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Risse in der Biografie

Chancen fürs Weitergehen

Wie gehen Menschen mit Umbrüchen in ihrem Leben und biografischen Rissen um? Monika Heilmeier-Schmittner stellt typische Muster und Dynamiken vor und zeigt auf, wie Biografiearbeit hilfreiche Ressourcen erschließen kann.

„There is a crack, a crack in everything.“ Leonard Cohen besang schon vor 30 Jahren den Riss in allem.

Risse erleben wir derzeit viele und vielerlei, in der Gesellschaft, aber auch in uns selbst.

Wir sehen Risse durch Perspektivlosigkeit und durch Trennungen, Risse nach einer Flucht, nach der Zerstörung von Lebensplänen und -hoffnungen, Risse, weil es uns schier zu zerreißen droht zwischen einem „normalen“ Alltagsleben und dem Wissen um die Krisen der Zeit – die Pandemie, der Krieg, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Wir erleben uns zerrissen zwischen Zuversicht und Optimismus auf der einen Seite und Verzweiflung und Sorge um uns und andere auf der anderen Seite.

Risse im Lebensverlauf können entstehen, wenn Menschen ihre Beheimatung verlieren. Das ist der Fall, wenn es in Familien Streit und Verwerfungen gibt, die unüberbrückbar erscheinen, und jemand deshalb den Kontakt zu Eltern bzw. Geschwistern abbricht. Dies kann auch sein, wenn jemand aus beruflichen oder anderen Gründen weit wegzieht. Zunehmend erleben wir hautnah die Situation, dass die Lebensbedingungen unerträglich werden, weil Klimaveränderungen oder Krieg ein Weiterleben am vertrauten Ort unmöglich machen und die Menschen fliehen müssen. Risse in Lebensläufen geschehen auch, wenn die Menschen zwar dableiben, doch die Umgebung sich fundamental verändert. Auf das letztgenannte Phänomen hat Beate Mitzscherlich bei einer Fachtagung zur Biografiearbeit in München hingewiesen und ihre eigene Erfahrung mit dem Fall der Mauer und der Wende beschrieben. Von analogen Erfahrungen – herausgerissen aus Verwurzelungen – erzählen manchmal Adoptivkinder.

Alltägliche Risse erleben wir manches Mal bei Rollenübergängen. Beim Frühstück ist jemand zum Beispiel die Mutter, die den Kindern das Frühstück und das Pausenbrot richtet und sie zur Haustür begleitet. Anschließend schlüpft sie in ihre Berufsrolle. Abends bespricht sie als Ehefrau ihren Tag mit ihrem Mann. Nicht immer sind diese Wechsel fließend möglich. Zerrissenheit ist auch innerhalb einer der Rollen erlebbar: wenn jemand zum Beispiel einerseits Einkaufshilfen für Familien in Quarantäne organisiert und auf dem Heimweg die Nachbarin trifft, die Corona-Leugnerin ist. Da steht man jedes Mal neu vor der Entscheidung, ob man erzählt, woher man gerade kommt, und garantiert eine ebenso lange wie frustrierende Diskussion provoziert, an deren Ende immer noch die beiden Positionen unvereinbar nebeneinanderstehen – oder nicht. Der Riss ist in beiden Varianten spürbar.

In Leonard Cohens Text geht es so weiter: „There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.“

Auch davon soll hier die Rede sein, ohne einem plumpen, beleidigenden, vorschnellen Krise-als-Chance-Gerede das Wort zu reden.

Es lohnt sich, sich mit sanften Lebensübergängen ebenso wie mit abrupten Rissen und Brüchen zu beschäftigen. Denn in jeder Veränderung gibt es einen Riss; anders weitergehen kann es nur, wenn wir etwas hinter uns lassen, uns losreißen von Altem, Überholtem, nicht mehr Brauchbarem.

Warum sind Übergänge im Leben so spannend? Weil Übergänge Schwebezustände sind, Möglichkeitsräume und Zwischenzeiten. Das Vorherige ist nicht mehr und das Neue noch nicht. Was wir im Umbruch erleben, das sind die „Zonen der Ungewissheit und Verwundbarkeit“ (Walther/​Stauber 2013, 30).

Je nach Temperament und Vorerfahrungen begegnen wir Übergängen mit Vorfreude und Neugier auf das, was kommen mag, oder ängstlich und traurig darüber, dass das Gewesene vorbei ist.

In der Biografiearbeit haben wir es oft mit (Um‑)​Brüchen zu tun. Das menschliche Leben kann sogar als Abfolge von Übergängen – großen und kleinen, bedeutsamen und beiläufigen, alltäglichen und lebenswendenden – gelesen werden. Wir unterscheiden erwartbare von unerwarteten (Um‑)​Brüchen. Der Übergang ins Rentenleben gehört ebenso zu den erwartbaren wie der vom Kindergarten- zum Schulkind oder vom Single zur Ehefrau oder zum Ehemann. Unerwartete Übergänge sind zum Beispiel durch Trennung oder Tod verursachte oder auch durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder eine ungeplante Schwangerschaft.

Beiden Typen ist gemeinsam, dass es ein Davor und ein Danach gibt und dazwischen einen Bruch, einen Riss, vielleicht auch einen Übergang. Für beide Formen gilt, dass man sich im Vorgriff nur sehr bedingt vorbereiten kann. Vielmehr hilft eine erfahrungsbegleitende Unterstützung.

Wo erwerben wir Menschen die Fähigkeit, Übergänge gut zu gestalten bzw. zu bewältigen? Zum einen durch Vorbilder. Kinder schauen sich ganz automatisch ab, wie Mutter, Vater, Opa, Oma, Erzieherinnen und Lehrkräfte – alle Großen, zu denen sie eine positive Bindung haben – ihre Übergänge leben. Auch hier gilt das schöne Bonmot: „Man braucht seine Kinder gar nicht zu erziehen; sie machen einem eh alles nach.“

Zum anderen lernen wir aus unserem eigenen Leben. Wie haben wir frühere Übergänge bewältigt? Wer oder was hat dabei geholfen? Was hat mir nicht gutgetan und was will ich verändern? Diese Suche nach den Ressourcen, also den durch Lebenserfahrung gewonnenen Stärken, wird besonders von der Biografiearbeit unterstützt. Biografiearbeit macht jede und jeder, der sich für sich mit diesen Fragen beschäftigt, in Tagebüchern oder rein gedanklich, oder sie mit einer Freundin oder einem Freund bespricht. Biografiearbeit ist zugleich ein sehr hilfreiches und verbreitetes Angebot in der Erwachsenenbildung. In angeleiteten Gruppen und mit lockeren und abwechslungsreichen Methoden begeben sich die Teilnehmenden auf die Spuren ihres eigenen Lebens, um ihre Lebensschätze (wieder) zu entdecken.

Gemeinsam ist, dass es in Übergangssituationen immer um Veränderungen geht. Bisherige Muster, bewährte Bewertungen und Handlungsroutinen tragen nicht mehr, müssen angepasst oder ganz neu entwickelt werden. Übergange sind potenziell krisenbehaftet. Dabei sehen wir, dass Menschen unterschiedlich mit Veränderungen umgehen, vor allem abhängig davon, wie sie ihre Situation deuten. Übergänge benennt Heide von Felden als „Zeiten für (Um‑)​Deutungen“ (von Felden 2007).

Aufschlussreiche Erkenntnisse steuert die Soziologin Teresa Koloma Beck bei. Sie wirkt und forscht an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und untersuchte unter anderem, wie Menschen sich in existentiellen Bedrohungslagen organisieren. Ein Vorher ist dabei klar von einem Jetzt unterscheidbar: erst Frieden, jetzt Krieg; vorher Heimat, jetzt Zerstörung und Flucht.

In einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung (Beck 2020) schrieb Beck: „Psychologisch wie praktisch ist es Menschen unmöglich, längere Zeit in der Erfahrung des Ausnahmezustands zu funktionieren. Wo Krisenzustände länger andauern, setzen nach relativ kurzer Zeit Veralltäglichungsprozesse ein.“

Unser Alltagsbewusstsein sei träge, schreibt sie weiter. Das heißt zum einen, dass wir auch nach einem Riss in unserem Leben bald wieder gewohnte Handlungen aufnehmen bzw. so anpassen, dass wir sie auch unter neuen Bedingungen fortführen können. Das zeigen zum Beispiel Bilder von Frauen und manchmal Männern, die sich auf der Flucht Kochstellen improvisieren, um für sich und ihre Familie vertraute Gerichte zuzubereiten.

Das belegt und begründet auch, weshalb es in Umbruchsituationen besonders stabilisierend wirkt, nach Bewältigungsressourcen im bisherigen Leben zu fahnden. Sie ermöglichen ein „Andocken“ an vertraute Erfahrungen und begrenzen so den physiologischen Ausnahmezustand, den Menschen nur begrenzt aushalten können.

Beck spricht von „disruptiven Erfahrungen“, mit denen wir Menschen zurechtkommen, indem wir unsere Alltagsstrukturen dynamisch anpassen.

In nicht erwarteten Lebens(um)​brüchen stellt sich ein Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins ein. Da geschieht etwas, da bricht etwas in mein Leben ein, das ich nicht möchte. Ich sehe jedoch keine Chance, dem zu entgehen. Alltagsroutinen wirken diesem Gefühl entgegen. Sie bieten ein Stück Selbstwirksamkeitserfahrung und sind damit stabilisierend. Sie bieten einen Ansatz, vom Reagieren wieder ins Agieren zu kommen, das Leben wieder selbst gestalten zu können. Selbst objektiv unsinnige und dysfunktionale Routinen können dieses Gefühl, wieder Kontrolle über sein Leben zu haben, auslösen. Hamsterkäufe sind hierfür ein immer wieder zu beobachtendes und zugleich aktuelles Beispiel. Es ist richtig, Menschen in Umbruchsituationen zu ermutigen, lieb gewonnene Routinen wie Spaziergänge, ein gutes Essen, ein kulturelles Erleben etc. ganz bewusst zu pflegen.

Hier wird verständlich, weshalb Rituale in der Bewältigung von Brüchen im Leben helfen. Sie sind wie ein Geländer, an dem man sich auf unsicherem Terrain entlanghangeln kann.

Beck weist auf die Ambivalenz der dynamischen Stabilität des Alltagshandelns hin. Erfordert die Situation Veränderungen dieses Handelns, ist beinahe automatisch mit Widerständigkeiten zu rechnen. Die Umgehungen der Kontaktbeschränkungen und der Maskenpflicht im Kontext der Covid-19-Pandemie bieten hierfür zahllose Beispiele. In tiefen Umbruchsituationen muss es gelingen, ausreichend Gewohntes entdecken und leben zu können. Dann können Menschen sich dynamisch an viel Neues anpassen und nach Rissen in ihrem Leben gesund weiterleben.

Dass das Leben brüchig ist, dass der Lebensfaden nach Rissen immer wieder neu verknotet wurde und zumindest Lebensfaserrisse übrig bleiben – all das hat Auswirkungen auf unsere Beziehungsfähigkeit. Wer ist mein vertrautes Gegenüber, von dem ich mein festes Bild habe, nach einem bedeutsamen Lebensumbruch? Und andersherum gefragt: Welche Kompetenzen brauchen Menschen, um in umbrüchigen Epochen beziehungsfähig zu bleiben? Hier kann das Resonanzkonzept (Hartmut Rosa; vgl. Rosa 2019) ein Schlüssel sein. Sich einschwingen auf den konkreten anderen Menschen ohne Vorbehalt und ohne Vor‑Urteil, das Gewahrsein, wie er oder sie jetzt ist – das sind hilfreiche Beziehungsqualitäten.

Zur Stärkung der Übergangskompetenz ist besonders die Biografiearbeit als Angebot der Erwachsenenbildung gefragt. Sie hat das Knowhow, verschüttete Ressourcen bewusst und handlungsrelevant werden zu lassen. Mit ihren Methoden unterstützt sie dabei, den Blick auf bereits gemeisterte Lebensübergänge zu lenken. Wer und was hat geholfen, diese zu bewältigen? Was waren positive Veränderungen und welche Faktoren haben dazu beigetragen, sie als gelungen zu erleben? In Übergangsphasen stellen sich Fragen nach dem Umgang mit Veränderungen, nach erlebtem Scheitern, nach der Einstellung gegenüber Risiken und Unsicherheiten. Biografiearbeit im erwachsenenbildnerischen Setting kann dabei bewährte Begleitung sein. Erwachsenenbildung kann Deutungen und Umdeutungen anregen und damit zum Entdecken neuer Handlungsoptionen beitragen. Ebenso kann sie dabei unterstützen, Uneindeutigkeiten auszuhalten. Diese Kompetenz der Ambivalenztoleranz wird es künftig immer mehr brauchen. Für das Bewältigen von Übergängen heißt das, noch mehr die individuelle Situation jeder und jedes Einzelnen in den Blick zu nehmen.

Hilfreich ist meist, das Gewesene nicht komplett hinter sich zu lassen. Denn es bleibt ein Teil der Lebensgeschichte und der Identität. Vielmehr hilft es, bewusst Teile der Vergangenheit „mitzunehmen“ auf die weitere Lebensreise, vielleicht als Erfahrung, eine schwere Krise überstanden zu haben.

Die Psychologin Robin Lohmann spricht von den sieben Geschenken der Erinnerung (vgl. Lohmann 2013). Wenn der Lebensfaden nach einem Riss neu verknotet werden muss, hilft es, verbindende Fäden zu finden und zu spinnen. Erinnerungen als Begleiter in Umbruch und Wandel benennt sie explizit als eines dieser Geschenke. Erinnerungen lassen uns einen roten Faden im Leben entdecken. „Ohne unsere Erinnerungen hätten wir keine Identität, keine Persönlichkeit“ (Lohmann 2013, 17).

Eine Möglichkeit, wie man mit einem Riss in seinem Leben weitergehen kann, habe ich in der Trauerbegleitung gelernt. Ruthmarijke Smeding spricht in ihrem Modell „Trauer erschließen“ von den fünf Körben der Trauer (vgl. Smeding 2012). Bei ihr gibt es den Korb des Aushaltens, den Korb des Verwandelns, den Korb des Loslassens, den Korb des Neulernens und den Korb des Tragenlernens. Diese Fähigkeitsqualitäten braucht es nicht nur nach dem Riss, den der Tod eines nahen Menschen darstellt, sondern auch bei anderen Brüchen. Was Smeding dabei immer betont: Körbe haben zwei Henkel, damit eine andere Person beim Tragen helfen kann.

Es kann nicht das Ziel sein, Risse im Lebenslauf zu vermeiden. Sie sind zwangsläufig. „Leben ist Wandel, Veränderung und Entwicklung bis zum letzten Atemzug“ (Keil 2022, 2) und „Älter werden heißt unterwegs sein“ (ebd. 1), sagt die Gesundheitssoziologin Annelie Keil. Der Blick muss sich darauf richten, an den Brüchen und Rissen nicht zu zerbrechen, sich nicht zerreißen zu lassen. In einer Zeit des rasanten Wandels und pluraler und globaler Lebenskonzepte werden Veränderungen seltener als organische, sanfte Übergänge und weit häufiger als abrupte Brüche und Risse erlebt. Keil betont, dass „Überraschung, und relative Unvorhersagbarkeit“ (ebd. 12) Grundprinzipien des menschlichen Lebens sind. „Leben lebt in jedem Augenblick im Angesicht von Risiko, Unsicherheit und Wandel“ (ebd. 13). Vielleicht wussten das die Steinzeitmenschen angesichts unerklärlicher Wetterphänomene und zahlreicher natürlicher Gefährdungen besser als wir moderne Menschen. Für viele sind Machbarkeitsfantasien und Planbarkeitsvorstellungen mit den Pandemieerfahrungen jäh zerstört worden.

Da verwundert es nicht, dass das Resilienzkonzept derzeit Hochkonjunktur hat. „Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände“, so nannten Rosmarie Welter-Enderlin und Bruno Hildenbrand ihr schon 2006 erschienenes Buch: Wie kann es gelingen, dass man an den Brüchen und Rissen im Leben nicht zerbricht, sondern trotzdem ein gesundes Leben führt?

Die Resilienzforschung begann in der Psychologie mit der Langzeitstudie der Entwicklungspsychologin Emmy Werner bei den Kauai-Kindern. Viele der untersuchten Kinder wuchsen auf der hawaiianischen Insel unter extrem ungünstigen Bedingungen auf, in zerrütteten Familien, in Armut und Gewalt. Werner stellte überrascht fest, dass etwa ein Drittel der Kinder im Erwachsenenalter trotz der widrigen Umstände ein glückliches und erfolgreiches Leben führte. Sie forschte daraufhin nach Faktoren, die diese Kinder von den anderen unterschieden, die ihr Leben lang große Probleme hatten.

Nach und nach hat die psychologische Forschung sieben Säulen der Resilienz herausgearbeitet:

  • Optimismus
  • Akzeptanz
  • Lösungsorientierung
  • Verlassen der Opferrolle
  • Verantwortung übernehmen und Einfluss nehmen
  • Netzwerkorientierung
  • Zukunftsorientierung

Auch nach einem Bruch in der Biografie davon ausgehen, dass es ja auch gut weitergehen könnte, zu akzeptieren, dass man das Leben nicht immer kontrollieren kann, bzw. in der veränderten Situation eher nach Lösungen zu suchen, statt in der Problembeschreibung zu verharren – mit diesen Fähigkeiten kann ein brüchiges Leben gelingen. Wer sich zudem als verantwortliche Akteurin ihres Lebens versteht, in ein soziales Netz eingebunden ist und eher nach vorn schauen kann, kommt besser zurecht. (Ausführlichere Beschreibungen der Säulen und konkrete Ideen für die Umsetzung in den Lebensalltag finden Sie unter https://domberg-akademie.de/resilienz. Dort habe ich 2021 im Rahmen von Fastenzeitimpulsen die Relevanz der Resilienzfaktoren für ein gelingendes Leben trotz belastender Umstände beschrieben.)

So unterschiedlich wie Menschen am Übergang auf die nächste Lebensphase schauen, so unterschiedlich sollen auch Angebote zur Begleitung und Unterstützung sein. Es erweist sich als hilfreich, einen Übergang bewusst zu gestalten. Von rites de passage spricht die Fachliteratur. Rituale markieren in vielen Kulturen Lebensübergänge. Sie können hilfreich sein in Übergangssituationen, weil sie Halt und Stabilität geben in Phasen hoher Verunsicherung. Sie bringen durch ihren festgelegten Ablauf Ruhe in unruhige Phasen des Lebens und binden ein in Gemeinschaften. Rituale haben also eine Scharnierfunktion zwischen dem Davor und dem Danach. Meist sind sie mit einem Symbol verbunden (ein Stein, eine Pflanze, eine Kerze etc.). Dieses Symbol kann die beiden Seiten des Risses verbinden. Deshalb sind Rituale in Umbruchsituationen identitätsstiftend.

In unserer Gesellschaft schwinden die Symbole, die die Unbestimmtheit des Schwellenzustands in Übergangsphasen ausdrücken können. Es würde sich – besonders auch im kirchlichen Bereich – lohnen, zeitgemäße Formen zu entwickeln. In der Biografiearbeit regen wir unsere Teilnehmenden an, nach den Ressourcen zu fahnden:

  • Ressourcen, die sie im Lauf des Lebens erworben haben
  • Ressourcen, die ihnen in bestandenen Krisen geholfen haben
  • Ressourcen, die sie durch die Risse in ihrem Leben entwickelt haben

In der japanischen Töpferkunst spricht man von kintsugi, vom Reparieren mit Gold. Wenn eine Tonschale zerbricht, dann fügt der Töpfer oder die Töpferin die Bruchstücke wieder zusammen und markiert die Flicknaht ganz edel mit purem Gold. Er oder sie repariert also die Schale nicht möglichst unauffällig, so dass man die geklebte Stelle nicht wahrnimmt und die Schale aussieht wie eh und je. Im Gegenteil! Der Töpfer oder die Töpferin betont den Riss. Damit erhält die Schale ein anderes, ein neues Aussehen, und was kaputt war, wird zu einer Schmuckstelle.

Davon können wir uns anregen lassen: nicht so tun, als könne man einfach weitermachen wie gehabt, sondern sich zugestehen und auch nach außen zeigen, dass man eine andere geworden ist, dass sich viel verändert hat. Und zugleich: Es ist weiterhin eine Schale. Es bleibt also vor und nach dem Riss auch etwas erhalten.

Leonard Cohen stellt seinem Lied zwei Sätze voran: „Ring the bells that still can ring. Forget your perfect offering.“ Halten wir uns an das an Vertrautem, was noch gilt, um uns nicht den Rissen auszuliefern. Und: Verabschieden wir uns – nicht nur in Lebensumbrüchen – von jeglichem Anspruch auf Perfektion. Gut genug ist genug.