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Raus aus dem Aquarium und hinaus aufs offene Meer!

Ein Gespräch über pastorale Arbeit in Gemeinde, Strafvollzug und Polizei

Jemand, der sowohl in der Territorialseelsorge als auch in zwei gesellschaftlich relevanten Feldern der Kategorialseelsorge arbeitet, darüber hinaus noch in einem besonders säkularen Umfeld in Sachsen, ist Gemeindereferent Benjamin Braun. Er lässt teilhaben an seinen Erfahrungen und Reflexionen über Rahmenbedingungen und Ziele der kirchlichen Pastoral. Ihm geht es nicht so sehr um die Frage, ob das im Territorium oder in der Kategorie stattfindet; vielmehr zeigt Braun, dass es um die ehrliche Begegnung mit Menschen und um Möglichkeiten der Begleitung, Reifung und Persönlichkeitsbildung geht.

εὐangel:

Herr Braun, Sie arbeiten als Gemeindereferent sowohl in der Pfarrei als auch in der Gefängnisseelsorge und Polizeiseelsorge, also in kategorialen Feldern. Welche Aufgabenfelder haben Sie in diesen Bereichen?

Braun:

Ich bin mit 50 % Stellenumfang in der Pfarrei Heilige Familie in Zwickau, die mittlerweile acht Gemeinden umfasst, und jeweils zu 25 % in der JVA-Seelsorge in der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben und in der Polizeiseelsorge für die Polizeidirektion Zwickau mit Schwerpunkt berufsethischer Unterricht an der Polizeifachschule in Schneeberg beauftragt. In der Pfarrei ist mein Dienst schwerpunktmäßig die Begleitung der Gemeinde in Crimmitschau. Dort vor allem die Jugendarbeit, weil ich das für sehr zukunftsträchtig halte und weil man dazu beitragen kann, dass junge Menschen sich orientieren können.

εὐangel:

Was ist Ihnen dabei wichtig?

Braun:

Nicht nur in der kirchlichen Jugendarbeit erlebe ich eine im Vergleich zu früher stärkere Ich-Bezogenheit. Das ist einerseits gut: in mich reinzuhören, was mir guttut, für seelische, geistige und physische Gesundheit zu sorgen und mich selbst zu reflektieren. Nur durch diese Reflexion kann sich ein Mensch persönlich weiterentwickeln. Der Nachteil ist natürlich, dass man Mitmenschen eher weniger sieht und für das Gegenüber weniger Aufmerksamkeit und Engagement da ist. Die Nächstenliebe als Kernbotschaft des Evangeliums heißt: Ich soll auch meinen Nächsten unterstützen und helfen, ihn oder sie voranzubringen. Das kann ich aber aus meiner Sicht heraus nur, wenn ich selber gesund bin.

Ein anderer Aspekt ist eine gewisse Dienstleistungsmentalität – nicht nur in der Kirche. „Ich zahle GEZ-Gebühren, dann will ich auch ein Programm, das mich interessiert. Ich zahle Kirchensteuer und was bekomme ich dafür?“ Ich setze mich aber eher dafür ein, dass Menschen selber aktiv werden und sich gemeinsam mit anderen beteiligen, um etwas zu bewirken.

εὐangel:

Sie beschreiben für die Jugendarbeit in der Gemeinde die Nächstenliebe als Zentrum vom Evangelium. Wie ist das in den anderen beiden Arbeitsfeldern?

Braun:

Wenn ich das so betrachte, sind es drei hochspezialisierte Milieus, mit denen ich arbeite: die Jugendlichen, die wir versuchen, in einem christlichen Kontext beim Aufwachsen zu begleiten, die Polizei, hochspezialisierte Einsatzkräfte, die ihre Dienstordnung oder ihre Gesetze haben. In der JVA habe ich mit Straftätern und auch mit Bediensteten zu tun. In all diesen Bereichen werden unterschiedliche „Sprachen“ gesprochen; ich muss als Seelsorger also andauernd Übersetzungsleistungen vollbringen. Für mich ist jedenfalls die Frage: Wird in diesen drei Feldern einfach ein Schwarz-und-Weiß-Denken im Sinne der Ordnungen umgesetzt oder sehen Menschen die Grauzonen und die Entwicklungspotenziale, die sie haben? Was heißt es für einen Jugendlichen, Nächstenliebe zu praktizieren und sich auch selbst zu lieben? Jugendliche sind immer mehr mit Idealbildern konfrontiert: Wie muss ein Mensch aussehen, was muss er anziehen, wie viel Geld muss er haben etc.? Da liegt ein großer Spannungsbogen vor und Jugendliche suchen dann Orientierung und probieren, das mit christlichen Werten zu verbinden. Sie sind oft unsicher, weil alles und jeder an ihnen zieht. In der Gemeinde heißt es oft: „Die Jugend macht ja gar nichts für die Gemeinde!“ So werden Jugendliche von manchen Gemeindemitgliedern nur in einer bestimmten mangelorientierten Sichtweise wahrgenommen, nicht in den persönlichen Prozessen, die dort ablaufen. Ich möchte die Jugendlichen schützen vor solchen Forderungen. Ich mache die Erfahrung, dass die Kirche gerne den kleinen Finger nimmt, dann die Hand, dann den Arm und dann die ganze Person. Und ich möchte nicht, dass Glauben mit mühsamer Arbeit assoziiert wird. Glaube soll Spaß machen, soll lebendig sein, das soll auch einen gewissen Gehalt kriegen.

Die Feier in der Liturgie ist für mich ein Beispiel: Mit einer Feier verbinde ich Freude und Wohlbefinden, ich bin in einer Gemeinschaft aufgehoben und getragen. Wenn ich bei der Eucharistiefeier manchen Menschen in das Gesicht schaue, dann sieht das nach absoluter Routine aus, vielleicht nach Gelangweiltheit, weil es immer Schema F ist. Dann kann es auch bei Jugendlichen Langeweile auslösen, weil da keine Begeisterung da ist.

εὐangel:

Wie erleben Sie das in Ihren anderen Arbeitsfeldern, den kategorialen?

Braun:

In der Justizvollzugsanstalt (JVA) haben die Menschen meistens keine Vorstellung von Glauben und Kirche. Manchmal muss ich Vorbehalte und Klischees aus dem Weg räumen. Eine Grundneugier ist eigentlich bei vielen da, auch der Respekt vor dem Glauben ist da. Manche entschuldigen sich und bitten um Toleranz, weil sie nicht viel darüber wissen.

Aber dann kommt die Neugier zum Tragen. Und wenn man dann mal so anfängt und erzählt, was uns bewegt, was in unserem Zentrum steht, Jesus Christus, die Nächstenliebe, das finden die Menschen dann schon interessant bzw. auch anziehend. Und ich stelle da einfach oft den Wunsch fest, das zu verstehen, aber dann gibt es auch so ein Aufeinanderprallen vom Rationalen mit dem Herzen, der affektiven Seite.

εὐangel:

Das hört sich jetzt so an, als ob Sie mit den Häftlingen immer über Glaubensfragen reden!

Braun:

Es sind die großen Lebensfragen, ganz klassisch: „Warum bin ich hier, wie will ich mein Leben gestalten?“ Mein Glaube ist für mich die Bordsteinkanten von dem Weg, auf dem ich mich bewege. Da gibt es bestimmte Grundregeln. Wenn ich die befolge und aus meinem Glauben heraus Entscheidungen treffe, dann führen die mich dahin, wo ich hinwill. Und das Ziel ist, glücklich zu werden, nicht nur für mich glücklich zu sein, sondern auch anderen Menschen Glück zu bereiten. Menschen im Gefängnis fragen erst mal ganz einfach: „Was muss ich dafür tun, um so schnell wie möglich aus dem Knast wieder rauszukommen?“ Und dann ist meine Antwort immer drauf: „Reflektiere doch mal bitte, was du möchtest! Was für ein Mensch willst du sein? Du bist ja nicht auf die Welt gekommen und hast gesagt: Ich will kriminell werden. Oder ich will Drogen konsumieren etc. Was sind für dich denn Werte in deinem Leben, die du erreichen möchtest?“ Und dann dauert das erst mal, das arbeitet. Da kommt immer eine Ad-hoc-Antwort; aber sie merken schnell, dass es eigentlich noch längere Zeit braucht. D. h. im zweiten oder dritten Gespräch kommen dann tatsächlich erste Antworten. Das sind dann auch relativ einfache Antworten. „Eine Familie wäre schon schön. Menschen, die einen lieben und die man selber lieben kann, das wäre schon toll.“ Dann sage ich auch ganz praktisch: „Also, du möchtest geliebt werden und selber Liebe geben. Das ist doch was relativ Einfaches und was ganz Normales. Was brauchst du denn dazu?“ Und dann kommt erst mal so eine richtige Leere auf diese Frage. Und irgendwann kommen sie dahin, dass sie sich selber akzeptieren müssen, wie sie sind, mit ihrer Vergangenheit. „Und dann fang an, dem anderen Menschen so zu begegnen, wie du selbst bist und wie das Gegenüber da ist! Und jede Entscheidung, die dann ansteht, solltest du einfach für dich reflektieren: Führt die mich näher zu meinem Ziel oder entfernt die mich wieder ein bisschen?“ Und so entsteht im Gefängnis Raum zur Selbstreflexion und, ich glaube auch, zum Pläneschmieden für sich selber. Menschen im Knast setzen sich damit wirklich auseinander und schaffen so für sich Basics und Prioritäten: Was ist mir wichtig? Und was will ich wie umsetzen?

Das war in der Nachschau immer für mich das Schöne, wenn Insassen zu mir gesagt haben: „Herr Braun, das, was Sie mir gesagt haben, wo ich für mich selber schauen soll, was immer meine Baustelle wäre, das hat mir mal gezeigt, wohin es gehen kann.“ Das ist für mich der Mehrwert.

εὐangel:

Was bedeuten diese Entwicklungsprozesse von Menschen im Gefängnis für Sie persönlich?

Braun:

Das erfüllt mich wirklich. Diese Wege sind hart und steinig, und es fordert gerade mein Gegenüber unglaublich heraus. Das ist oft ein Langzeitprozess. Aber das ist genau das Ding. Es ist erfüllend, vor allem, wenn man in den selteneren Fällen hört: „Herr Braun oder Benjamin, da hast du mir wirklich weitergeholfen.“

εὐangel:

Bei der Polizei ist das anders?  

Braun:

Bei der Polizei sind es andere Fragen, die sich stellen. Da ist die Aufgabe auch eine andere. Bei der Polizei halte ich den berufsethischen Unterricht, der einen ethischen Überbau geben soll, was für den Dienst relevant ist. Dort geht es halt nicht um Einzelgespräche, sondern um Unterrichtssituationen wie Gespräch oder Gruppenarbeit. Es geht oft um die Frage: Wie möchte ich in Zukunft als Polizist arbeiten? Die Kernfrage ist oft: „Wie möchte ich denn selbst von Polizei wahrgenommen bzw. behandelt werden, wenn ich mal Kontakt mit denen habe?“ Und so wie ich das eigentlich für mich selbst möchte, so folgt dann, wie ich als Polizist sein und handeln möchte. Das ist für mich als Seelsorger aber nur selten messbar, weil ich mit der polizeilichen Praxis dann nichts mehr zu tun habe.

Für Polizisten ist immer auch die Frage nach der Macht wichtig. Warum wollte ich beruflich zur Polizei gehen? Was treibt mich dazu an? Und man merkt schon, dass viele jüngere Menschen das auch schön finden zu sagen, dass sie dabei eine gewisse Macht haben. Ich versuche immer zu vermitteln, dass Macht erst einmal etwas Neutrales ist. Erst der Mensch gibt dann einen positiven oder negativen Ausschlag, wie Macht ausgeübt wird. Und das versuche ich ihnen bewusst zu machen. Es geht also im Gefängnis und bei der Polizei um Selbsterkenntnis, um Reifung und Weiterentwicklung.

εὐangel:

Sie haben es in Ihrer Arbeit mehrheitlich mit Menschen zu tun, die konfessionsfrei sind, also keiner christlichen Kirche oder anderen Religion angehören. Würden Sie sagen, dass Sie mit den anderen Menschen gemeinsam etwas vom Evangelium entdecken?

Braun:

Es geht oft um Kontingenzbewältigung. Viele sagen: „Ich habe nichts mit dem Glauben zu tun und ich glaube auch nicht an Gott.“ Aber dann kommt oft der entscheidende Nachsatz: „Aber irgendetwas gibt es ja da, ansonsten würde ich nicht mit meinem verstorbenen Mann oder mit einer Freundin, mit einem Freund oder mit dem Onkel oder so doch nicht am Grab mit denen reden. Also irgendetwas müsste ja da sein.“ Und da ist so eine gewisse Scheu, das vielleicht als Gott zu benennen, weil es zu weit weg ist, weil es zu groß ist. Und weil man es vielleicht nicht „fassen“ kann.

Aus DDR-Zeiten sind im Hinterkopf immer noch negative Assoziationen mit Kirche und Glauben abgespeichert. Das Evangelium wird fundamental neu entdeckt, weil meine Gesprächspartner erfahren: Der ist komplett normal, der spricht die gleiche Sprache wie ich, der versteht meine Probleme. Der ist einfach da und hört mir zu und hat dann noch wirklich einfache, praxisrelevante Tipps. Vielleicht ist es doch gar nicht so blöd, das vielleicht als Gott zu identifizieren, über die Mauer so ein bisschen drüberzusteigen oder erst einmal durch den Zaun durchzugucken – wo ist denn ein Spalt? – und das so für mich ein bisschen zu entdecken. Was ist denn dahinter? Und wie weit mache ich die Schritte da? Über die Mauer oder auf das Ziel zu. Es ist dieses Losgehen, was mich oft so beeindruckt.

εὐangel:

Sie haben jetzt eben gesagt, das ist eine irgendwie neue Art, das Evangelium neu zu lesen, also zu lernen. In den Pfarreien wird oft anders gedacht: Wir haben das Evangelium, die anderen haben es nicht, wir müssen es denen bringen! Oder: Wir müssen sie zu uns herüberholen, damit sie bei uns mitmachen, oder sie zu irgendetwas hinbringen, also in einem solchen Sinn missionarisch sein. Hat Ihre induktive und lernende Haltung in JVA und Polizei Rückwirkungen auf die pastoralen Denkweisen in der Pfarrei?

Braun:

Wie schon gesagt: In der Pfarrei für die jüngeren Generationen oder auch für mittlere Generationen reicht es nicht mehr aus, einfach Konsument zu sein. Man möchte Gestaltung mitübernehmen, man möchte Menschen dazu animieren, aktiv teilzuhaben. Die gemeinsam vollzogenen äußeren Zeichen z. B. beim Gottesdienst reichen einfach nicht mehr aus, sondern man möchte aktiv mitgestalten, bei der Musik, am Altar, gerne auch in einer Dialogpredigt. Ich erlebe es sehr stark personenabhängig, ob das zugelassen wird oder nicht. Ein sehr klassisches und traditionelles Verständnis reibt sich mit der nötigen Offenheit. Das ist wirklich stark abhängig von dem jeweiligen Klerus.

εὐangel:

Es geht also eigentlich eher darum, ob und welche Gestaltungsräume ermöglicht werden? Also auch die Pfarrei könnte ein Ort sein, wo Menschen sich einbringen können, wo das Evangelium irgendwie neu entdeckt werden kann, im Miteinander? Verstehe ich Sie so richtig?

Braun:

Da verstehen Sie mich wirklich richtig. Es geht um Teilhabe: Wie stark möchten sich Menschen einbringen und wie sehr wird das zugelassen und unterstützt? Es besteht schon eine Ambivalenz zwischen denen, die einfach konsumieren wollen bzw. so in ihrer traditionellen Art und Weise teilhaben wollen, ohne sich jetzt selbst großartig einzubringen. Davon haben wir relativ viele in den Pfarreien. Die haben auch ihre Daseinsberechtigung. Aber mir scheint – und hier ist ein Unterschied zwischen Polizeiseelsorge und der Gemeindearbeit –, in der Gemeinde geht es viel gegeneinander um Ausdrucksformen. Die einen möchten eher beim Traditionellen bleiben, es bietet natürlich auch Sicherheit. Andere wollen weitergehen, Anderes ausprobieren, Neues entdecken.

εὐangel:

Manche verstehen Kirche und Pastoral als eine Betreuung und Versorgung von Gläubigen, nicht zuletzt mit den Sakramenten. Betrifft das nur die territoriale Seelsorge? Sie versorgen doch die Strafgefangenen auch auf gewisse Weise!

Braun:

Ich habe den unglaublichen Vorteil, für die Strafgefangenen bzw. für die Polizeiseelsorge das aufzugreifen, was gerade individuell dran ist, was sie möchten. Das ist sehr adressatenbezogen. Weil ich um den Einzelnen weiß und weil ich auf den viel mehr eingehen kann.

εὐangel:

Was könnte denn die Gemeinde von Ihrer Arbeit im Gefängnis oder bei der Polizei lernen?

Braun:

Oh, das ist eine sehr spannende Frage. Ich denke, dass man eine Spur mehr Toleranz lernen könnte, so die Graustufen zu sehen, so diese Vielschichtigkeit der ganzen Individuen. Dass jeder seinen Platz hat und auch eine Daseinsberechtigung hat. Vielleicht konnten sie es mal und sie haben es verlernt. Ich nehme in der Pfarrei/Gemeinde schon ein gewisses Schwarz-Weiß-Denken wahr. Vieles ist durchritualisiert. Allein schon eine Gottesdienstzeit oder den -ort zu verändern, ruft die Kritiker auf den Plan. Und ein weiteres: Zukünftig ist die Qualität entscheidend und nicht die Quantität. Die positive Herausforderung an die Personen, die sich in der kategorialen Pastoral begegnen, ist die Frage: An was glaubst du wirklich? Und wie drückst du das aus?

εὐangel:

In vielen Bistümern wird bei weniger werdendem Personal und Finanzen derzeit die territoriale Seelsorge in den Pfarreien gestärkt. Das scheint das Eigentliche, das Kerngeschäft zu sein, alles andere ist Nice-to-have. Was sagen Sie dazu?

Braun:

Ich tue mich schwer damit, das eine oder das andere zu sehen. Ich möchte den Menschen gerne in den Mittelpunkt heben, und das kann in den kategorialen Feldern genauso wie in der Pfarrei geschehen. Die Frage ist: Wie leiste ich Hilfe zur Selbsthilfe? Und was brauchen wir dazu, Menschen weiterzuentwickeln, zu Akteuren zu machen? Ich denke, man sollte in dieser wirklich aufregenden Zeit reflektieren, wie man sich in fünfzehn, zwanzig Jahren eine kirchliche Gemeinschaft oder Christen im Glauben in Zukunft vorstellt. In manchen ländlichen Gemeinden werden dann nur noch verschwindend wenige Christen da sein. Das heißt aber nicht, dass der Glaube weg ist in der Fläche. Was brauchen die dazu, um in dieser Gemeinschaft in Zukunft ihren Glauben auszutauschen und ihn zu leben? Wie möchten wir als Kirche in Zukunft da sein und wie formt sich das alles neu aus? Und was macht das mit der Institution Kirche? Ist das für uns befriedigend, wenn das Evangelium durch Taten in die säkulare Gesellschaft gestreut wird, ohne dass es klar kommuniziert ist, dass es überhaupt vom Evangelium herkommt? Also, wenn ich einen jugendlichen Christen habe, der christlich sozialisiert ist und versucht, nach dem Beispiel Jesu und nach Werten zu leben, die er dann weitergibt durch sein Handeln in der Gesellschaft, muss ich das dann noch unbedingt benennen, dass das von uns kommt?

εὐangel:

Das klingt sehr nach Vereinzelung. Braucht es nicht doch Orte, an denen das gelernt und eingeübt werden kann? Wagen Sie mal den Blick in die Glaskugel: Wer wird in fünfzehn Jahren was und auf welche Weise vom Evangelium entdecken und kommunizieren?

Braun:

Es werden Arten von kleinen Hausgemeinschaften sein, in denen das Bewusstsein lebendig ist, dass Gott in ihrer Mitte ist. Es wird etwas wachsen, wo Menschen einfach aus dem Inneren heraus ihren Glauben leben, sich treffen werden und sagen: Wir beten jetzt gemeinsam und gucken mal, was können wir noch vom Evangelium wahrnehmen und wie können wir das ausdrücken? Wo es zwischenmenschlich unter den Menschen auch passt, dort werden sich die Menschen zusammenfinden. Und das Evangelium ein Stück weit leben. Und auch ihren Kindern irgendwie weitergeben. Im Knast und in der Polizei ist unsere Pastoral deshalb so relevant, weil wir dort als Profis für die Seele wahrgenommen werden. Es wird von uns erwartet, dass wir etwas tun für den Polizeibeamten, für den Bediensteten oder auch für den Strafgefangenen, was ihn weiterbringt in seinem Leben und hilft, Probleme zu lösen. Der Wunsch gerade der Polizei nach Profis, die sich mit der Psyche beschäftigen, wird immer größer. Ich denke auch an die Schweigepflicht, die essentiell ist und die so in dieser Weise niemals eine staatliche Organisation leisten kann. Das ist der fundamentale Grund der Kategorialseelsorge, was uns begleitet und was uns ausmacht: Dieser absolute Schutzraum, dass nichts, wirklich gar nichts nach außen dringt. In diesem Raum öffnen sich Menschen erst, wenn sie absolut wissen, dass sie keine Konsequenzen zu befürchten haben und sich dem Seelsorger zu 100 % anvertrauen können: „Und der ist immer noch auf meiner Seite, egal, was ich oder wie ich und wo ich was gemacht habe.“ Ich stelle wirklich fest bei Polizisten, bei Strafgefangenen oder bei Bediensteten von der JVA, dass wir da am wirksamsten werden. Und dass die Menschen das streuen und sagen: „Hey, was Du hier machst, ist ein übelst schwieriger Job. Aber mir hilft das.“ Und das sind bedrängte Personen. Steht das nicht in Gaudium et spes: Die Freude und die Hoffnung, so heißt es dann, die Angst und die Trauer der Menschen von heute, die sind auch die der Jünger Jesu. Das ist der Hauptauftrag in der kategorialen Seelsorge. Das sind die Ränder der Gesellschaft. Polizisten z. B. stoßen nicht nur auf positive Resonanzen in ihrem Freundeskreis oder in ihrem Bekanntenkreis, gerade wenn sie sich aufmachen, um Polizist zu werden. Die meisten haben in ihrem Freundeskreis schon fundamentale Brüche drin. Wo dann wirklich Menschen sagen: „Ne du, du gehst jetzt ‚zu der anderen Seite‘.“ D. h. ein Mensch, der Polizist wird, hat dann auch weniger Auswahl in der Gesellschaft, weil viele erst einmal sagen: „Ich will mit dir nichts zu tun haben.“ Dasselbe haben wir bei Strafgefangenen: einmal Mist gebaut, einmal das Führungszeugnis versaut, man kommt raus in die Gesellschaft und schon hat man diese Stigmata mit: „Wie, du saßt mal im Knast? Mit dir will ich aber nichts zu tun haben!“ – „Was, du hast das und das gemacht?“ Es wird ja immer nur die Tat gesehen und von der Tat wird alles abhängig gemacht. In der moralischen Vorstellung bei uns Menschen schwebt die Strafe weiterhin wie ein Damoklesschwert über demjenigen. Und gerade für diese Menschen weiterhin da zu sein und sie zu begleiten, das ist doch „die frohe Botschaft“. Wenn also etwas das Kerngeschäft ist, dann ist das unser Kerngeschäft.

Unabhängig von Grenzen, was Pfarrei oder Territorium angeht, unser Kerngeschäft ist: Menschen, die in Bedrängnis sind, auch Schuld auf sich geladen haben, wiederaufzurichten, wieder gesellschaftsfähig werden zu lassen, ihnen Stabilität zu geben. Das ist doch das Kerngeschäft! Und dabei ist es aus meiner Sicht völlig egal, ob das nach der klassischen Variante in der Pfarrei passiert ist oder anderswo. Es muss ein Weg gefunden werden, das miteinander zu vereinen. Und ich kann es ja am meisten damit vereinen, wenn ich Christen, die in der Gemeinde aktiv sind, halt auch loslasse auf säkulare Gebiete und ihnen dabei eine Hilfestellung gebe und sie selber zu Seelsorgern mache. Und sie so in den Kontakt bringe. Es geht darum, Menschen zu qualifizieren. Dazu brauchen wir – ich und andere – eine positive Grundeinstellung zu Menschen unterschiedlichster Milieus.

Es gibt ja so genannte „Blaulichtveranstaltungen“, wozu die Kirche einlädt als Zeichen der Wertschätzung für die, die mit Blaulichtern unterwegs sind. Da werden dann einige hingeschickt und nach dem Gottesdienst gibt es dann Musik, zwei, drei Reden und dann gibt es Häppchen. Es gibt aber oft keinen wirklichen Kontakt oder Dialog zwischen den kirchlichen und den Blaulicht-Leuten. Und so werden die Chancen nicht genutzt, wirklich mal nachzufragen oder dass die Blaulichtleute mal wirklich erzählen können, wie es ihnen geht, Polizist zu sein oder Feuerwehrmann oder Rettungssanitäter, als Einsatzkräfte halt.

εὐangel:

Was ist der wichtigste Gedanke, den Sie uns mitgeben wollen, wenn es darum geht, sich als Kirche in die Zukunft hinein zu entwickeln?

Braun:

Ich kenne ein Bild, wie so ein Aquarium mit einem Fisch darin im Meer treibt. Das Bild trifft es halt für mich sehr gut. Wir schauen – gerade auch in diesen Zeiten – wirklich ganz viel hinaus und sagen, was wir tun müssten, sollten, könnten. Wir sind aber viel zu viel Zeit mit der Aquariumspflege beschäftigt. Und der Wunsch wäre, dass wir aus dem Aquarium hinaus ins offene Meer gehen. Dass wir uns, wie Papst Franziskus gesagt hat, „lieber dreckig machen und auch mal auf Widerstände stoßen, aber in den Dialog treten“ und wirklich sagen: „Wir kümmern uns jetzt mal um die Ränder.“ Wir müssen raus, wir müssen etwas vorleben und sagen: „Aus meinem Glauben heraus tue ich diese Sachen.“ In letzter Konsequenz muss ich es vielleicht irgendwann gar nicht mehr dazu sagen, dass ich das aus meinem Glauben heraus tue. Es braucht ein Verständnis dafür, dass wir orientieren wollen, aber nicht, dass wir die Wahrheit haben. Es braucht Zugänge, es braucht Perspektiven, die wir gerne aufzeigen können.

εὐangel:

Ganz herzlichen Dank, Herr Braun, für dieses lebendige Gespräch.

 

Die Fragen stellte Hubertus Schönemann.