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Überpinselt die Risse nicht!

Nicht nur die gesellschaftlichen Risse, die sich in der Coronapandemie gezeigt haben, sondern auch die innerkirchlichen Rissbildungen haben mit der (De‑)​Konstruktion von Identität(en) zu tun. „Überpinselt die Risse nicht!“, ist das Plädoyer von Paulina Pieper (in Anlehnung an einen Vortrag von Karl Rahner aus dem Jahr 1962). Sie zeigt Ansätze dafür auf, wie Risse bearbeitet werden können, und erklärt, welche Rolle Kintsugi dabei spielt.

Quer über die Wohnzimmerwand meines Elternhauses verlief eine Zeit lang ein dunkler und unregelmäßiger Riss. Er entstand 2008, als in der Nacht vom 23. auf den 24.12. in Folge eines adventlichen Beisammenseins bei Plätzchen und Glühwein am Feuerkorb der an diese Außenwand grenzende Geräteschuppen in Flammen aufging. Ich erinnere mich gut daran, wie das Feuer neben dem Haus waberte und drohte, auf das gesamte Gebäude überzugreifen. Obwohl das Haus weitgehend unbeschadet blieb und wir den Heiligabend wie gewohnt unter dem bereits geschmückten Weihnachtsbaum in der guten Stube verbringen konnten, blieb dieser Riss, der dem Urteil der Versicherungsingenieure zufolge keine Auswirkungen auf die Statik des Gebäudes haben sollte, für mich wie ein Mahnmal. Denn mir stellte sich immer die Frage, ob man einen solchen Riss einfach ignorieren sollte. Wissen wir, wie es in der Wand dahinter aussieht? Kann er zum Einfallstor für Faktoren werden, die Erosion begünstigen und auf lange Sicht zum Einsturz führen? Wenn ich länger hinschaute, fragte ich mich außerdem: Ist der Riss nicht mit der Zeit größer geworden?

Risse in der Gesellschaft

Das Bild des Risses, der sich durch ein stabil wirkendes Konstrukt zieht, wird häufig verwendet, um darauf hinzuweisen, dass etwas droht auseinanderzubrechen. Der Clou daran ist, dass der Riss ein äußerlich sichtbares Zeichen für innere Auseinandersetzungen ist, denn Risse entstehen physikalisch betrachtet in der Regel dort, wo die Spannung im Inneren eines Objekts zu groß wird.

Daher ist häufig in durch Krisen ausgelösten Debatten von Rissen die Rede, bei denen es um Verantwortlichkeit (Flüchtlingskrise 2015), Abhängigkeit (Finanzkrise 2008) oder die Fragilität unserer Systeme (Coronapandemie 2020), immer aber auch um die Agilität von Staat und Politik und um Rechte von Bürger:innen geht. In den Debatten der vergangenen Jahre zeigte sich dabei eine wiederkehrende Dynamik: Risse im gesellschaftlichen Gefüge werden proklamiert, wenn die Auseinandersetzungen hitzig werden, wenn also die Spannung steigt – und Spannungen nehmen immer dann zu, wenn die individuelle Betroffenheit stärker zu spüren ist. Dies ist in der Regel der Fall, wenn es um grundlegende Menschen- und Freiheitsrechte geht und die Auswirkungen nicht nur ein abstraktes Konstrukt wie den Staat, die Politik oder das Wirtschaftssystem betreffen, sondern jede:r Einzelne sie zu spüren bekommt.

Unter dem Titel „Pandemiese Umgangsformen“ besprechen Uli Sann und Frank Unger in der Ausgabe 18/2022 der ZEIT Ursachen und mögliche Lösungsansätze der anhaltenden Auseinandersetzungen um den Umgang mit COVID-19 in Deutschland und diagnostizieren, dass „die Risse in der Gesellschaft bleiben“ (Sann/​Unger 2022), obwohl der Peak der letzten Welle überschritten scheint. Eine Ursache dafür finden sie im psychologischen Phänomen der Reaktanz: „Wir mögen es nicht, uns von etwas verabschieden zu müssen. Wir wollen recht haben. Wir verteidigen hartnäckig Gewohnheiten und Denkroutinen. Der Schritt aus der Komfortzone eigener Gewissheiten ist schwer, weil er Verunsicherung bringt und das Gefühl von Kompetenzverlust“ (ebd.). Im Zusammenspiel von Reaktanz und dem sogenannten Korrekturreflex entsteht eine Dynamik, in der freundliche Gespräche zu lauten Diskussionen oder gar Streitereien um die Frage nach dem richtigen Ansatz werden. Solche nach und nach eskalierenden Auseinandersetzungen um Bildungschancen, Geschlechtergerechtigkeit oder soziale Anliegen haben – um im Debatten-Sprech zu bleiben – auch in den vergangenen Jahrzehnten schon bleibende Risse hinterlassen. Angesichts gegenwärtiger Krisen, bei denen erneut Grundzüge unseres mitteleuropäischen Gesellschaftsvertrags verhandelt werden, spitzt sich die Situation jedoch zu, weil die sich gegenüberstehenden Positionen zunehmend unvereinbar scheinen.

Brennglas Kirche

Diese Beobachtung aus gesellschaftspolitischen Bereichen lässt sich wie unter einem Brennglas auch im kirchenpolitischen Kontext machen. Bei Korruptionsaffären in Wirtschaft und Politik geht es letztlich um den Missbrauch von Machtstrukturen – ein struktureller Missstand, der in der Kirche seit der MHG-Studie auf erschreckende Weise aufgebrochen ist. Der Diskurs über Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen in allen Belangen darf zwar auch im gesellschaftspolitischen Kontext nicht verstummen, solange die paritätische Besetzung einer Regierung ein Problem oder der Gender-Pay-Gap-Tag bereits Anfang Oktober zu vermerken ist, aber von den staatlichen Standards für Gleichberechtigung ist die katholische Kirche noch weit entfernt. Die Frage nach der Verfasstheit unseres Staates scheint sich angesichts von Querdenker- und Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen erneut zu stellen – mindestens genauso dringlich muss aber die Frage nach der Verfasstheit einer im Wesenskern synodalen Kirche bedacht werden, der jene ursprüngliche Form von Synodalität als Weggemeinschaft, in der alle den gleichen Gehsteig nutzen, über die Jahrhunderte verloren gegangen ist.

Innerkirchlich gilt dabei zwar, dass die Diskussion um Machtmissbrauch, Priesteramt, Verfasstheit der Kirche und Gleichberechtigung erst seit einigen Jahren wieder öffentlichkeitswirksam geführt wird; befasst man sich jedoch aufmerksam mit den innerkirchlichen Debatten, wie sie vor fünfzig Jahren rund um das Zweite Vatikanische Konzil stattfanden, zeigt sich, dass die einzelnen Themen alles andere als neu sind. Bereits 1962 warnt der Konzilstheologe Karl Rahner eindringlich davor, sich im Ringen um die wichtigen Fragen nicht weit genug vorzutrauen und stattdessen dem Gewohnten verhaftet zu bleiben: „[…] wir müßten [heute; P. P.] fragen: Wie weit darf man unter Ausnützung aller theologischen und pastoralen Möglichkeiten gehen, weil die Lage des Reiches Gottes sicher so ist, daß wir das Äußerste wagen müssen, um so zu bestehen, wie Gott es von uns verlangt“ (Rahner 1962). Dass diese Forderung angesichts gegenwärtiger Problemstellungen aktueller denn je scheint, gibt einen Hinweis darauf, warum die Konfliktlinien zwischen den Verfechtern der Tradition und eher progressiv ausgerichteten Gruppierungen tief sind, und lässt vermuten, dass lange existierende „Risse“ nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil oft nur übermalt wurden.

Hinzu kommt, dass die Rahmenbedingungen kirchenpolitischer Auseinandersetzungen wie ein Katalysator für die Dynamik aus Reaktanz und Korrekturreflex wirken. Einerseits wurden diejenigen, die vom Diskurs betroffen sind, bisher kaum in die Entscheidungsfindung einbezogen. Andererseits geht es für kirchliche Entscheider (in letzter Konsequenz sind es eben doch nur Männer) nicht, wie in der Politik, darum, die nächste Wahl zu gewinnen oder einen vermeintlichen Konsens bzw. eine kurzfristige Lösung mit dem größtmöglichen Nutzen und dem geringsten Schaden zu finden. Die Kirche hat den Auftrag, den Willen Gottes zu erkennen und ihm zu folgen. Obwohl den meisten Menschen wohl bewusst ist, dass es mit menschlichem Ermessen kaum möglich ist, den Willen Gottes eindeutig zu erkennen, trägt dieser Umstand selten zur Beruhigung von innerkirchlichen Konflikten bei. Das Fatale an der Situation ist derzeit, dass nicht absehbar ist, wann und wodurch sich die Diskussionen der erhitzten Gemüter beruhigen werden.

Ein Riss im Wir

Für die beiden Zeitautoren Sann und Unger besteht eine Lösungsstrategie im Umgang mit sich verschärfenden Debatten zuerst einmal im Zuhören; sie plädieren dafür, das Gegenüber reden und schimpfen zu lassen und selbst möglichst arglos nachzufragen (vgl. Sann/​Unger 2022).

Diese Strategie entspricht einer geistlichen Haltung, die sich die katholische Kirche in Deutschland nicht erst für den Synodalen Weg, ihren gegenwärtigen Versuch, den Willen Gottes zu erkennen und ihn im Lichte der Zeichen der Zeit in eine umsetzbare Form zu gießen, zu eigen gemacht hat: Der Weg ist ein Gesprächsprozess, bei dem in erster Linie einander zugehört werden soll. Dabei ist immer wieder die Rede von einem fast schon homiletischen Wir. Doch wer ist dieses Wir? Wir, die katholische Kirche in Deutschland? Wir, die entscheidungsbefugten Priester? Wir Laien im ehrenamtlichen Dienst? Wir Kirchgänger:innen? Würde man das Wir der Texte vom Synodalen Weg de- und rekonstruieren wollen, so zeigte sich vermutlich, dass kreuz und quer durch dieses Wir eine Vielzahl von Rissen verläuft, entlang derer sich die katholische Kirche in Deutschland in unzählige kleine Splittergruppierungen zerteilen lässt. Außerdem gilt es anzufragen, ob ein vereindeutigtes (vgl. Bauer 2018) Wir, für das ein Konsens erzielt werden könnte, das sich also einig mit sich selbst wäre, überhaupt erstrebenswert ist: Gehört die Vielfalt an Lebens- und Glaubenspraktiken nicht zum Wesen der christlichen Gemeinschaft? Mit Rahner gesprochen: „Wir Christen werden und sollen verschiedene Tendenzen haben, es braucht nicht jedes für jeden positiv zu passen. Liebe, die auf Uniformität aufbauen würde, wäre leicht. In der Kirche aber soll der Geist der Liebe herrschen, […] die den anderen auch annimmt und gelten lässt, wo man ihn nicht mehr versteht“ (Rahner 2013, 29).

Ein Riss in der einen katholischen Identität

An der Vorstellung eines Wir als uniformer Masse, die einen Konsens bezüglich Streitfragen erzielen soll, zeigt sich eine andere, hinter den konkreten Themen liegende Frage, die so alt ist wie das Christentum selbst: Wer gehört (noch) dazu und wer nicht (mehr)? Was ist katholisch und was nicht?

Es geht in gegenwärtigen kirchenpolitischen Debatten – mal wieder – um die Frage nach einem einheitlichen Profil, nach einer katholischen Identität, deren Beantwortung von einer in der christlichen Tradition begründeten Abgrenzung nach außen geprägt ist. Der Vers „Weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt“ (Joh 15,20) scheint das christliche Selbstverständnis von Beginn an zu prägen. Das Gefühl, anders, ja etwas Besonderes zu sein, ist uns Christ:innen implementiert. Dieses Gefühl, gewollter- und gerechtfertigterweise anders zu sein, machte die Kirche als Gemeinschaft gläubiger Christ:innen nachhaltig zu einem Gegenüber zur Welt und legitimierte ebenjene Abgrenzung nach außen, die bereits in den Paulusbriefen, spätestens aber mit den ersten ökumenischen Konzilien einsetzte. Durch inhaltliche und formale Abgrenzung wurde schon früh mit quasi lehramtlicher Autorität entschieden, was Häresie, was Orthodoxie bzw. Orthopraxie, was also rechtmäßig und was abtrünnig ist. Während andere christliche Glaubensgemeinschaften sich eine gewisse Form der Vielfalt in Lehre und Praxis bewahren konnten, könnte man mit Blick auf die römisch-katholische Kirche überspitzt sagen: Sie glaubt noch immer, dass sie als die eine heilige katholische Kirche, also als Auserwählte der einen (r)echten und unumstößlichen Wahrheit folgt – die vor allem in der einen rechten Formulierung von wahren Sätzen z. B. in Handlungstexten zum Ausdruck kommt.

Hinter der Suche nach rechten Formulierungen, die im Synodalen Weg unter großem bürokratischem Aufwand durchexerziert wird, steht wohl das Ringen um die rechte Glaubenspraxis. Doch die Gefahr besteht, dass die Geschichte sich wiederholt: Die Suche nach der einen rechten Formulierung oder Praxis grenzt systematisch aus, weil sie nie alles umschließen kann, was dazugehören will, weil sie – sofern sie keine rein negative Formulierung (weder – noch) sein will – immer im Sprachduktus des Sowohl-als-auch funktionieren muss und dadurch in der Schöpfungserzählung angelegte Dualismen (re‑)​produziert. So hat sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte um die Diversität der Geschlechter längst eine Haltung durchgesetzt, die Heteronormativität und das binäre Geschlechtersystem hinterfragt. Nimmt man diese Haltung ernst, reicht es längst nicht mehr, über die Frage nach der Öffnung der Ämter für Frauen zu sprechen. Sofern man das Amt öffnen wollen würde und in dieser Frage eine konsensfähige und zeitgemäße Formulierung finden wollen würde, die niemanden diskriminiert oder ausgrenzt, müsste aus einem fiktiven „sowohl Mann als auch Frau“ bald eine unendliche und vor allem unabgeschlossene Aufzählung von Geschlechtern werden (sofern davon ausgegangen wird, dass die deutsch-bürokratische Regelung des dritten „diversen“ Geschlechts mangels Ausdifferenzierung nur eine Übergangslösung darstellt). Jede Form eines dualistischen Abgrenzungsversuches, der sich einer genaueren Ausdifferenzierung verwehrt, würde hier ins Leere laufen.

Dass Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft häufig für Risse, die sich durch Gesellschaft und Kirche ziehen, verantwortlich gemacht werden, hat meist etwas mit einer fast platonischen Vorstellung von Einheit und Identität als dem heilen Ganzen zu tun: Es gibt das ganze, heile Eine, das unbeschädigt, abgeschlossen und vollendet ist. Dieses Eine ist gut, so wie es ist, und jede:r Einzelne kann sich ihm zurechnen, indem er:sie sich mit diesem Einen identifiziert. Darin klingen die Schöpfungsberichte an: Und Gott sah, dass es gut war – die Welt, die Menschen und die Beziehung zwischen ihm und den Menschen. Allerdings schuf Gott der christlichen Vorstellung nach nicht das Eine, sondern das Vielfältige. Denn die Einheit, die Gott ist und von der diese Welt und wir Menschen ein Teil sind, hat auch in den Schöpfungserzählungen nichts mit Einheitlichkeit im Sinne von uniformer Konsistenz zu tun. Wir müssen und es muss nicht alle/s gleich sein, um zu dieser Einheit zu gehören.

Lösungsstrategie: Richtungswechsel

Das österreichweite Projekt „Denk Dich Neu“, das neue Kontaktpunkte zwischen Kirche und jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren ermöglichen will, setzt in positiver Weise bei der Ausdifferenzierung an und wechselt die Blickrichtung. Auf einem zur Kampagne gehörenden Plakat sieht man eine junge Frau in zwei unterschiedlichen Haltungen, dazu gesellt sich der Claim: Hast du auf alles eine Antwort? Oder stellst du die richtigen Fragen?

Gemeint ist, dass es manchmal wichtiger ist, neue Fragen zu stellen, als nach neuen Antworten auf alte Fragen zu suchen. Wenn Einheit als Antwort auf die Frage „Wer und was kann alles zu uns gehören, damit wir weiterhin als die eine römisch-katholische Kirche wahrgenommen werden?“ gedacht wird, besteht die Gefahr, ein abgeschlossenes und ausgrenzendes Profil zu entwickeln, bei dem es weniger um die Beteiligten als vielmehr um die Perspektive der anderen Außenstehenden geht. Wechselt man jedoch die Blickrichtung, könnte man eine neue Frage stellen: „Was verbindet uns, die wir zueinander gehören wollen?“ Warum nicht eine Frage stellen, die davon ausgeht, dass es einen gemeinsamen Kern und viele Entfaltungsmöglichkeiten gibt? Denn was uns verbindet, ist doch letztlich immer der allen Rissen menschlichen Lebens zum Trotz bestehende unverbrüchliche Bund mit Gott; was uns verbindet, ist Jesus, der Christus. Natürlich ließe sich einwenden, dass man sich so mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufriedengibt. Aber ist dieser „kleinste“ gemeinsame Nenner nicht eine große Aufgabe, gerade weil er menschliches Handeln an die Person Jesu zurückbindet, dessen Wirken zuallererst in großer Liebe freigegeben hat, und weil die, die zueinander gehören wollen, dann an ihrem Handeln und nicht an Ritualen, Worten oder Kleidung erkannt und gemessen werden können?

Doch vielleicht steht dieser Lösungsstrategie nicht nur die von den ZEIT-Autoren angeführte Dynamik aus Reaktanz und Korrekturreflex, sondern vielmehr eine grundlegende Emotion menschlichen Lebens im Weg: die Angst. Risse sind angsteinflößend, weil an der Stelle, an der sie sich zeigen, etwas auseinanderzubrechen droht und weil wir in unseren leistungsorientierten und Heil-versessenen Gesellschaften erlernt haben, dass das, was Risse hat, brüchig wird. So dürfen auch Risse im eigenen Leben selten bestehen bleiben, sondern werden übermalt. Dabei sind es nicht immer nur die großen Verletzungen und schweren Wunden, die tragischen Krisen, die menschliches Leben fragil machen: Oft sind es die kleinen Ungereimtheiten im menschlichen Handeln, die Erosion bewirken. Doch sowohl das Erste als auch das Zweite Testament erzählen von JHWHs Unwillen zu akzeptieren, dass der akzidentielle Riss, der infolge von derartigen Ungereimtheiten – Sünden – in der Beziehung zwischen ihm und den Menschen entstanden ist, zum Bruch führt. Im Gegenteil: Immer und immer wieder fordert JHWH sein Volk dazu auf, trotz der vielen Risse auf den geschlossenen Bund zu vertrauen – und in dem Moment, in dem Israel sich ganz auf die Beziehung einlässt, zeigt sich stets, dass dieser Bund mit JHWH trägt. Und selbst als alles gegen die Wand gefahren scheint, schließt Gott letztlich einen neuen Bund mit den Menschen, einen Bund, der nicht gebrochen werden kann, der nicht nur sein Volk an ihn, sondern vor allem auch Gott an die Menschen bindet und in dem das Versprechen auf Gnade und Vergebung immer schon eingelöst ist. Sichtbar bleibt das Kreuz als Riss in der Geschichte, das daran erinnert, was diese unbedingte Vergebung beide Seiten gekostet hat.

Lösungsstrategie: Kintsugi

Der Brand in meinem Elternhaus ist zwar schon lange her und wir können mittlerweile am 23.12. darüber witzeln, ob nicht mal wieder jemand den Feuerkorb anmachen möchte. Die Wand im Wohnzimmer meiner Eltern wurde im Zuge von Malerarbeiten in einem sanften Ockerton gestrichen. Doch dort, wo vor meinem inneren Auge noch immer der Riss quer über die Wand verläuft, meine ich, wieder einen dunklen Schatten zu erkennen. Vielleicht hätte man den Riss füllen, ja kitten müssen, statt ihn nur zu überstreichen? Er ist nicht mehr sichtbar, aber heißt das auch, dass er verschwunden ist? Besteht nun nicht die Gefahr, dass der Riss in Vergessenheit gerät, obwohl er weiterhin Einfallstor für Schädlinge oder Erosion sein kann?

Mit der Idee, dass Risse und Brüchiges nicht übermalt, sondern gefüllt und gestaltet werden sollten, hantiert das asiatische Kunsthandwerk Kintsugi. Es ist eine Variante des Mosaik-Prinzips: Vasen, Teller oder Gläser, die drohen auseinanderzubrechen oder sogar bereits zerbrochen sind, werden wieder zusammengefügt, doch die Bruchlinien werden nicht versteckt, sondern mit goldenem Material gefüllt, sodass sichtbar wird, dass das neue Ganze in seiner aktualisierten Form nicht aus einem Guss, sondern aus vielen einzelnen Stücken entstanden ist. Was wäre, wenn wir in Gesellschaft und Kirche aufhörten, Risse in unserem Gefüge zu überpinseln, und stattdessen anfingen, sie zu thematisieren, sie vielleicht sogar mutig aufzubrechen? Wenn wir dann im neu entstandenen Ganzen mit ihnen arbeiteten, sie gestalteten und veredelten?

Wäre nicht gerade die Kirche prädestiniert dafür, mit den Rissen, die ihre äußere Hülle durchziehen und bis tief ins Innere reichen, auf diese Weise umzugehen? Wäre es nicht schön, in einer erneuerten kirchlichen Gemeinschaft mit vergoldeten Rissen daran erinnert zu werden, dass menschliches Leben in seiner individuellen und in seiner kollektiven Form zerbrechlich, aber höchst wertvoll ist? Was macht uns Angst an diesen Rissen? Schließlich dürfen wir darauf hoffen, dass Gott die sichtbaren Stellen, an denen etwas zu reißen droht, füllt, dass er Risse nicht nur übertüncht, sondern dass er sie im neuen Ganzen vergoldet und dass sie so zur Quelle für Neu‑Gestaltung von Leben werden. Vielleicht käme uns beim Anblick des goldenen Schimmers, der die kirchliche Gemeinschaft dann durchzöge, ja sogar eine Idee auf die fünfzig Jahre alte und unbeantwortete Frage Rahners: „Wissen wir eine Antwort, wenn einer uns fragt: was wollt ihr Christen in den nächsten zehn Jahren konkret, was wollt ihr heute erreichen, was noch nicht ist, aber nach euch werden soll, und zwar hier und jetzt und nicht nur in der Ewigkeit?“ (Rahner 1962).