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Zwischen Bedeutungsverlust und Neuverortung

Ergebnisse des Religionsmonitors 2023 zur Zukunft der Kirchen

Der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung liefert zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen nun wieder aktuelle Daten, die für 2023 in zeitlichen Abständen zu aktuellen definierten Themen gebündelt publiziert werden. So wurden im Dezember 2022 in einer Vorschau Ergebnisse zur Zukunft der Kirchen in einer sich vielfältig ausdifferenzierenden Gesellschaft in einer Kompaktversion veröffentlicht. Dabei ist es besonders interessant, dass der Religionsmonitor auf Ergebnisse anderer einschlägiger Studien verweist und diese im Langzeitschnitt ergänzt bzw. aktuelle Veränderungen sichtbar werden.

Interessant sind die Daten, weil sie Bezug auf die hinter uns liegenden Krisen wie die Migrationskrise 2015/2016 und die Pandemiekrise nehmen und angesichts des jetzigen Dauerzustands „Krise“ fragen, wie Religion und Glaube sich in Zeiten der Krise darstellen. Es geht den Forscher:innen der Bertelsmann Stiftung immer auch um die Rolle, die Religion in ihren vielfältigen Erscheinungsformen (und das sind eben nicht nur die institutionellen) für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland einnimmt. Im Vergleich mit den Daten des Religionsmonitors von vor zehn Jahren (2013) lassen sich so wichtige Entwicklungen im Zeitvergleich aufzeigen.

Demnach kann gesagt werden, dass der „viel zitierte Säkularisierungstrend in Deutschland – zumindest auf gesellschaftlicher Ebene – fortschreitet“ (S. 3) Die Daten der Fragen nach religiöser Sozialisation, Bedeutung des Glaubens an Gott sowie Gebetspraxis, die alle Teil der Messung eines allgemeinen Grades von Religiosität sind, zeigen deutlich, dass hier die Kennzahlen weiter sinken. Ein Drittel der Befragten bezeichnet sich als gar nicht religiös, vor zehn Jahren war das noch jede:r Vierte. Nur noch 16 Prozent (4 Prozentpunkte weniger als 2013) stufen sich selbst als ziemlich oder sehr religiös ein.

Da es eher die jüngeren Generationen sind, bei denen der Anteil religiös sozialisierter Menschen abnimmt, kann man von einer Kohorten-Säkularisierung sprechen, die sich offenbar immer mehr verfestigt, da eben auch viele säkulare Sinnangebote zu den religiösen in Konkurrenz stehen.

Dennoch, so die Forscher:innen, zeigt sich trotz des Rückgangs religiöser Praxis und kirchlicher Bindungen immer noch eine Mehrheit der Menschen, die sich zumindest als mittel oder wenig religiös einstuft (zwei Drittel), 75 % glauben zumindest an Gott, auch wenn der Glaube gering ausgeprägt ist. Zu dem allgemeinen Trend der Säkularität hinzu zeigt sich also dennoch auch eine durchaus valide Prägung durch Religion in einer privaten Weise und in vielfältigen Gestaltungsformen; nur für eine Minderheit in Deutschland spielt Religion im Alltag überhaupt keine Rolle.

Neben dem Verlust zeigt sich überdies – vor allem durch Zuwanderung – ein Trend der Pluralisierung von Religion. Deutschland entwickelt sich so zunehmend zu einem multireligiösen Land mit vielen religiösen Minderheiten, deren größte nicht-christliche wohl der Islam in seinen verschiedenen Schattierungen sein dürfte.

Auch bei der Nutzung von religiösen Angeboten institutioneller Anbieter (also bspw. der Besuch von Gottesdiensten der Kirchen) ist ein Rückgang festzustellen. Mit 14 % besucht nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst, vor zehn Jahren waren es noch 25 %. Besonders stark ist der Trend der Abnahme von Beteiligung bei den Kirchenmitgliedern selbst zu beobachten. Es entsteht also zunehmend so etwas wie eine „passive“ Kirchenmitgliedschaft, die dann verständlicherweise auch vermehrt die Frage aufkommen lässt, ob sich die Kosten der Mitgliedschaft überhaupt noch „lohnen“. Mitglieder, die sowieso nur eine lose Bindung haben, äußern eine höhere Neigung zum Kirchenaustritt, sie haben also bereits eine Geschichte der Entfremdung von ihrer Kirche und den traditionellen Formen von Religiosität hinter sich.

Es verfestigt sich also ein Trend, dass religiöser Glaube nicht notwendig an die Institution Kirche gebunden ist, sondern eher im privaten Bereich verortet wird. Sicherlich werden Formen der inneren Auseinandersetzung um den Weg in die Zukunft und den Grad an Reform und Modernisierung einerseits (Beteiligungsmöglichkeiten, Frauenrollen, Sexualmoral), aber auch der Verlust des Vertrauens wegen diverser Skandale (sexueller Missbrauch, dessen Vertuschung, Finanzgebaren, Hierarchiefixierung und autoritäres Gebaren etc.) ihren Anteil daran haben, dass viele Mitglieder mit ihrer Kirche hadern.

Die Austritte aus den beiden großen Kirchen bewegen sich derzeit auf einem historisch hohen Niveau und dürften wohl dazu führen, dass die Prognose der Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer #projektion2060, die bis zu diesem Jahr eine Halbierung der Mitgliederzahlen vermutet, sich möglicherweise noch als zu optimistisch herausstellen könnte. Jedes vierte Mitglied hat bereits schon über einen Austritt nachgedacht, jedes fünfte hat eine feste Absicht, dies zu tun.

Mit den Kirchenmitgliedern als Minderheit an der Bevölkerung geht jedoch – so die Bertelsmann Stiftung – auch ein Schwinden der Legitimationsgrundlage der Kirchen als Institutionen in der Gesellschaft einher, weil sie eben immer weniger Mitglieder repräsentieren.

Es zeigt sich also, dass ein allgemeiner Trend der Säkularisierung fortschreitet, religiöse Praxis als private und in vielfältigen Formen hingegen dennoch auf einem gewissen Niveau vorhanden, wirksam und deutungsrelevant bleibt. Insbesondere in Beiträgen zur Daseinsvorsorge und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt (Flüchtlingshilfe, Nachhaltigkeit etc.) sind Menschen mit religiöser Orientierung nach wie vor engagiert. Möglicherweise müssen die Kirchen sich in einer veränderten Minderheitensituation neu organisieren und neue anschlussfähige Formen der Beteiligung – auch für Nicht-Mitglieder – generieren und ermöglichen.

Ein letzter Aspekt sind daher die durch eine gewachsene Form der Religionspolitik (Kooperationsmodell) den Kirchen in Deutschland eingeräumten gesellschaftlichen Privilegien und Einflussmöglichkeiten. Viele Befragte sind der Meinung, dass die Kirchen in Deutschland zu viel Macht haben. Hier zeigt sich deutlich der Wunsch nach einer religionspolitisch veränderten Rolle der religiösen Institutionen in unserem Land, was für politische Mandatsträger – gerade auch angesichts des massiven und dauerhaften Mitgliederschwunds der Kirchen – zu einer Neubewertung der Rechtspositionen, Betätigungsfelder in gesellschaftlichen Feldern (z. B. Rundfunkräte) und Zuwendungen (z. B. Staatsleistungen) für die Religionsgemeinschaften und zu neuartigen religionspolitischen Arrangements führen dürfte.

 

Nähere Informationen:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/religionsmonitor-kompakt-dezember-2022