Inhalt

Jenseits der Einzäunungen

Von der Zukunft ohnmächtiger Verkündigung

Der Begriff der Einzäunung ist durchaus negativ konnotiert, bedeutet er doch als Territorialität innerhalb kirchlicher Strukturen Kontrolle und nicht zuletzt Macht. Was heißt das aus kirchenentwicklerischer und pastoraler Sicht? Christian Hennecke stellt sich der Diskussion und wirft die Frage auf, inwiefern das vertraute Pfarrsystem ein Kontrollsystem ist, das durch seine hierarchisch verstandene Struktur Menschen zu wenig in den Fokus rückt. Was muss sich ändern, damit Kirche (wieder) zu einem Ort der spirituellen Beheimatung und Ermöglichung wird?

Macht und Territorium. Was für ein Zusammenhang! Auf den ersten Blick scheint es das doch heute gar nicht mehr zu geben. Sofort kommt mir ein Film in den Sinn, der das Ende dieser gewohnten Konstellation fiktiv in die 60er Jahre verlegt. Genauso ist es ja auch soziologisch. Der Film „Chocolat“ mit der bezaubernden Juliette Binoche und dem damals noch unbelasteten Johnny Depp illustrierte so wunderbar, dass die Konstellation von Pfarrer und Bürgermeister und ihre Macht über die Christen der Pfarrei zerbricht, wenn von außen neue Personen kommen, die charismatisch einfach machen, was sie spüren.

Und ja, das war ja auch die Zeit, in der sich kirchensoziologisch die katholischen Milieus aufzulösen begannen. Tatsächlich führen Mobilität und die Möglichkeit individueller Biographiegestaltung zu neuen Wahlmöglichkeiten – und eigentlich ist es das Ende einer geschlossenen und einhegenden Pastoral, einfach, weil der Großteil der Christinnen und Christen sich immer zuversichtlicher und klarer, mutiger und selbstbewusster gelöst haben aus einer vorgegebenen und ererbten Erfahrung: Man muss nicht mehr katholisch oder evangelisch sein, man muss nicht mehr nach den Ordnungen der Kirche praktizieren. Schon in den 60er Jahren erfahre ich in meiner eigenen Kindheit und Jugend diese Auflösungsprozesse – bis dahin, dass sich meine Eltern von der vorgegebenen Pfarrei lösen und dorthin gehen, wo es gute Predigten gibt.

Auflösungsprozesse und doch nicht

In der Reflexion über diesen langsamen und irreversiblen Veränderungsprozess rückte das Bild eines katholischen Aquariums immer mehr in den Blick: In einem geschlossenen Milieu war ein Ausbruch unmöglich. Mangelnde Praxis des Glaubens war sanktionierbar. Einschärfung von Normen und Vorgaben konnten durchgesetzt werden. Gleichwohl werden die „Scheiben“ des Aquariums hochgezogen. Und ja, viele schwammen und schwimmen ins offene Meer. Gleichwohl verlassen einige wenige – heute, viele Jahre später, sind es immer noch mehr als 4 Prozent im inneren Zirkel – den Rahmen nicht. Warum? Warum darf sich ein überkommenes Rahmenparadigma immer noch durchsetzen, in Kopf, Herz und Wirklichkeit?

Wer die eindrückliche Biographie von Ulla Hahn über Jugenderfahrungen im kölschen Katholizismus der 60er Jahre liest, der wird sich allerdings wundern, wie diese ambivalente Situation der Loslösung bei gleichzeitiger Restabhängigkeit sich auch 60 Jahre später immer noch zeigt. Vielleicht sogar noch machtvoller …

Auch, wenn in restkatholischen Gemeindemilieus die Frage der Macht immer als Hintergrund mitschwingt, manchmal aber auch elegant oder schmerzlich umschifft, intelligent ausgespielt oder klug weggeheuchelt wird – sie gewinnt am Ende dieser Epoche des kontrollierbaren und machtvollen Territorialkatholizismus plötzlich entscheidende Bedeutung: Der Schock der Missbrauchsfälle macht deutlich, dass es in der Kirche weiterhin asymmetrische Machtverhältnisse in der pastoralen Alltäglichkeit gibt. Jenseits der schrecklichen Geschehnisse sexuellen und geistlichen Machtmissbrauchs reicht ein Blick in die pastorale Praxis aus, um den falschen Gebrauch von Macht als alltäglich zu erkennen.

Es gibt aber umgekehrt – vielleicht auf Grund vieler vergangener Traumata – auch weiterhin eine merkwürdig klassische Bebilderung des Kirchenverständnisses in vielen Herzen und Hirnen. Dann bleibt vom Leben der Kirche nur noch die hierarchische Struktur, die auch heute noch Macht ausüben kann, selbst wenn doch jeder seinen Weg jenseits gehen könnte. Vielleicht sind inzwischen kirchliche Lebendigkeit und der „Leib“ so abgemagert, dass nur noch skelettöse Strukturen bleiben?

Das gilt es jedenfalls zu untersuchen. Wie ist in diesem Zusammenhang über Macht zu denken, und wieso ist es immer noch möglich, Kirche als eine hierarchische Machtpyramide zu verstehen? Wieso geschieht das immer noch – von beiden Seiten zweifellos?. Denn Machtansprüche funktionieren ja nur, wenn andere sie zulassen. Allerdings ist die Fixierung auf Machtfragen auch ein Zeichen für das Ende einer spätestens mit Konstantin eingespurten Kirchenkonstellation.

Für den Kontext unserer Fragestellung ergibt sich ein theologischer Horizont und eine Agenda: Inwiefern ist Macht und Territorium theologisch und pastoraltheologisch in kirchenentwicklerischer Perspektive neu zu sortieren? Welches ist der eigentliche Sinn einer territorialen Verfasstheit der Kirche? Warum hängt das mit dem Verkündigungsauftrag zusammen? Und inwiefern braucht es ein neues Verstehen von Hierarchie, Gnade und Vollmacht unter dem Horizont konstitutiver Ohnmacht der Sendung?

Bevor wir allerdings hier einsteigen, soll noch einmal deutlich werden, wie – leider immer noch – Bilder nachwirken und Wirklichkeiten prägen, die mit der Freiheit des Evangeliums nichts zu tun haben.

Erfahrungen klerikaler Macht

Ich mag es kaum glauben, was ich da höre: „Weißt du, einige in der Pfarrei wollen mit einem Glaubenskurs beginnen“, erzählt der Pfarrer, „und ja, ich weiß, es ist kein selbstgestrickter, sondern ein gut durchdachter. Aber ich habe mich gefragt, ob das nicht Mehrarbeit für mich bedeuten würde. Und also habe ich den Initiatoren gesagt, dass wir das in unserer Pfarrei lieber nicht machen …“

Ich finde es unglaublich: Da werden in einer Pfarrei sorgfältig Beerdigungsleiterinnen ausgebildet, aber dann wird ein Vikar eingesetzt, der gerne beerdigt. Und schon endet der Einsatz und das, obwohl der Bischof diese pastorale Ausrichtung im ganzen Bistum für verbindlich erklärt hat.

Mich erschüttert, wenn Gemeindereferenten in größeren pastoralen Räumen ihre Idee eines einheitlichen Kommunionkurses durchsetzen – und lokale Erfahrungen dabei keine Rolle mehr spielen. Arbeitsökonomie und Leistbarkeit gelten hier als nachvollziehbare Begründungen, die von – manchen – Katechetinnen akzeptiert werden: Andere gehen.

Es ist sehr erschütternd: „Weißt du, neulich habe ich zwanzig Minuten im Auto gesessen und geweint. Und ich habe mich gefragt: warum? Und es lag daran, dass ich zum ersten Mal in den letzten Jahrzehnten eine Predigt gehört habe, die mich angesprochen hat – von einem Gastpriester …“ Es gibt tatsächlich Menschen, die das aushalten, hungern und sich verlassen fühlen, aber eben auch ausgeliefert – und bleiben.

Bei einer Begegnung mit einer Gemeinde sitzen mir fünf engagierte Personen gegenüber. Sie wollen für die Zukunft der Gemeinde neue Wege ausprobieren, damit mehr Personen sich angezogen fühlen. Und plötzlich fängt eine junge Frau zu weinen an: „Wissen Sie, wir stehen so unter Spannung, weil der Pfarrer unberechenbar cholerisch ist. Er brüllt mich oft an – und auch die Ministranten sind nicht sicher. Und er hat mich fertiggemacht“, sagt die junge Frau, Managerin in einer großen Bank in der benachbarten Großstadt …

Solche Erfahrungen sind nicht die Regel. Und dennoch nicht selten. Und sie bezeugen – im 21. Jahrhundert – tatsächlich noch eine merkwürdige Abhängigkeit, die genau angeschaut werden will. Warum eigentlich „gehen“ Menschen nicht, wenn sie solche und ähnliche Phänomene erleben? Niemand hindert sie, und doch setzen sie sich einer Macht und einem Machtgebrauch aus, der mit der Gemeindekultur und Pfarreistruktur zusammenhängt.

Heimatlosigkeit und Klerikalismus

Wer in solchen Situationen nach dem „Warum“ des Bleibens fragt, der hört von vielen Engagierten, dass schließlich hier vor Ort „ihre Heimat“ ist, „ihre Gemeinde“, in der sie auch dann ausharren, wenn die Erfahrungen mit Priestern und Hauptberuflichen eigentlich ein Weggehen nahelegen. Hier wird der eigentliche Grund deutlich: Es geht bei der klassischen Konfiguration der Gemeinde eben nicht nur um eine Struktur und Form, sondern mit dieser Form verknüpft sich oft auch der einzige erfahrungsmäßig gedeckte Zugang zum Geheimnis der Mitte des eigenen Glaubens – eben die Glaubensheimat. Form und Inhalt des christlichen Glaubens sind oft wesentlich mit der Form gewohnter Gemeindekonstellationen verknüpft: Gottesdienst wird ausgehalten, Konflikte verdrängt und Machtspiele geduldet. Das gilt – in außergewöhnlicher Leidensfähigkeit des „heiligen Volkes Gottes“ – gerade auch dann, wenn die Pfarrei nicht als Raum der Freiheit erlebt wird, sondern als beengender Raum, der mit Vorgaben und Normen und willkürlichen Geboten gepflastert wird: verpflichtende Gottesdienstbesuche, keine Variabilität bei der Feier der Sakramente, undurchsichtige Vorgaben und willkürliche Verweigerungen von Dingen, die anderswo schon Standard sind.

Das Systemgefüge des Territoriums ist offensichtlich hier erfahrbar als Raum asymmetrischer Machtbeziehungen: Weil die Verantwortlichen „zuständig“ sind, ist man ihnen ausgeliefert, dann wenigstens, wenn man nichts Anderes kennt.

Denn eigentlich schon immer war die Pfarrei als territoriale Grundeinheit pastoraler Sorge nicht der exklusive Ort kirchlicher Existenz: Wallfahrtsorte, Ordensgemeinschaften (in Hülle und Fülle), geistliche Gemeinschaften, Bruderschaften und andere charismatische Aufbrüche standen Menschen frei, die auf der Suche nach ihrer Glaubenserfahrung und Glaubensheimat waren und sind.

Und zugleich wurde durch die sakramentale Versorgungslogik und ihre scheinbar normativen Vorgaben wie die Sonntagspflicht, die „Formpflicht“ im Blick auf das Ehesakrament, die zunehmende Bevormundung im Blick auf die Sakramentenvorbereitung (Taufe, Erstkommunion, Firmung), die den Eltern nicht mehr die religiöse Sozialisation zutraut, die eigentliche Grundperspektive und der Sinn einer territorialen Struktur umgekehrt: Sinngebend wurde nun Kontrolle, damit alle richtig und recht glauben. Je mehr Glauben nicht gegründet war in einer persönlichen Glaubenserfahrung, sondern in einer sozial kontrollierbaren Konvention, die von Generation zu Generation vererbt wurde, desto klarer war ja auch, dass es eine Kontrolle geben musste, damit der Pflicht Genüge getan wurde – Inhalte waren nicht so wichtig: Beichte und Kommunionbildchen, Predigtabfrage im Religionsunterricht, sonntägliche Präsenzpflicht – für alle Pfarrangehörigen. So wurde das Pfarrsystem zum Kontrollsystem.

Und tatsächlich reagierten und reagieren Pfarrer zum Teil – manchmal bis heute – mürrisch, wenn Pfarrangehörige andere Orte als geistliche Heimat finden, die „außerhalb“ des Territoriums liegen: Werden hier nicht Jugendliche und Erwachsene „abgezogen“?

Wenn man aus dieser Perspektive schaut, dann wird deutlich, dass mindestens in der Praxis die Pfarrei – in einer durchklerikalisierten und durchhierarchisierten Kirche, die aus der Logik von Herrschenden und Untergebenen funktionierte – zu einem Territorium wurde, das als Weide zu verstehen ist: Eingezäunt und von Hirten geführt erleiden die Schafe kein Unheil. Die wilden Schafe gilt es einzufangen, und gut zu weiden, wenn auch mit klaren Sanktionen – ähnlich einem elektrischen Weidezaun.

Umgekehrt gibt es natürlich auch sehr viele positive Erfahrungen: Der gesteckte territoriale Rahmen ermöglicht eine Örtlichkeit und Nähe, die Beziehungen ermöglicht und Anonymität verhindern könnte. Gelungene Einbindung vieler Menschen geschieht in überschaubaren und beziehungsreichen Zusammenhängen (digital wie analog). Gemeindefeste, gemeinsame Initiativen und Gruppen leben aus einer räumlichen Nähe. Gemeinschaft wächst nicht abstrakt. Die seit Jahrzehnten starken Proteste gegen die „Fusion von Pfarreien“ und die Bildung von „Pastoralen Räumen“ machen deutlich, wie sehr nicht wenige Menschen einen beziehungsreichen Raum suchen, wo Vergemeinschaftung und gemeinsame Initiative erst möglich wird.

Zu fragen ist hier also, ob dieser Ertrag und diese positive Perspektive zusammenhängt mit der zugleich abgelehnten Kontroll- und Machtperspektive, die die Rede von Territorium als Zugehörigkeitsort mit sich bringt.

Hier wird die merkwürdige Janusköpfigkeit der territorialen Erfahrung in den Blick zu nehmen sein: Sie ist wichtig, weil Christsein und Christwerden immer in konkreten Beziehungsverhältnissen und also örtlich (oder vielörtlich) geschieht – sie wird zur Grenze, wenn Machtverhältnisse einengend wirken. Die Frage ist fundamental: Kann es auch anders gedacht werden, ohne im Binom Beziehungsreichtum und Kontrollmacht stecken zu bleiben?

Neu fragen lernen

Offensichtlich: Denn nachdem 99 der 100 Schafe das Weite gesucht haben und Grenzzäune ohne jede Sanktion übersteigen konnten, vielleicht auch weil sie gar nicht wirklich vorhanden waren, und wenn sie eine neue Weite und neue Orte gefunden haben oder vielleicht auch noch auf der Suche nach Selbstversorgung oder guten Orten sind, stellt sich die alte Frage neu: Ist die Idee des Territoriums und der Gemeinschaft des Volkes Gottes in diesem territorialen Bereich tatsächlich auch theologisch (und kanonisch) eine Machtfrage? Geht es um Kontrolle? Geht es um die Stabilisierung von asymmetrischen Machtverhältnissen einer pyramidal von oben nach unten durchkonstruierten Kirche?

Selbst wenn diese Perspektive – eingebunden in gesellschaftliche Parallelen und tief gegründet in traumatischen Erfahrungen – leitend ist, wenn selbst in einer binnenkirchlichen wie nachchristlichen Öffentlichkeit diese Bilder immer noch erkenntnisleitend und prägend-abschreckend sind, selbst wenn auch die Zukunft des Christentums von einer solchen Perspektive gesehen und entsprechend polemisch und gegenabhängig bekämpft wird, dann muss nun doch tiefer gefragt werden: Entspricht diese erfahrene und dysfunktionale Wirklichkeit der Grundidee einer territorialen Seelsorge? Und wie kann angesichts der gewachsenen und geistgewirkten Freiheit vieler Christinnen und Christen eine territoriale Perspektive neu gegründet und begründet werden?

Eine Antwortskizze soll gewagt werden.

Von der Sendung her denken

Es kommt auf den theologischen Ausgangspunkt an: Ist die Kirche zuerst eine Sammlungsbewegung, dann wäre ja klar, dass es um Sammlung und Einhegung der Gesammelten geht, die dann betreut werden müssen. Biblische Bilder wie das von „Hirt und Herde“ können gerne so ausgelegt werden, wenn man dann – theologisch unterkomplex – die Bischöfe und Pfarrer und ihr Personal als die Hirten sieht, die die Herde – das Volk –  zusammenhalten sollen. Der „Dienst an der Einheit“ kann dann ganz schnell zu einem machtförmigen Kontrollmechanismus verkommen, siehe oben.

Theologisch gilt aber: Gott sammelt sein Volk, er ruft Menschen in seine Gemeinschaft und baut seine Kirche auf. Er sammelt Menschen und ruft sie, das Evangelium zu verkünden. Es geht darum, dass die frohe Botschaft alle Menschen anrühren, prägen und verwandeln kann: „Geht hinaus in die ganze Welt…“ (Mt 28,20). „Wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich euch…“ (Joh 20,19–23).

Um diese Sendung zu allen geht es. Und wenn es einen Auftrag an die Apostel gibt, und wenn es eine Ausbildung von Ämtern geht, dann geht es bei den ausgesandten Aposteln, den Wanderaposteln in der Zeit des frühen Christentums und schließlich auch bei den Episkopoi um die Frage, wie das Evangelium und damit die Wirklichkeit der Geisteskraft allen Christen und allen Menschen zuteil wird.

Kirche wird also hier nicht als strukturierter „Herrschaftsraum“ über Christen gesehen, sondern als der Raum, in dem die geistvolle und sich schenkende (und also sakramentale) Wirkkraft des Evangeliums Menschen erreichen kann, sie stärkt und verwandelt. Wer Christ, wer Christin geworden ist, bedarf dieser Kraft immer wieder neu, um seinen mystagogischen Weg in das Geschehen des Reiches Gottes mitten unter uns erleben, erfahren, erlernen zu können.

Und deswegen geht es beim „Amt“ und „Aufträgen“ immer nur darum, wie die ursprüngliche Lebenswirklichkeit des Reiches Gottes, wie das Evangelium bei Menschen ankommen kann. Diese „amtliche Konfiguration“ versteht sich als Fortsetzung eines Auftrags, der immer wieder – und nur – die Vergegenwärtigung des Ursprungs ermöglicht: Das „Heil“ verstanden als zu verkündende Grundwirklichkeit ist Inhalt dieses Auftrags. Sichtbar wird dies in den Sendungsgeschichten etwa bei Lukas (Lk 9,1–6 und besonders Lk 10,1–11): Die Sendung hat zum Ziel, die Wirklichkeit des Gottes, der die Tiefendimension alles menschlichen Lebens ist, ins Licht zu rücken und ins Spiel zu bringen, weil hier Heil, Freiheit und Leben zu erfahren sind. Wenn in diesem Kontext von „Vollmacht“ die Rede ist, dann ist einerseits klar, dass diese Vollmacht nichts mit „menschlichen Machtspielen“ zu tun hat – das Evangelium spricht hier eine deutliche Sprache: Es ist offensichtlich eine menschliche Versuchung, aus diesem Dienst eine Machtposition zu zimmern. Die Folgen sind durch alle Zeiten schrecklich sichtbar, haben aber mit dem Grundvollzug der Sendung nichts zu tun: Die Macht ist hier die Kraft jenes Geistes, die sich ereignen kann in Menschen – hier wäre Sakramentalität neu zu durchdenken.

Ähnliches gilt dann auch für alle institutionellen Strukturen. Sie haben theologisch wie pastoral nur einen Sinn: einen Ermöglichungsraum schaffen, der die Sehnsucht, den Hunger, die Leidenschaft für das Evangelium fördert, entzündet, Herzen brennen lässt (Lk 24) – und dies, damit die Sendung und Mission weitergehen kann. Die „hierarchische“ Struktur darf dann eben nicht – wie die ständigen Fehlformen durch die Geschichte belegen – in asymmetrischen Oben-Unten Strukturen verstanden werden, wie sie in der bekannten Klerus-Laien-Konfiguration immer noch fröhliche und polemische Urstände feiert. Die Herrschaftsstruktur von Profis und Laien, lehrender und hörender Kirche, betreuender und helfender (Ehrenamtliche als Helfer?) Kirche führt zu einer Deformierung der Idee: Eigentlich geht es darum, dass Christinnen und Christen ein Recht auf den „heiligen Ursprung“ haben, aus dem sie ja leben. Hierarchie soll also eigentlich sichern helfen (wenn das denn geht), dass die echte Botschaft, die echte Grundwirklichkeit und ihre Erfahrung die Menschen erreicht.

Man sieht: Da hat sich in der Tat – und unfehlbar schnell –  jene Deformation der DNA einer kirchlichen Grundgestalt ereignet, die jenseits der Grundidee die Kirche zum Ort der Machtversuchungen und der Machtspiele machte, siehe oben.

Jenseits der Einzäunungen…

Positiv gesprochen würde dann eine neue Theologie der Pfarrei (und auch des Bistums) die geprägten Verhältnisse auf den Kopf stellen. Nicht das Territorium und seine Herrschaftsverhältnisse stehen dann im Fokus, es geht nicht um die Frage, wer hier wem zugeordnet und untergeordnet ist, sondern es geht um Grundrechte der Christinnen und Christen: das Recht auf eine Verkündigung des Evangeliums, das Recht auf die Teilhabe an der sakramental gefassten Wirklichkeit des Reiches Gottes spiegeln die Notwendigkeit, Anteil am geschenkten Leben des Reiches Gottes zu haben, ohne die Nachfolge und Sendung nicht gelebt werden können.

Pfarrei ist – ja – ein Territorium, aber hier geht es nicht um Einhegung, sondern um Ermöglichung christlicher Existenz. Die institutionellen Strukturen sollen dieser Ermöglichung dienen, das Amt steht im Dienst an dem von Gott gesammelten Volk und eint es durch diesen Dienst. Gott ist der Handelnde, wie Lumen gentium 4 auf konzilstheologisch formuliert:

„Der Geist wohnt in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen wie in einem Tempel (vgl. 1 Kor 3,16; 6,19), in ihnen betet er und bezeugt ihre Annahme an Sohnes Statt (vgl. Gal 4,6; Röm 8,15–16.26). Er führt die Kirche in alle Wahrheit ein (vgl. Joh 16,13), eint sie in Gemeinschaft und Dienstleistung, bereitet und lenkt sie durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen Gaben und schmückt sie mit seinen Früchten (vgl. Eph 4,11–12; 1 Kor 12,4; Gal 5,22). Durch die Kraft des Evangeliums läßt er die Kirche allezeit sich verjüngen, erneut sie immerfort und geleitet sie zur vollkommenen Vereinigung mit ihrem Bräutigam.“

Damit wird klar: Nicht ein Amtsträger, eine Hauptberufliche oder irgendwer sammelt hier das Volk Gottes (und hätte Auftrag und Macht dazu), sondern das Volk ist gesammelt durch den Ruf Gottes und erwartet geschenkte Lebendigkeit, um die Sendung in der Weltwirklichkeit zu leben. Natürlich wachsen aus dieser Sendung Erfahrungen der Kirche (nicht umsonst sprechen die Anglikaner von einer mission shaped church). Es wächst aus dieser Kraft Gemeinschaft, ja Gemeinschaften unterschiedlichster Form und Art (wieder die Briten: mixed economy of church), die den „Verjüngungsprozess“ der Kirche (siehe LG 4) und also die zeitgemäße Vergegenwärtigung der Reich-Gottes-Erfahrung ermöglichen.

Von der Zukunft ohnmächtiger Verkündigung

Wer sich allerdings, wie hier vorgeschlagen, von einer gewöhnlichen Territorial- und Machtlogik abwenden will, wer vom Evangelium aus Abschied nimmt von einer machtvoll pelagianischen Idee der Verkündigung, die ankommen muss, weil die Zäune verunmöglichen, sich anderswo umzusehen, wird auch erfahren, dass dann Sendung und Verkündigung nur noch funktionieren, wie es schon die Sendungsberichte aus dem Lukasevangelium nahelegen. Machtlos und konstitutiv ohnmächtig geht Verkündigung dann, wenn sich Begegnung ereignet und jener Raum sich öffnet, in dem sich die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes ereignen kann. Jenseits machtvoller Einzäunungen und jenseits erwünschter Glaubensweitergabe wird Verkündigung wieder das, was sie ist: Gnade, die nie in der Hand von Menschen sein kann; Wunder und Geschenk des Sich-ereignen des Reiches Gottes.

Dieses Abenteuer des 21. Jahrhunderts (wie aller Jahrhunderte) liegt gerade dann vor uns, wenn wir endlich verzichtet haben, Macht und Territorium mit den Grundhaltungen des Evangeliums zu verwechseln.