einem Sozialraum schauen.

Zukunftsmusik: Verbindlichkeit und Vernetzung

Für das kirchliche Wirken bedeutet das: Pastorales Handeln im Sozialraum setzt die Verzahnung von territorialen und kategorialen Strukturen der Seelsorge und die Vernetzung von Seelsorge, Caritas und Bildung voraus.

Wenn wir Seelsorge nicht von den territorialen Grenzen her definieren, bedeutet das nicht, dass es keine definierten Aufgaben für die Seelsorger:innen gibt. Im Gegenteil: Es braucht für alle in der Seelsorge Wirkenden verbindliche Aufgabenzuschnitte. Eine, wenn auch oft nur gefühlte Allzuständigkeit für immerzu wachsende Territorien erhöht die Berufszufriedenheit der hauptamtlichen Seelsorger:innen nicht. Und auch die nicht hauptamtlich in der Kirche Engagierten brauchen verlässliche Bezugsgrößen ihres Engagements. Sie verstehen sich ungern als schnell einspringende Lückenbüßer für das hauptamtlich nicht mehr Leistbare.

Das kirchliche Wirken in Sozialräumen erfordert sicherlich einen gravierenden Prozess des Umdenkens. Anders als bei einem territorial bestimmten Wechsel der Bezugsgröße („Wir gehören jetzt zu …“) ist dieser Paradigmenwechsel aber ein Wechsel der Arbeitsweise und somit prinzipiell erlernbar.

Wenn es uns gelingt, diesen Umdenkprozess zu gestalten, Seelsorge nicht von territorialen Grenzen her zu definieren und uns gleichzeitig der Herausforderung zu stellen, die Erreichbarkeit von Seelsorge in der Fläche zu gewährleisten, werden wir gewiss nicht alle strukturellen Probleme der katholischen Kirche in unserem Land lösen. Wenn wir beim Planen und Gestalten von Seelsorge zunächst einmal Stift und Landkarte aus der Hand legen, könnte es gelingen, Reibungsverluste durch Konflikte um neue Grenzziehungen zu vermeiden. Wir könnten uns freimachen von der Notwendigkeit, alle paar Jahre anhand der Zahl der jeweils „leitungsfähigen Pfarrer“ neue Grenzen zu ziehen und für die Menschen neue Bezugsgrößen zu schaffen, in die sie sich nur schwer einpassen möchten.

Die sich am Sozialraum orientierende Seelsorge will die „vor Ort“ kirchlich Engagierten für die gesellschaftliche Vielfalt des Raumes sensibilisieren, in dem sie schon wohnen.