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Das Territoriale gibt es nicht mehr

Warum zieht es immer mehr Menschen aus ihren Pfarreien heraus und hin zu Orten, an denen sie ihre Spiritualität auf neue Weise entdecken und leben können? Was hoffen sie an diesen Anders-Orten zu finden? P. Zacharias gibt Einblick in das Leben in einem Kloster, das unterschiedlichste Gäste mit ihrer je eigenen Motivation willkommen heißt. Dabei erklärt er, was Suchende in ihrem zeitlich begrenzten Aufenthalt in einem Kloster wie Münsterschwarzach erwartet.

Die Situation

Ich bin gebeten worden, aus meiner Sicht als Mönch auf die Struktur der Kirche und das Territorialprinzip zu schauen. Bis heute ist das ein gültiges Prinzip von Kirche: Eine Pfarrei umfasst ein bestimmtes Gebiet, der Pfarrei steht ein Pfarrer vor und alle auf dem Gebiet der Pfarrei lebenden Katholiken gehören formal zu dieser Pfarrei. Da es heute aber immer weniger Priester gibt, muss das Gebiet der Pfarreien vergrößert, müssen die Territorien erweitert werden. Das hat in den vergangenen Jahren in den Bistümern zu verschiedenen Lösungsmodellen geführt.

Einige haben mehrere Pfarreien zu einer zusammengelegt, andere haben Pfarrverbände gegründet, in denen jede Pfarrei selbständig bleibt, aber ein Pfarrverband immer einen vorstehenden Pfarrer hat. Der erwähnte Priestermangel – manche Bistümer werden in den nächsten Jahren keine Priesterweihen haben – wird aber dazu führen, dass diese Großpfarreien und Pastoralverbände immer noch größer werden, da man ja an dem Priester als Vorsteher einer Pfarrei festhält. Zwar gibt es bereits Laien als Gemeindeleiter, aber das ist – soweit ich weiß – eher die Ausnahme.

Damit zeichnet sich ab, dass das Territorialprinzip so nicht zu halten ist – zumindest nicht, wenn Kirche nicht bereit ist, neue Zugänge zum Priesteramt zu ermöglichen, und dann unter Umständen mehr Menschen diesen Beruf ergreifen. Aber selbst dann ist in meinen Augen das Territorialprinzip überholt. Weil auch die klassische Pfarreistruktur nicht mehr funktioniert. So wie ich es wahrnehme, reagieren nur noch ganz wenige Menschen auf die Angebote der klassischen Pfarrei. Gerade in den Städten zeigt sich, dass sich die Menschen vom Territorialprinzip lösen und etwa für den Gottesdienstbesuch (so er überhaupt noch stattfindet) nicht in ihre Wohnortkirche gehen. Da wird auf Alternativen ausgewichen, weil die Uhrzeit anderswo besser passt. Oder der Priester und das Gottesdienstformat. Da werden auch weite Wege in Kauf genommen.

Ganz deutlich zeichnet sich das auch bei Hochzeiten ab. Brautpaare suchen sich die Kirche aus, wo sie heiraten möchten. Die Heimatpfarrei, in der sie aufgewachsen sind, oder eine andere Kirche, mit der sie sich verbunden fühlen, vielleicht auch aus Gründen der Ästhetik.

Viele Menschen kommen auch zu uns, um zu heiraten oder sogar ihr Kind taufen zu lassen, weil sie sich mit dem Kloster, uns Mönchen verbunden fühlen. Ein Kloster, so mache ich die Erfahrung, ist grundsätzlich ein Ort, an dem die Menschen etwas finden, was sie in ihrer Pfarrei so nicht haben.

Ein Kloster als Anders-Ort

In der Abtei Münsterschwarzach leben etwa 80 Mönche im Alter zwischen 21 und 94 Jahren. 320 Angestellte arbeiten in den verschiedenen Betrieben und Einrichtungen des Klosters. 800 Schülerinnen und Schüler besuchen das private, staatlich anerkannte Gymnasium und 30.000 Übernachtungen jährlich verzeichnet unser Gästehaus. Viele der Menschen, die mit uns in Kontakt stehen und in Berührung sind, nehmen die Abtei als einen Anders-Ort wahr.

Als benediktinische Gemeinschaft sind wir zwar Teil der katholischen Kirche, werden aber zunächst als klösterliche, selbständige Gemeinschaft wahrgenommen, in der Glaube anders und durchaus auch alternativ gelebt wird. Das betrifft zunächst unsere Lebensform als Mönche. Unser Tag ist unterteilt in Gebet und Arbeit. Fünfmal am Tag kommen wir in unserer Abteikirche zum Gebet zusammen und laden die Menschen ein, Teil dieser Gebetsgemeinschaft zu sein. Alle unsere Gottesdienste sind öffentlich, werden teilweise per Livestream auf YouTube übertragen. Hier wird spürbar: Das Kloster ist ein authentisch durchbeteter Ort.

Dann liegt es aber auch an der Art und Weise, wie wir für Menschen da sind und ihnen begegnen. Es gibt eine große Offenheit gegenüber allen, die kommen. Gastfreundschaft hat Benedikt ja seinen Mönchen im Kapitel 53 in die Regel geschrieben, nach der wir heute noch leben. Egal, wer da ins Kloster kommt, er soll aufgenommen werden wie Christus selbst. In seiner Gerichtsrede (Mt 25,31–46) sagt Christus ja, dass alles, was wir einem seiner geringsten Brüder tun, ihm getan wird. Und im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) wird deutlich, dass es entscheidend ist, wie ich dem anderen zum Nächsten werden kann bzw. wie der andere mir zum Nächsten wird. Nicht nur dem, der schon mein Nächster ist, ist zu helfen, sondern jedem, der Hilfe braucht und mir durch meine Zuwendung zum Nächsten wird.

Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben bei uns nicht nur eine Arbeitsstelle, sondern auch eine Aufgabe, die mit Sinn gefüllt ist. Viele identifizieren sich in besonderer Weise mit dem Kloster und uns Mönchen. Die Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen, finden einen Lernort, an dem sie erfahren, dass der Einzelne wichtig ist und man genau schaut, wie der Einzelne gefördert und auch gefordert werden kann, um der Mensch zu werden und die Persönlichkeit, die Gott sich mit ihm gedacht hat. Wir sprechen gerne von der Schulfamilie. Und davon, dass die Schule so etwas wie eine Pfarrei ist. Viele unserer Schüler verbringen den ganzen Tag in der Schule bzw. die meiste Zeit des Tages. Die Angebote der Schule sollen daher nicht nur das Lernen fördern, sondern eben den ganzen Menschen – das schließt eine Seelsorge mit ein. Ein Mönch der Abtei ist Schulseelsorger, steht für Gespräche zur Verfügung und bietet Gottesdienste, Meditationen, Bibelgespräche etc. an. Zwei Mal im Jahr kommt die Schulfamilie in der Abteikirche zusammen zu einem großen Gottesdienst – am Fest unseres Ordensgründers Benedikt (21.3.) und am Fest der hl. Felizitas (23.11.), unserer Klosterpatronin. Vor den Weihnachtsferien und den Sommerferien gibt es Gottesdienste für die verschiedenen Altersstufen. Zu Beginn eines jeden Schuljahres erhalten die 5. Klassen jeweils einen Mönch als Klassenpaten. Seine Aufgabe ist es, durch regelmäßige Kontakte zu seiner Klasse, den Schülerinnen und Schülern Informationen zur Abtei, zum Mönchsein zu geben und so eine Verbindung zwischen Schule und Kloster zu schaffen. Die Schülerinnen und Schüler sollen ein Gespür dafür entwickeln, was es bedeutet, eine klösterliche Schule zu besuchen.

Ebenso prägend war und ist unsere Jugendarbeit. Begonnen in den 1980er Jahren finden bis heute Jugendkurse jeweils zu Silvester, Ostern und Pfingsten statt. Kamen zu Beginn bis zu 400 Jugendliche, so sind es heute natürlich viel weniger, die zu den Kursen kommen. Ich selber war fast 20 Jahre in dieser Arbeit aktiv. Für viele Jugendliche und junge Erwachsene waren und sind Münsterschwarzach und diese Kurse Heimat. Man verabredet(e) sich jeweils für den nächsten Kurs und freut(e) sich auf die Begegnung und den Austausch mit Gleichgesinnten. Immer wieder hörte ich von den Jugendlichen den Satz: „Ich bin nicht römisch-katholisch, ich bin Schwarzach-katholisch.“

Und tatsächlich trifft dies den Punkt: Wir hier in Münsterschwarzach haben einen eigenen Stil, das Katholische zu leben. Dazu gehört v. a. eine große Offenheit. Wir gehören ja zu den Missionsbenediktinern, einem Zweig innerhalb der großen Familie der Benediktiner. Sie wurden gegründet Ende des 19. Jh., u. a. mit dem Ziel, v. a. im heutigen Tansania den Glauben zu verkünden und Menschen zu christianisieren, weil nach damaliger Vorstellung nur getaufte Christen in den Himmel kommen. Heute sind wir immer noch in verschiedenen Ländern in der Glaubensverkündigung aktiv. Aber es geht uns nicht um Missionierung um des Seelenheiles willen, sondern um die Verkündigung des christlichen Glaubens als eines Wegs, von dem wir überzeugt sind, dass er uns Leben in Fülle schenkt, Lebendigkeit, wie Gott sie sich gedacht hat. Unsere fast weltweite Aktivität, die Begegnung mit anderen Ländern und Kulturen schenkt uns auch ein großes, offenes Herz. Ich fand und finde es immer noch faszinierend, wenn z. B. am Silvestermorgen die Teilnehmer des Jugendkurses mit Musik und Gesang unseren Konventgottesdienst mitgestalten. Da feiern dann die Mönche, die normalerweise Choral singen, mit den Jugendlichen, ihren Liedern und ihrer Musik den Gottesdienst und lassen sich davon bewegen und berühren.

In unserem Jubiläumsjahr 2016 haben wir uns deshalb das Motto „Be open!“ gegeben und leben das bis heute. Die gleiche Offenheit leben wir unseren Gästen im Gästehaus gegenüber. Grundsätzlich gibt es die Gäste, die als sogenannte Einzelgäste kommen und für sich sind, ihren Tag selbst gestalten und frei sind, inwieweit sie an unseren Gebetszeiten teilnehmen oder auch Gespräche mit einem Mönch führen möchten.

Die andere Gruppe der Gäste sind die, die an einem Kurs teilnehmen. Jedes Jahr bieten wir über 250 Kurse an – mit unterschiedlicher Dauer. Viele Kurse finden über das Wochenende statt. Es gibt aber auch Kurse von Montag bis Freitag und auch Kurse, die über zehn Tage gehen (ein Kontemplationskurs und ein Bildhauerkurs pro Jahr). Inhalte der Kurse sind ganz verschiedene Themen. In fünf Kategorien haben wir sie unterteilt: Stille, Glaubensvertiefung, Werkstatt (Kreativkurse), Lebenskunst, benediktinische Führungsseminare. Entsprechend dieser Kategorien kommen die Teilnehmer der Kurse auch aus verschiedenen Milieus. Zu den Kreativkursen kommen andere Menschen als z. B. zu den Kursen mit P. Anselm Grün, in denen es u. a. um Führen mit benediktinischen Werten geht. Wichtig ist: Jeder dieser Gäste sucht etwas bei uns. Entweder, weil ihn ein Kursthema angesprochen hat oder ihn „etwas“ zu uns zieht, was er gar nicht genau benennen kann, oder er einmal bei uns hier war und er wieder in die ihm guttuende Atmosphäre des Klosters eintauchen möchte. Aus sich wiederholenden Besuchen, Kursteilnahmen und Gesprächen mit Mönchen ergibt sich manchmal für jemanden auch die Frage, ob ein Immer-wieder-Kommen ihm reicht, seine Sehnsucht, die er spürt, dadurch gestillt wird oder er doch mehr braucht und sich innerlich auf den Weg macht, für sich zu klären, ob er nicht Mönch werden möchte oder dazu gerufen ist. Auch Beleggruppen, die für sich bei uns eine gute Tagungsmöglichkeit gefunden haben, nehmen etwas von unserer Gastfreundschaft, von benediktinischen Werten wahr, die andere Atmosphäre. Viele unserer Gäste verorten auch ihre Kirchlichkeit, ihre Spiritualität, ihre Gottsuche bei uns, fühlen sich mit uns verbunden und empfinden uns als ihre Gemeinde. Dabei fragen wir nicht nach Konfession oder Religion, sondern entscheidend ist die Sehnsucht, die die Menschen zu uns führt. Benedikt sagt, dass, wer Mönch werden will, ein Gottsuchender sein soll. Mehr nicht. Und wer als Suchender zu uns kommt, ist ein Gottsucher. Er beschreibt es vielleicht anders: als Suche nach Sinn, Geborgenheit, Glück, Tiefe, mehr als alles. Aber auch das Wort Gott ist ja auch nur eine Umschreibung für eine Wirklichkeit, mit der wir die oben genannten Begriffe verbinden.

Eine andere Gruppe derer, die eine Gemeinde bilden, wenn man so will, sind die Oblaten – die Menschen, die verbindlicher mit uns leben möchten und sich durch ein Gelübde an unsere Gemeinschaft binden. In dem Oblationsgottesdienst legen sie ein Versprechen ab, in dem sie sich verpflichten, unsere Anliegen in der Welt so gut wie möglich zu leben und auch das Stundengebet zu beten. Sie erhalten auch einen Ordensnamen, den sie sich frei wählen dürfen. Es sind sozusagen Mönche und Schwestern mitten in der Welt. Sie treffen sich regelmäßig über das Jahr zu Einkehrtagen, Vertiefung des Glaubens und zu anderen Veranstaltungen.

Hinzu kommen die Menschen, die aus der Umgebung regelmäßig an unseren Gottesdiensten teilnehmen und uns in unserer Arbeit unterstützen, bei Festen mithelfen, Flüchtlinge, die bei uns wohnen, in der deutschen Sprache unterrichten oder bei Behördengängen helfen.

Viele Menschen kommen auch regelmäßig zur geistlichen Begleitung zu uns. Sie haben hier einen Mönch gefunden, der sie auf ihrem Weg der Gottsuche begleitet, ihnen zuhört, Zeit für sie hat. Eben das, was viele in den Gemeinden, bei den Seelsorgern vor Ort nicht mehr finden. Diese sind fast nicht erreichbar, sprechbar, versinken in Bürokratie.

Und auch die oben erwähnten Flüchtlinge haben bei uns Heimat gefunden; eine Gemeinschaft, die sie aufgenommen hat und ihnen Geborgenheit, einen sicheren Ort schenkt. Mit Beginn der ersten Flüchtlingswelle 2015 haben wir unkompliziert Wohnmöglichkeiten geschaffen und helfen bis heute den Menschen aus anderen Ländern, bei uns Fuß zu fassen, eine eigene Wohnung zu finden und eine Arbeit, wenn sie denn dazu die Erlaubnis bzw. den entsprechenden Status bekommen. Unser entschiedenes Zeugnis des Glaubens im Engagement für diese Menschen hat schon mehrere von ihnen bewogen, zum christlichen Glauben zu konvertieren.

Zuletzt seien vielleicht noch die Mitarbeiterinnen im Gästehaus erwähnt. Als im Jahr 2022 die Leitung wechselte, hat der neue Leiter, ein Mitbruder, begonnen, mit einem Coach von außen im Team des Gästehauses einen Bewusstseinsprozess zu initiieren. Dabei geht es darum, dass wir uns miteinander klar werden darüber, was es heißt, in einem benediktinischen Gästehaus zu arbeiten. Sehr bewusst sprechen wir dabei von Gästehaus. Wir sind kein Hotel, sondern ein benediktinisches Haus. Das heißt u. a., dass wir in den Zimmern auf Komfort verzichten, es in den Zimmern keinen Fernseher oder WLAN gibt – wegen der Stille, die viele bei uns suchen. Es heißt aber v. a. auch, dass das Team des Gästehauses in seiner Arbeit durch gewisse Haltungen geprägt ist. Sogenannte Leitlinien wurden erarbeitet. Zu ihnen gehört u. a., dass wir uns im Team, aber auch den Gästen gegenüber um eine Atmosphäre des Vertrauens bemühen und wir Menschen des Friedens sind.

Deutlich wird das u. a. daran, dass jeder Gast, der anreist, an der Rezeption freundlich empfangen wird. Viele der Gäste kennt man über Jahre, weiß um ihre Familien, die Situation zuhause etc. Man spricht kurz miteinander, tauscht sich aus, hat ein offenes Ohr. Eben wie wenn ein Familienmitglied zu Besuch kommt.

Die Konsequenz

In all dem hier Geschriebenen mag deutlich geworden sein, wie vielfältig Seelsorge, Kirche an einem Anders-Ort sein kann. Das Entscheidende mag wohl sein, dass Menschen Raum haben, ihrer Sehnsucht nachgehen zu können, zu suchen, Gott zu suchen. Und ihn zu finden; nicht, wie er vorgeschrieben ist, sondern so, wie er sie im Herzen berührt und sie ihn für sich entdecken können. Und das kann für jeden etwas anderes bedeuten. Als Benediktiner schaffen wir Raum für diese Suche, ohne vorzuschreiben, wie das Finden auszusehen hat. Soweit ich das bei Menschen beobachte, haben viele von ihnen eine spirituelle Sehnsucht, sind nicht per se areligiös. Sie finden nur in der Kirche nicht mehr das, was sie suchen, wonach sie sich sehnen.

Auch wir gut 80 Mönche hier vor Ort sind ganz unterschiedlich. Auch wenn wir alle den gleichen schwarzen Habit tragen, so definiert doch jeder Gott anders für sich, sind seine Gründe, Mönch zu sein, jeweils andere, hat jeder seine Überzeugungen und seine Ansicht zu Kirche, Reformen etc. Und keiner spricht dem andern sein Mönchsein und sein Christsein ab. Vielleicht wäre das eine Zielperspektive für Kirche von heute: Räume zu öffnen, in denen Menschen eingeladen sind, ihrer Sehnsucht zu folgen, Gott für sich zu entdecken, Erfahrungen zu machen, die in kein Dogma oder keine Regel passen, und darin neue Vielfalt entstehen zu lassen.