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Unser gemeinsames Haus hat Risse - Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider … (Joel 2,13)

Die Welt kann mit einem renovierungsbedürftigen Haus verglichen werden. Wie ist es zu dieser Lage gekommen, was bedeutet es, in einem solchen Haus leben zu müssen, und vor allem: Wie kann Wandel erzeugt werden? Franz Gulde gibt dazu Antworten aus der praktischen Arbeit von MISEREOR heraus.

„Wir müssen unser verlorenes Gefühl der Ehrfurcht, der Ehrerbietung, des Respekts und der Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung zurückgewinnen.“
(Yolanda R. Esguerra, Philippinen)

„Ich sehe täglich, dass arme Menschen wegen Klimakatastrophen in die Städte abwandern und dort unter ungesunden Bedingungen leben. Es ist meine Pflicht, die Umwelt für uns und die zukünftigen Generationen zu retten.“
(Zahangir Alam, Bangladesch)

„Wir sind es leid, von Konzernen und unserer Regierung zu hören, dass sie ihr Bestes tun, um unseren Planeten zu retten. Wir brauchen kein Greenwashing und leere Versprechungen; wir brauchen einen Systemwechsel. Auf diese Weise wird Klimagerechtigkeit möglich sein.“
(Eloisa Mae Abejaron, Philippinen)

„Der zentrale Punkt ist, dass menschliche Entwicklung nur dann dauerhaft gesichert werden kann, wenn wir die Zerstörung der Ökosysteme und den gefährlichen Erdsystemwandel beenden. Wir müssen unsere Wirtschaften so organisieren, dass sie die Regenerationsfähigkeiten des Erdsystems nicht überfordern.“
(Prof. Dirk Messner, Deutschland)

Unser gemeinsames Haus

In der aktuellen Zeit über „Risse“ zu schreiben, die wir auf globaler Ebene wahrnehmen, führt unweigerlich dazu, den vor den Augen Europas stattfindenden Krieg in der Ukraine in den Blick zu nehmen. Zur Genese, den Auswirkungen und den Möglichkeiten der Eingrenzung dieses Krieges wird aktuell viel diskutiert und geschrieben. Wenn man jedoch über globale Risse nachdenken möchte, muss der Blick über den Krieg in der Ukraine hinausgehen, weil er – bei allen gravierenden Folgen für die Menschen, die davon betroffen sind – unseren Blick sehr stark auf einen Konflikt in einer Region einschränkt. Unsere Welt zeigt aber auch an vielen anderen Orten Risse, die wahrgenommen werden wollen, ja unser Planet als ganzer steht mächtig unter Spannung.

Für diesen Blick aufs Ganze steht auch Papst Franziskus mit seiner Enzyklika Laudato si’. Angesichts der globalen Entwicklungen mahnt er uns zur „Sorge für das gemeinsame Haus“. In Anlehnung an den Sonnengesang des heiligen Franziskus steht unsere Schwester, Mutter Erde, für dieses gemeinsame Haus (LS 1). Dieses Haus haben wir in den letzten Jahrhunderten bewohnt, aber zu wenig in den Erhalt und die Renovierung – die Erneuerung – investiert. Was es bedeutet, in einem renovierungsbedürftigen Haus zu wohnen, können wir uns alle lebhaft vorstellen: Das Dach ist undicht, der Abfluss verstopft, die Heizung streikt, die Fenster schließen nicht mehr richtig. Wie renovierungsbedürftig unsere Erde ist, wird uns täglich über das Fernsehen, die sozialen Medien und die Zeitungen vor Augen geführt.

So hat dieses Haus – nicht zuletzt seit der Industrialisierung und durch unsere Art zu wirtschaften – Risse bekommen, zunächst lokal, regional, mit der zunehmenden Globalisierung global wahrnehmbare Risse. Haben wir erst vornehmlich die sozialen Spaltungen wahrgenommen, so treten in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher auch die ökologischen Krisen zutage. Uns wird bewusst, dass alles mit allem verbunden ist – im Positiven wie im Negativen.

Einige exemplarisch ausgewählte Daten können veranschaulichen, wo wir aktuell stehen:

  • Im Jahr 2017 lebten 695 Millionen Menschen weltweit in absoluter Armut (von weniger als 1,9 Dollar pro Tag); das entspricht etwa 9,3 % der Weltbevölkerung. Über 40 % dieser Menschen leben in Subsahara-Afrika (bpb, THE WORLD BANK).
  • Die 42 reichsten Menschen weltweit verfügen über so viel Vermögen wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen.
  • Im Jahr 2017 flossen 82 % des weltweiten Wachstums in die Taschen der reichsten Menschen der Weltbevölkerung (Oxfam).
  • Die industrialisierte Landwirtschaft verbraucht 70 % der Land- und Wasserressourcen, erzeugt aber nur 30 % der Nahrungsmittel weltweit – Kleinbauernfamilien erzeugen 70 % der Nahrung, nutzen dazu aber nur 30 % der weltweiten Land- und Wasserressourcen (MISEREOR).
  • 82,4 Millionen Menschen sind auf der Flucht (UNO).
  • Ende 2020 gab es weltweit 55 Millionen Binnenvertriebene, 48 Millionen infolge von Konflikten und Gewalt, 7 Millionen infolge von Katastrophen in 104 Ländern und Territorien (IDMC).

Diese nackten Zahlen veranschaulichen, vor welchen Herausforderungen wir als Weltgemeinschaft stehen und welche Risse unser gemeinsames Haus bereits hat.

Risse decken auf

Beschädigen Risse ein bestehendes System, so sind sie aber nicht per se negativ zu beurteilen. Sie decken auf, wo Spannungen bestehen, wo etwas nicht mehr zusammenpasst, wo Veränderungen sich ihren Weg bahnen, wo Handlungsbedarf besteht.

Wir sehen, dass die Aufteilung in eine Erste, Zweite und Dritte Welt ein Ende gefunden hat. Heute sprechen wir von der Einen Welt. Eine Welt, dieser Begriff ist Wirklichkeit und Anspruch zugleich. Die Globalisierung hat die Länder und Kontinente immer enger zusammengeführt, die alten Spaltungen sind aber nicht überwunden, sondern wurden teilweise durch andere Kategorien ersetzt. So teilen wir unsere Welt beispielsweise in Industrieländer, Schwellenländer und Entwicklungsländer ein. Gleichzeitig hat das Nord-Süd-Paradigma an Plausibilität verloren. Wir beobachten, dass sich die Gesellschaften im geographischen Norden und Süden, im Osten und Westen immer mehr ähneln – mit positiven und negativen Konsequenzen. Die Schere zwischen Armen und Reichen öffnet sich in vielen Ländern weiter, aber Menschen aus den ärmeren Schichten haben ihre Lebenssituation auch verbessern können und es hat sich in vielen Ländern eine Mittelschicht ausgebildet. Weil die geographische Zuschreibung zwischen Süden und Norden die klassische Spaltung zwischen Armen und Reichen nicht mehr richtig abbildet, spricht man heute vom globalen Norden und globalen Süden. Will heißen, die Risse verlaufen aktuell nicht mehr entlang der geographischen Linien, sondern quer durch alle Gesellschaften in den Ländern des Nordens, Südens, Ostens und Westens: In den reichsten Ländern finden wir extrem arme Menschen und in den ärmsten Ländern finden wir extrem reiche Menschen.

Trägt das Nord-Süd-Paradigma nicht mehr, so prägt es dennoch häufig noch unser heutiges Denken und Handeln. Aktuell wird uns vielfach schmerzlich bewusst, wie stark koloniale Muster nach wie vor in uns präsent sind. Wunden, die jahrhundertelang durch die Kolonialisierung aufgerissen wurden, treten heute zutage. Verwundungen, die noch immer da sind, die nach Heilung verlangen. Prozesse der Dekolonialisierung werden angestoßen, aber es bleibt noch viel zu tun.

Leave no one behind

Angesichts dieser Situation haben sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen mit der Agenda 2030 im Jahr 2015 auf 17 Nachhaltigkeitsziele verpflichtet. Alle Ziele fokussieren die Forderung, dass niemand zurückgelassen werden sollte – leave no one behind! Das macht deutlich: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Wie schwer es ist, diese Forderung einzulösen, springt uns jeden Tag aus den Medien ins Auge und dringt unüberhörbar an unsere Ohren. Während wir das Geschenk von über 70 Jahren Frieden in Europa im Rücken haben und in einer Gesellschaft leben, die den weitaus meisten Menschen ein Auskommen sichert, sehen wir Bilder von militärischen Konflikten und Kriegen, wie in der Ukraine, in Syrien oder dem Jemen, von Naturkatastrophen, beispielsweise auf den Philippinen, wir sehen Menschen auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt, Katastrophen und wir hören Stimmen von Menschen, die alles verloren haben, ihr Dach über dem Kopf, ihre Heimat, ihre Zukunftsperspektive.

Angesichts der äußeren Zerrissenheit durchleben wir eine innere Zerrissenheit. Wir stellen uns Fragen: Wie viele von diesen Nachrichten lassen wir an uns heran, was blenden wir aus? Was können wir und was sind wir bereit zu tun, damit alle Menschen in Würde leben können?

Fastenzeit

Wir Christinnen und Christen haben gerade mit der Feier des Osterfestes die Fastenzeit hinter uns gelassen, die österliche Bußzeit, Zeit der Besinnung, der Umkehr, des Perspektivwechsels. 1958 haben die Bischöfe das Werk MISEREOR gegründet und ihm die Gestaltung einer Fastenpastoral – der Fastenaktion – ins Stammbuch geschrieben. So ist MISEREOR seit über 60 Jahren auf dem Weg, das Fasten von seinem Auftrag her immer wieder neu zu buchstabieren – im Angesicht der globalen Krisen, Spaltungen und Herausforderungen. Das Werk weiß sich dabei getragen von der hoffnungsstiftenden christlichen Botschaft, den ermutigenden Projekten, die die Partner in Afrika, im Nahen Osten, in Asien und Ozeanien, in Lateinamerika und der Karibik auf den Weg gebracht haben und immer wieder neu bringen, dem internationalen Dialog und der vielfältigen Unterstützung von Einzelpersonen, Gruppen, Verbänden, Schulen und Pfarreien in Deutschland.

Es geht! Gerecht.

Die radikale Botschaft des Evangeliums und die globale Verbundenheit in der Weltkirche, mit kirchlichen und nichtkirchlichen Partnerinnen und Partnern, sind ein Geschenk, ein starkes Potential, sich den Verwundungen und Rissen zu stellen. Der Dialog und die persönlichen Begegnungen nähren unsere Hoffnung, setzen Kreativität frei und machen Mut: Es geht noch was in unserer Welt.

Weil noch etwas geht, deshalb hat MISEREOR mit der Fastenaktion 2022 den Blick auf die globale Klimakrise gelenkt. „Die schleichenden Naturkatastrophen wie Dürre oder der Anstieg des Meeresspiegels und auch plötzliche Naturkatastrophen wie Wirbelstürme oder Starkniederschläge richten besonders in den Entwicklungsländern verheerende Schäden an“, schreibt Anika Schroeder (MISEREOR) in einem Beitrag zur Fastenaktion. Die Klimakrise trifft zuerst die Verletzlichsten, die Armen, so z. B. die Menschen in Bangladesch und auf den Philippinen, die noch in den Uferzonen von Meeren und Flüssen leben oder die bereits ihr Zuhause verlassen mussten, wie die ca. 1.400 Menschen, die in Bangladesch täglich von den Küsten des Meeres und der Flüsse in die Hauptstadt Dhaka ziehen, um dort eine sicherere Heimat zu suchen. Die Lebenssituation dieser Menschen wie auch die der von der Flut im Ahrtal und im Rheinland im Sommer 2021 Betroffenen führt uns vor Augen, dass die Klimakrise real ist. Sie reißt Menschen heraus aus ihren sozialen Netzwerken, aus ihren Häusern, ihren Berufen, von ihrem Land. Risse tun sich auf, Wunden schmerzen.

Es mangelt nicht an Wissen über die Ursachen der Krise. Sie ist menschengemacht. Wir leben im Anthropozän. Müssen wir nicht resignieren angesichts dieser bedrohlichen Entwicklungen?

Wenn wir die Fachleute, beispielsweise den IPCC (Weltklimarat), ernst nehmen, wissen wir, dass wir die Klimakrise noch abwenden können. Wir wissen auch, die Zeit drängt. Und wir wissen, dass wir die Lösung nicht allein finden können, sondern nur im internationalen Dialog und mit gemeinsamen Anstrengungen in allen Ländern.

Du stellst meine Füße auf weiten Raum

Der Schmerz über die Brüche, die Verwundungen, das Gebrochensein spricht auch aus dem aktuellen MISEREOR-Hungertuch, das die Künstlerin Lilian Moreno Sanchez gestaltet hat. Konfrontiert mit dem Röntgenbild eines gebrochenen Fußes – brutale Folge von Protesten gegen soziale Ungerechtigkeit in Chile im Jahr 2019 – spüren wir den Schmerz. Jede und jeder weiß, was es bedeutet, wenn man eine Verletzung am Fuß hat. – Die Botschaft des Hungertuches lässt uns aber nicht mit dieser schmerzhaften Erfahrung zurück. Die Risse und Brüche im Stoff des Hungertuches (Bettwäsche aus einem Krankenhaus und einem Kloster) bleiben nicht offen. Sie sind mit Nähten verschlossen, mit goldenen Nähten, die wiederum goldene Blüten hervorbringen. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum – die Kraft des Wandels“: Aus der Zusage unseres Gottes (Psalm 31,9) schöpfen wir Kraft für den Wandel, wenn die Herausforderungen und Risse auch noch so groß erscheinen. Diese Hoffnungsbotschaft verbindet die Künstlerin – angesichts der politischen Situation in Chile während der Entstehung des Werkes – mit dem Hungertuch und macht uns Mut, uns für den Wandel einzusetzen.

Die Kraft des Wandels

Die Kraft des Wandels ist konkret spürbar: Es gibt an vielen Orten unserer Erde Menschen, die bereit sind, ihr Leben zu verändern, die nach Lösungen suchen, wie die Erwärmung der Erde eingedämmt werden kann. Menschen, die ihr Leben wieder an dem orientieren, was uns mit Gottes Schöpfung zur Sorge anvertraut wurde, die die Natur nicht ausbeuten, sondern versuchen, mit ihr in Einklang zu leben.

Da sind die Menschen in Cebu City, die sich für den Erhalt von Grünflächen und für eine klimafreundliche Mobilität in ihrer Stadt einsetzen, die sich durch das Pflanzen von Bambus und Mangroven vor Überflutungen schützen.

Da sind die Menschen in Davao, die sich für den Erhalt alter Bäume einsetzen, um die Überhitzung der Stadt zu vermeiden, die sich für ein Radwegenetz stark machen, damit alle Menschen, arme und reiche gleichermaßen, sicher unterwegs sein können.

Da sind die Menschen in Dhaka, die die Dächer ihrer Häuser mit Gemüse bepflanzen, um der Hitze zu trotzen und gleichzeitig für ihre Ernährung zu sorgen.

Die Partner von MISEREOR zeigen uns: Es geht! Gerecht.

Und was können wir beitragen? Die Kernbotschaft der MISEREOR-Fastenaktion kann uns einen Hinweis geben.

In sich gehen. Außer sich sein.

Fasten heißt Fragen: Woraus lebe ich? Wofür setzen wir uns ein? Was können wir teilen?

In der Fastenaktion finden wir Antworten und handeln gemeinsam. Gegen globale Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Schöpfung. Mit Aktionen, Spenden und unserer politischen Stimme.
 

Risse sind da, überall auf der Welt, in allen Kontinenten, auch in Europa.

Es bleibt uns nicht erspart, diese Risse wahrzunehmen, den Schmerz darüber an uns heranzulassen. Das Zutagetreten der Risse öffnet uns zugleich die Augen und Herzen, um die Notwendigkeit und Möglichkeiten des Wandels zu erkennen. „Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider“, ruft uns der Prophet Joel zu (Joel 2,13).

In unserem renovierungsbedürftigen Haus müssen wir nicht in Ohnmacht verharren, sondern wissen uns von Gott getragen und über die Kirche mit Menschen weltweit verbunden. Diese Verbindungen sollten wir pflegen, im Aufeinander-Hören, in der Reflexion unserer Denkmuster, im Dialog. Nur gemeinsam können wir Perspektiven für die Zukunftsfähigkeit unseres Planeten entwickeln.

Vielfältig und bunt

Dabei werden wir entdecken, dass es nicht die eine Lösung gibt. Nimmt die Polarisierung durch Autokraten in vielen Ländern weltweit beängstigend zu, so werden wir die Herausforderungen nicht durch die Bündelung von Macht lösen können. Konzentration von Macht verstärkt die Risse – diese Erfahrung machen wir auch gerade schmerzlich in unserer Kirche. Wir brauchen die Buntheit des Wissens und das Handlungspotential möglichst vieler unterschiedlicher Menschen, um gemeinsam und an den je unterschiedlichen Orten unserer Erde beherzt nach Lösungen zu suchen. Weil die Lösungen nicht immer leicht zu identifizieren sind, braucht es wache Augen, offene Ohren, ein weites Herz, zupackende Hände, Räume zum Experimentieren und die Freiheit, Fehler machen zu dürfen, um daraus zu lernen.

Dabei helfen können uns – in der Kirche, der Gesellschaft und der Politik – Räume der internationalen Begegnung und des Austausches. Die Umweltreferentinnen und ‑referenten in den Diözesen, die Kolleginnen und Kollegen in den Diözesanstellen Weltkirche und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kirchlichen Hilfswerke sind gerne ansprechbar. Wenn wir uns darauf einlassen, unser Potential zu nutzen, können die Risse in unserem baufälligen Haus zur Kraft des Wandels werden hin zu einer friedvollen, gerechten und für alle Menschen lebenswerten Welt. Dann können wir als Christinnen und Christen die Botschaft der Auferstehung in der Welt spürbar werden lassen – in unserer Familie, in der Pfarrei, der Schule, in Gruppen und mit unserer politischen Stimme.