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Digitale Kirche – grenzenlose Lebenswirklichkeit mit Potenzial

Das „world wide web“, der von der Allgemeinheit wohl am meisten genutzte Dienst des Internet, macht schon mit seinem Namen klar: Online-Kommunikation kennt im Prinzip keine Grenzen, ein Denken in abgegrenzten Territorien ist dem Internet fremd. Stefanie Uphues beschreibt Reibungspunkte zwischen Kirche im digitalen Raum und den gewohnten kirchlichen Strukturen, zeigt aber auch deren enge Beziehung und das Potenzial gegenseitiger Ergänzung auf.

Wer „digitale Kirche“ bei Google sucht, landet fast 14 Millionen Treffer (Eingabe am 22.03.2023). Es scheint sie also zu geben, die „digitale Kirche“. Aber was oder wer verbirgt sich dahinter? Schaut man sich die Treffer stichprobenartig an, zeigt sich, dass damit keine Kirche im Sinne einer definierten Gemeinschaft, eines konkreten Ortes oder begrenzten Raumes gemeint ist. Viele der Google-Treffer beziehen sich darauf, dass Kirchen und christliche Gemeinschaften digitale Technologien nutzen, um Gottesdienste, Andachten oder Events zu übertragen oder ergänzende Methoden zu analogen Angeboten wie einer Firmvorbereitung zur Verfügung zu stellen. Die Technik wird folglich als Übertragungsform oder als Hilfsmittel eines eigentlich analogen Tuns genutzt.

Ersatz der physischen Kirche?

Fragt man den Chatbot ChatGPT danach, was er über digitale Kirche weiß, antwortet er ähnlich und ergänzt: „Die digitale Kirche bietet eine Möglichkeit, die Reichweite der Kirche zu erweitern und Menschen zu erreichen, die möglicherweise sonst nicht mit dem christlichen Glauben in Berührung kommen würden.“ Und: „Es gibt jedoch auch Debatten darüber, ob die digitale Kirche als Ersatz für die physische Kirche angesehen werden sollte oder ob sie die Bedeutung von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit innerhalb der Kirche untergräbt“ (https://chat.openai.com, Frage: „Was ist digitale Kirche?“).

Diese Bedenken, die die künstliche Intelligenz aus verschiedenen Blog- und Interneteinträgen zusammengefasst hat, zeigen, wie ambivalent „digitale Kirche“ zu sehen ist. Ersetzt digitale Kirche etwas oder „untergräbt“ sie gar die „Bedeutung von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit innerhalb der Kirche“?

Digitalität ist Normalität

Das „Zuhause“, der Raum digitaler Kirche, ist das World Wide Web, das Internet mit seinen unendlich vielen auch religiösen und kirchlichen Homepages und sozialen Netzwerken. Das Internet ist nicht nur Medium im Sinne eines Kommunikationsmittels zwischen Sender und Empfänger. Es bietet, ermöglicht und schafft vielmehr Räume, die sich immer mehr analogen Räumen angleichen. Mehr noch: Von jungen Menschen werden digitale und analoge Räume in ihrer Bedeutung gar nicht mehr voneinander unterschieden. Digitalität, das ist heute selbstverständlicher Teilbereich der Lebenswirklichkeit und des Alltags, in Deutschland immerhin für fast 100 Prozent der über 14‑Jährigen, so die ARD/ZDF Onlinestudie 2022. Am Nachmittag wird gemeinsam auf dem Sportplatz gekickt, am Abend trifft man sich zum Fortnightspielen, jeder an seinem Schreibtisch sitzend und doch gemeinsam agierend. Es werden Freundschaften auf Instagram oder TikTok geknüpft und gepflegt. Es werden Beziehungen beendet, weil die Standortangabe bei Snapchat verrät, dass die Freundin nicht dort ist, wo sie nach eigener Aussage sein sollte. Zugegeben: Wer nicht als Digital Native aufgewachsen ist wie ich, dem sind die Möglichkeiten, die Social Media by the way eröffnen, manchmal suspekt und faszinierend zugleich.

Digitalität als eine Lebenswirklichkeit neben anderen anzuerkennen legt nahe, den digitalen Raum auch pastoral zu bespielen. Zur digitalen Kirche gehören heute Einzelpersonen, Gruppen oder Einrichtungen, die die Botschaft des Evangeliums auf ihre Weise in die Welt tragen.

Territoriale Ordnung schafft Nähe …

Dabei folgt die Lebenswirklichkeit im digitalen Raum allerdings anderen Gesetzmäßigkeiten als im analogen. In Letzterem denkt Kirche, zumal die katholische, als Institution strukturell und kirchenrechtlich geografisch. Sie ist Territorialkirche; eine Territorialpfarrei umfasst ein bestimmtes umgrenztes Gebiet und ist für die Gläubigen, die dort ihren Erst- oder auch Zweitwohnsitz haben, zuständig. So hat jeder Katholik, jede Katholikin einen für seinen bzw. ihren Wohnsitz verantwortlichen Bischof und Pfarrer, an die sie sich in pfarrlichen Angelegenheiten wenden können, ja in manchen Fällen sogar müssen (vgl. c. 374 § 1 CIC). Diese Strukturierung von Seelsorgebezirken, wunderbar mit farbigen Grenzen auf Bistumslandkarten zu visualisieren, erleichtert die Bildung von Gruppen und Gemeinschaften und schafft klare Zuständigkeiten für die Regelung von Sakramentenspendungen, liturgischen Feiern oder Finanzen. Es gibt innerhalb der Pfarreien konkrete Gesichter und helfende Hände, Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen, den geweihten Pfarrer genauso wie die beauftragte Pastoralreferentin, den Sozialdienst, das Pfarrbüro etc. – Orte, an denen Menschen Unterstützung und Begleitung erfahren dürfen und die den Rahmen schaffen für das Gemeindeleben vor Ort.

… und Grenzen

Geografische Nähe ist umgekehrt verbunden mit Entfernungen und Grenzen. Der Rahmen oder der Raum, in denen Kirchenmitglieder Angebote liturgischer, spiritueller und pastoraler Art wahrnehmen können, ist im Analogen bestimmt durch den Wohnort. Wer mobil ist, kann für eine gute Predigt oder ein spezifisches Angebot noch fahren, aber der Radius bleibt selbst mit Rad, Bus oder Auto begrenzt – und die Lust auf solchen Aufwand ebenso.

Zunehmende Weiten

Indessen führen sich verringernde Kirchenmitgliederzahlen seit Jahren dazu, den geografischen Raum von Kirche als pastoralen Raum neu zu denken, nämlich weiter und größer, im eigentlichen Wortsinn. Fusionen waren gestern, heute sind es pastorale Räume, die geschaffen werden, größer und flächiger als je zuvor. Und weiter im Sinne von leerer und luftiger, denn weniger Mitglieder sorgen für mehr Leere in Kirchen und Pfarrzentren (vgl. Sellmann 2017). Die Lehre aus der Leere? Die klassische Gottesdienstgemeinde wandelt sich. Die Gelegenheiten zur Gemeinschaftsbildung werden seltener, es droht die Gefahr der Vereinzelung. Pastorale Arbeit als Beziehungsarbeit – die sie ist – wird mit jedem Kilometer, der zurückgelegt werden muss, schwieriger und zeitaufwändiger. Zeit, die angesichts zurückgehender Zahlen von pastoralen Mitarbeitenden kaum noch jemand hat.

Differenzierte neue Kirchorte

So überrascht es nicht, dass seit einigen Jahren innerhalb der XXL‑Pfarreien kleinere Gemeindeformen wiederentdeckt und neue Kirchorte entwickelt werden. Es entsteht ein Netzwerk verschiedener Akteure und Angebote, in dem die Pfarrei mit ihrem Kirchturm nicht länger Hauptbezugspunkt ist. Die klassische Gottesdienstgemeinde ist nur ein Ort, nur eine Teilwirklichkeit neben anderen, in denen Christen und Christinnen Glaubensgemeinschaft erleben und sich spirituell weiterentwickeln können. Die zunehmende Differenzierung entspricht der Individualisierung der Gesellschaft und trägt der Entwicklung Rechnung, dass kirchliche Angebote vor allem ereignis- und bedarfsbezogen nachgefragt werden.

Relevanz und Erreichbarkeit im Analogen

Bewusster als noch zu volkskirchlichen Zeiten stellen sich heute Christen und Christinnen die Frage, wie sie ihren Glauben heute leben können und an welchen Orten die Botschaft des Evangeliums erfahrbar wird. Solche Orte gibt es noch viele: Schulen, Kindergärten, Beratungsstellen, Verbände für alle Altersklassen, Orte und Dienste der Caritas und Diakonie, mannigfaltige Freiwilligendienste, Tür‑und‑Angel‑Gespräche im Supermarkt, Bibel- und Familienkreise, die offene Jugendarbeit, Wallfahrten, gottesdienstliche Feiern, Sakramentalien oder andere Feierangebote an Lebenswenden. Für solche lebensdienlichen Angebote nehmen Menschen durchaus auch weite Wege in Kauf.

Im Digitalen: Nur Relevanz ist relevant!

Diese Mentalität, sich bewusst das zu suchen, was relevant fürs eigene Leben ist, führt auch in digitale Räume. Während allerdings bei geografischen Orten das Kriterium der physischen Erreichbarkeit zumindest mitentscheidend bei der Wahl ist, füllt sich ein digitaler Raum allein aufgrund der Relevanz, die er für jemanden entwickelt. Identitätsstiftend ist nicht die Mitgliedschaft in einer konkreten Gruppe oder Kirchengemeinde, sondern die Frage, inwiefern sich Nutzer und Nutzerinnen mit einer Influencerin identifizieren und dabei selbst partizipieren können.

Entscheidend für Nähe: die Art und Weise des Kontakts

Damit Nähe entsteht und sich eine Beziehung entwickelt, ist nicht die gleiche Luft entscheidend, die zwei oder mehr Menschen atmen. Dies zeigen Erfahrungen aus der beratenden Internetseelsorge, aus Online‑Beratungs- oder Supervionssettings. Nähe entwickelt sich durch die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Kontakt treten. Dies passiert digital anders als physisch, da die Kommunikationskanäle andere sind (vgl. Uphues 2021). Anders ist aber nicht notwendigerweise schlechter. Ein Schriftgespräch per Kommentarfunktion, Privatnachricht oder im Chat kann sehr berührend sein. Ein Bild, das jemand postet, kann genau ins Herz treffen. Eine persönliche Erfahrung, die eine Influencerin teilt, kann das eigene Leben in Frage stellen.

Digitalität ermöglicht neue Beziehungsnetzwerke

Der digitale Raum ist eine Form, wie Kirche mit Menschen in Kontakt treten kann und wie Christen und Christinnen miteinander ihren Glauben teilen und leben können. Territorial entgrenzt, erweitert der digitale Raum die Optionen für sinnsuchende Menschen, die für sie „passende“ Gemeinschaft oder Personen zu finden, die sich mit ähnlichen Themen und Fragen wie sie selbst auseinandersetzen. Indem christliche Influencerinnen und (zahlenmäßig derzeit noch weniger) Influencer ihre Follower und Followerinnen teilhaben lassen am eigenen Glaubensleben, an ihren Hoffnungen, Sehnsüchten und Zweifeln, entstehen Beziehungsnetzwerke, die an den Interesse- und Bedürfnislagen der Einzelnen orientiert sind (vgl. Hörsch 2022).

Diese Form von Kirchesein ist verbunden mit einer radikalen Dezentralisierung. Kirchenleitungen haben in digitalen Räumen – anders als es das Territorialprinzip vorsieht – keinen Zugriff mehr. Es braucht das Vertrauen in die Selbstorganisation von Christinnen und Christen (vgl. Höring 2018).

Aufhebung des Monopols zur Glaubensverkündigung

Möglicherweise ist das Vertrauen darauf nicht die größte Herausforderung für Kirchenleitung, sondern der abnehmende Zugriff, der damit verbunden ist. Denn das, was unter dem Label christlicher Gottesrede im Netz kursiert, entspricht nicht unbedingt einer akademisch fundierten Theologie oder der dogmatischen Kirchenlehre. Dies gilt sowohl für sehr freie theologische Ansichten als auch für konservative oder fundamentalistische Ansätze. Spirituelle und religiöse Diskussionen sind gängige Themen in sozialen Medien; dort wird über und von Gott geredet, also Theo‑logie getrieben. Das Monopol der Glaubensverkündigung seitens beauftragter Personen ist im Digitalen aufgehoben. Wer meint, etwas zu sagen zu haben, und sein Verständnis von Christsein teilen möchte, der verkündet es auf dem digitalen Marktplatz. Und dort findet er sicher mehr Leser und Leserinnen, als wenn er seine Thesen an die hölzerne Kirchentür hängt.

Prüfung und Kontrolle: unmöglich

In der Tat, das bringt Unsicherheiten mit sich und ja, es gibt auch so einige Negativbeispiele an spirituellen Ideen und religiösen Diskussionen im Netz. Da steht der digitale Raum dem analogen in nichts nach. Prüfung und Kontrolle im Netz sind schlichtweg unmöglich, wer sollte das auch tun? Es kann nicht wie im geografischen Raum ein Bischof eingesetzt werden, der zuständig für alle (katholischen) Themen im Netz ist. Und es wäre absurd, alle pastoralen Mitarbeitenden damit zu beauftragen, nun bitte als kirchliche Angestellte auch auf Instagram und Youtube für „ihre“ Gemeinde präsent zu sein und dort digitale Kirche zu gestalten.

Diese Unübersichtlichkeit, die große Freiheit im Netz, die Fremdheit gegenüber dem Altvertrauten – das scheint es manchmal schwer zu machen, den digitalen Raum als Ort kirchlicher Gemeinschaft ernsthaft mitzudenken, wenn es um Innovationen, um Pastoralpläne, sich verändernde Strukturen, neue Verkündigungsformen oder Gemeindeentwicklung geht. Vielleicht steckt dahinter auch die Sorge, dass sich im Netz eine Parallelwelt bildet, die den territorialen Kirchenräumen die Mitglieder entzieht.

Analog und digital: verschieden und verbunden

Solche Befürchtungen scheinen laut einer Studie der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) aber wenig Hand und Fuß zu haben. Digitales und analoges Engagement hängen vielmehr eng zusammen. 85 Prozent der befragten Follower und Followerinnen christlicher Instagram‑Influencerinnen sind Mitglied einer christlichen Kirche, fast 70 Prozent stehen in Kontakt zu einer Gemeinde (vgl. Hörsch 2022). Digitalität führt also nicht notwendigerweise zu einem Rückzug aus der analogen Kirchenwelt. Offenbar finden christlich ohnehin interessierte Menschen bei denen, denen sie auf Instagram folgen, etwas, das ihrem Bedürfnis entspricht, sie aber vor Ort nicht abrufen können.

Digitalität ist eng verwoben mit physischen Präsenzen, mit Personen, Einrichtungen oder Angeboten an konkreten Orten, zu denen man gehen kann. Wer eine App öffnet, bei Google etwas sucht oder Instagram nutzt, der kennt die ständig aufpoppenden Werbungen regional naheliegender Firmen und die Standardfrage der Suchmaschinen, ob der Standort bei der Suche verwendet werden darf (bzw. die Ergebnisse orientieren sich bereits daran). Kirchliche Angebote tauchen dabei leider noch selten auf – hier liegt sicherlich noch ein spannendes Feld, das es zu nutzen gilt. Wie praktisch wäre es, wenn ich nach Informationen zur Erstkommunion oder Hochzeit suche und mir nicht nur Werbung für passende Kleidung, Tischdeko oder Bastelanleitungen für die Kerze angezeigt werden, sondern auch die Kontaktdaten des nächstgelegenen Pfarrbüros oder eines Familienkreises in der Nähe.

Geistliche Hotspots im Netz

Der Religionssoziologe Michael Ebertz forderte vor zwei Jahren, dass Kirche milieuspezifische Angebote machen müsse, „spirituelle Tankstellen“, an denen Menschen die „geistlichen Lebensmittel“ erhalten, die sie benötigen (Ebertz 2021). Der digitale Raum ergänzt die Möglichkeiten solcher Tankstellen der Territorialkirche. Er bietet geistliche Hotspots, die nicht nach dem Territorialprinzip ausgerichtet sind, dafür aber Menschen ansprechen, die von bisherigen Angeboten ausgeschlossen sind oder sich zumindest nicht angesprochen fühlen. Ebertz sieht in der Digitalität sogar „Wachstumspotential für die Kirche, um Leute mit dem Evangelium in Berührung zu bringen“ (ebd.).

Schließen lässt sich der digitale Raum nicht, digitale Kirche wird weiter existieren, in welchen Formen, ist heute vielleicht noch nicht einmal absehbar. Digitale Kirche ist aber kein schlichter Ersatz für und „untergräbt“ auch nicht „die Bedeutung von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit innerhalb der Kirche“ (s. o.). Letztlich gibt es viele Ähnlichkeiten zur analogen Welt. Die digitale Lebenswirklichkeit ist nur ein Abbild dessen, was analog schon da ist an Suche nach Sinn, nach lebensdienlichen Antworten und Möglichkeiten, mit anderen Menschen Leben und Glauben zu teilen. Darin liegt eine große Chance, deren Nutzung und Gestaltung aktuell noch ausbaufähig ist. Als Christen und Christinnen dürfen wir selbstbewusst und selbstverständlich unsere frohmachende Botschaft auf der ganzen Welt verkünden – analog wie digital.