Kirche neu denken
Ökumenisches Symposium zu Erprobungsräumen und Kirchenentwicklung
Darf es anders sein? Zumindest auch, auch mal? Und was heißt anders?
Das sind keine trivialen Fragen! Veränderungen, Innovationen, Experimente – all das steht im kirchlichen Raum immer noch häufig unter dem Vorbehalt der Erlaubnis, muss sich rechtfertigen. Dass sich das zunehmend ändert, liegt auch an den Erprobungsräumen der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Sie waren der Ausgangspunkt für das Symposium „Kirche neu denken – Kirche erproben. Auf der Suche nach neuen Formen kirchlichen Lebens“. Von vornherein als Hybridveranstaltung geplant, digitalisierte sich die Veranstaltung coronabedingt zusehends, so dass vom 22. bis 24. März 2022 nur wenige Beteiligte physisch im Augustinerkloster Erfurt anwesend waren; vor den Bildschirmen fanden sich dagegen zeitweise etwa 150 Personen ein. Das zeigt die breite Resonanz auf diese ökumenische, freilich stärker evangelisch geprägte Veranstaltung, die so durchaus – auch wenn keine Face-to-Face-Begegnungen möglich waren – auf breiter Front Vernetzung und Austausch ermöglichte.
Etwa über die Frage, was „Innovation“ eigentlich bedeutet. Gut verdeutlichen lässt sich das an den Erprobungsräumen der EKM: Seit 2015 werden mit diesem Programm neue Sozialformen von Kirche erprobt und gefördert – materiell, aber eher mehr noch durch Begleitung und Vernetzung. Diese sollen sich von herkömmlichen Kirchengemeinden unterscheiden – doch dieses Anderssein kann sich in ganz unterschiedlichen Aspekten ausdrücken und sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Das machte gerade auch die Evaluation einiger der mittlerweile über fünfzig Projekte deutlich, die beim Symposium ausführlich vorgestellt wurde: Teilweise verbleiben die Projekte doch deutlich in herkömmlichen Logiken und kirchlichen Praktiken und gehen nur in einzelnen Punkten (etwa stärkere Sozialraumorientierung) darüber hinaus.
Dennoch steckt darin deutliches kirchenentwicklerisches Potenzial – nicht nur, weil mittlerweile eine ganze Reihe von evangelischen Landeskirchen mit eigenen Programmen an die Erprobungsräume der EKM anknüpft. Auch in der EKM zeigt sich, dass sich das Bild von Kirche durchaus ändert und „Erproben“ zunehmend akzeptiert und geläufig wird. Das ist nicht selbstverständlich: In einer Runde, in der in Form eines Interviews vier Innovationsprogramme aus verschiedenen Landeskirchen und Bistümern vorgestellt wurden, wurde dann schon einmal berichtet, man sei mit einem „lächelnden Fallbeil“ begrüßt worden oder man hoffe, sich in zehn Jahren nicht mehr für seine Arbeit rechtfertigen zu müssen.
Wie viel anders darf und muss es also sein? Eine Frage, die bei der Tagung wiederholt thematisiert wurde! Braucht es radikale Innovation oder darf man sich mit inkrementeller zufriedengeben – die dann aber vielleicht in Wirklichkeit nur eine Optimierung des Bestehenden wird? Und weiterhin: Ist man auch bereit und imstande zur Veränderung dergestalt, dass man nicht Neues hinzufügt, sondern Altes weglässt und aufgibt?
Kirchlicherseits geht es derzeit aber offenbar nach wie vor meistens darum, erst einmal Blockaden und Trägheitseffekte zu überwinden und in Bewegung zu kommen. Die Erprobungsräume signalisierten die Erlaubnis zum Anderssein – mit dieser Aussage in seinem Vortrag dürfte Michael Herbst, der Leiter des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG), nicht alleinstehen. Und Jan-Christoph Horn, Kirchenentwickler im Bistum Münster, wies darauf hin, dass sich ein Kulturwandel nicht einfach machen oder gar erzwingen lässt – man könne die bestehende Kultur durch verändertes Verhalten höchstens „beeindrucken“; allerdings: Man müsse die Dinge auch oft genug anders machen und mit genügend Intensität anders, um (vielleicht) einen Kulturwandel zu bewirken.
Umgekehrt lief auf dem Symposium auch die Frage mit: Was ist mit dem Bisherigen? Mit den herkömmlichen, territorial orientierten Pfarreien und Kirchengemeinden, mit der „Volkskirche“? Hat das auch weiterhin seine Berechtigung? Ja, war durchaus immer wieder zu hören; auch dort werde wichtige Arbeit geleistet und gebe es auch Innovatives. Die Soziologin Maren Lehmann würdigte in ihrem Vortrag sogar die institutionelle Stabilität der Kirchen. Sie verwies aber auch darauf, dass Veränderung unausweichlich sei; und: Die Kirchen könnten viel Veränderung hinnehmen, weil sie enorm viel internen Konflikt aushielten.
Einen interessanten Blick von außen – aus dem Feld der Organisationsentwicklung – wirft hier das Konzept der Ambidextrie, das Gudrun L. Töpfer vom Thinktank Ambidextrie in einem Workshop vorstellte: Für das langfristige Fortbestehen einer Organisation oder eines Unternehmens ist es hilfreich, mit zwei „Betriebssystemen“ fahren zu können: im Exploit-Modus lässt man Eingespieltes, gut Funktionierendes möglichst reibungsfrei laufen; im Explore-Modus geht man auf Erkundung und experimentiert, um so einer veränderten Umwelt, sich wandelnden Rahmenbedingungen zu begegnen.
Nicht wirklich erstaunlich ist, dass Töpfer auch auf eine Neigung von Organisationen zum Exploit-Modus hinwies, die es auszugleichen gelte. Tendenzen, in Routinen zurückzufallen bzw. neue Routinen zu entwickeln, kennt man ja auch im kirchlichen Raum. (Und auf dem Symposium wurde auch die Frage angerissen, wenngleich auch nicht weiter behandelt, wie Erprobungsräume etc. letztlich zum neuen Normal werden können.)
Dass sich aber überhaupt erst einmal eine Offenheit für Veränderungen und das Erproben etabliert, ist eine Frage der Haltung oder eines Kulturwandels. Dafür brauche es auch einen Wandel des kirchlichen Blicks auf das Außen, auf die Gesellschaft, so Georg Lämmlin, der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI). Und Michael Herbst wies darauf hin, dass eine solche Transformation dauere, weshalb kirchliche Erprobungsräume auch eine langfristige Perspektive benötigten.
Es braucht aber auch das nötige Personal. Vor allem am dritten Tag ging es um die Konsequenzen für die Ausbildung von Haupt- und Ehrenamtlichen. Vereinzelt gibt es bereits Ausbildungsgänge für „Pioniere“. Doch damit stellen sich neue Fragen: Entwickelt sich hier ein neuer pastoraler Beruf – oder kommt es mehr darauf an, bereits pastoral Tätige fortzubilden? Vielleicht am besten beides!
Und letztlich geht es auch – wie eigentlich stets – ums liebe Geld. Warum müssen immer innovative Projekte schauen, wie sie sich finanzieren, oder werden sogar aufgefordert, Drittmittel einzuwerben, während das Bestehende ganz selbstverständlich weiter alimentiert wird – so eine Frage auf dem Symposium. Wie die Rückmeldung von Matthias Kreplin, Oberkirchenrat in der Evangelischen Landeskirche in Baden, als Tagungsbeobachter deutlich machte, spielen hier auch die Sparzwänge in Landeskirchen und Diözesen mit hinein und verlangen nach einer Neuverteilung der knapper werdenden Ressourcen.
Von einer „Ökumene der Sollbruchstellen“ sprach Simone Twents, Leiterin der strategischen Initiative für pastorale Innovation im Bistum Fulda, eine weitere Tagungsbeobachterin: Alle arbeiten sich an denselben Fragen ab. Dass dies im ökumenischen Austausch geschehen konnte, ist den Veranstaltern des Symposiums zu verdanken: der Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen (vrk), die die organisatorische Federführung übernommen hatte, dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI), dem Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald (IEEG) sowie der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP). Deren Leiter, Hubertus Schönemann, arbeitet übrigens auch im Fachbeirat der Erprobungsräume der EKM mit – ein Beispiel dafür, wie sich evangelische und katholische Kirchenentwicklung zunehmend verzahnen, was sich nicht zuletzt auch darin widerspiegelte, wie sich bei diesem Symposium evangelische und katholische Beiträge gegenseitig ergänzten.
Aus dem – leider etwas zu dicht gefüllten – Programm konnten in diesem Bericht nur ausgewählte Aspekte vorgestellt und nur einige der Referentinnen und Referenten genannt werden. Wichtiger ist aber, dass die Dynamiken der Veränderung, des Erprobens und der Kirchenentwicklung, die das Symposium zusammenführte, weiterlaufen und sich weiter verbreitern. Dazu mag dann auch der Tagungsband beitragen, der noch in diesem Jahr erscheinen soll.