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Risse in der Bibel

„Eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen … alles hat seine Stunde“: Mit Kohelet (3,7) gehören Risse einfach zum Leben dazu. Aber Riss ist nicht gleich Riss! In der Bibel hat jeder Riss seine – je eigene – Bedeutung. Kommen Sie mit auf eine Reise zu Rissen und Spalten, Spaltungen und Zerwürfnissen, Brüchen und Zerrissenheiten – und auch dorthin, wo manches aufbricht, sich neu verbindet und wieder zusammenfügt.

Jude oder Christ?

Das Wirken des Apostels Paulus war von vielfältigen Konflikten geprägt, hinter denen letztlich ein innerer Bruch in seiner Biographie steht. Diese Konfliktgeschichte war und ist zudem prägend für das Christentum, war Paulus doch mit seinen Reisen und mit seinem literarischen Werk eine zentrale Figur des frühen Christentums. Zielgruppen seiner Mission waren Menschen des Imperium Romanum „von Jerusalem bis Illyrien“ (Röm 15,19), in erster Linie in Kleinasien und Griechenland. Dazu gehörten Heiden und Juden gleichermaßen.

Diese Zielrichtung ergab sich aus der paulinischen Biographie selbst. Paulus war ein pharisäischer Jude, geboren in Tarsus in Zilizien, ein Eiferer für Gott, der die „neue“ Lehre verfolgt hat (Apg 22,3 f.). Durch seine Hinwendung zum Christentum wird er zu einer tragenden Säule dieser neuen Lehre. Dieser Riss bzw. Bruch in seiner Biographie führt zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Person des Paulus hinsichtlich seiner religiösen Zugehörigkeit. Für die Juden ist er durch seine Hinwendung zum Christentum fortan ein vom Judentum Abgefallener, eine Tatsache, die letztlich in seine Verhaftung mündet (Apg 21,27 ff.). Auch wenn er sich zur Verkündigung des gesetzesfreien Evangeliums unter den Heiden berufen sieht, macht er als „ein Hebräer von Hebräern“ (Phil 3,5) keinen Hehl aus seiner jüdischen Herkunft (vgl. Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f.; 2 Kor 11,22 f.; Röm 11,1).

Hier ist strenggenommen ein doppelter Riss in der Biographie zu erkennen, zum einen zwischen Paulus’ Haltung zum Judentum und seinem späteren Judenchristentum, zum anderen zwischen Letzterem und dem Heidenchristentum.

Die Beschneidung stellt für Paulus ein zentrales Kriterium zur Unterscheidung von Juden- und Heidenchristen dar. Sie gilt im Judentum als Zeichen für die Eingliederung in den Bund Abrahams (Gen 17). Für Griechen und Römer galt sie als problematisch und als nota Iudaica, als Kennzeichen des Judentums. Wesentliches Merkmal der paulinischen beschneidungsfreien Heidenmission ist, dass eine Beschneidung ohne Befolgung der Toragebote für Paulus keine soteriologische Relevanz hat und daher keine Zugangsvoraussetzung zum Heilsangebot sein kann.

Paulus schildert seine Berufung (Gal 1,15 f.) zum Apostel in Anlehnung an Prophetenberufungen. Darin liegt nicht nur ein Hinweis auf seine Theologie und die Autorität seines Missionsauftrages, sondern dies weist auch auf sein Selbstverständnis als ein eschatologischer Freudenbote (vgl. Jes 52,7) hin, der das verheißene Heil unter den Völkern proklamiert.

Propheten – die ersten Sozialkritiker

In der aktuellen Situation sind es die Virolog:innen und Militärexpert:innen, die prophetengleich in Erscheinung treten und uns die unter ungünstigen Vorzeichen stehende Zukunft verkünden. Im öffentlichen Raum kippen der Diskurs und die berechtigten Sorgen und Ängste bisweilen in absurde Auseinandersetzungen über den nicht aufzuhaltenden Untergang der Menschheit; es geht um die Vermittlung und den Sieg von Ideologien. Nicht erst seit Corona und dem Ukrainekrieg scheint der Fortgang der Zivilisationen ernsthaft gefährdet; die gnadenlose Ausbeutung der Umwelt ist ein Zeichen der Zeit, das viele, vor allem junge Menschen in ihrer Hoffnungslosigkeit zu lautstarkem Protest treibt. Manche dieser Proteste scheinen jenen Drohpredigten ähnlich zu sein, wie sie von biblischen Propheten in Erinnerung sind. Schon im Alten Testament kritisierten Propheten die sozialen und politischen Verhältnisse ihrer Zeit, weil sie durch diese Zustände Gottes Gebot verletzt sahen. Insofern waren sie Verkünder von Rissen in der sozialen Struktur und oft scheinen in ihren eigenen Biografien selbst Risse und Zerrissenheiten auf. Dies wird vor allem in ihren Berufungsgeschichten deutlich. Allerdings gehören diese biographischen Brüche zum literarischen Schema einer Berufungsgeschichte dazu und sind somit vom alttestamentlichen Verfasser bewusst dargestellt, um die Herkunft, Autorität und Bedeutung der folgenden Botschaft vor Augen zu stellen. Doch wie sehen solche Zerrissenheiten genau aus?

Schaut man sich die Berufungsgeschichten der Propheten an, fällt auf, dass sie ein ähnliches Berufungsschema aufweisen, das neben der Erscheinung des Gottesboten oder Gottes, einer Offenbarungsrede mit Sendung, der Beistandszusage Gottes und Zeichenhandlungen vor allem immer den Einwand und Widerstand des Berufenen enthält (vgl. Ex 3–4; 1 Sam 9,16.21; 10,7; Jer 1,4–10; Ez 2–3). Der Berufene verweist hierbei z. B. auf seine Jugend, die ihn daran hindert, angemessene Worte zu finden, die Zugehörigkeit zu einer schlecht angesehenen Familie oder seine vermeintliche Unwürdigkeit – wie etwa Mose, der fragt: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?“ (Ex 3,11). Hier zeigt sich eine tiefe Zerrissenheit zwischen der Beauftragung und der eigenen Wahrnehmung. Berufensein, ein Erwählt-sein-von-Gott kann nur mit ungläubigem Staunen und Widerstand einhergehen. Für den Berufenen ist dies eine existentielle Erfahrung, der er sich nicht entziehen kann. Zum einen begegnet uns im Falle der Prophetenberufung diese innere Zerrissenheit, zum anderen stehen die Propheten durch die nonkonforme Botschaft ihrer Prophetie in Wort und Tat in einer konfliktvollen Situation zwischen dem Auftrag Gottes und den Machtverhältnissen ihrer Zeit. Die Kritik an der Politik der Herrschenden in Israel und Juda setzte sie nicht selten Anfeindungen aus und führte mitunter zu Verfolgungen und Tod.

Das Anprangern von ungerechten Verhältnissen und tiefen Rissen in der Gesellschaft war das Kerngeschäft des Propheten Amos. Er gilt als der älteste Schriftprophet und stammte aus der Region südlich von Bethlehem. Er wurde als Prophet gegen das Nordreich Israel gesandt und verkündete das unausweichliche Gericht JHWHs gegen Israel. Die Regierungszeit Jerobeams II. gilt zwar als wirtschaftliche Blütezeit, doch wurde der Wohlstand auf Kosten der armen Bevölkerung erlangt. Amos prangerte die Maß- und Hemmungslosigkeit der Reichen an, weil sie Gottesrecht widerspricht und zu Verantwortungslosigkeit führt. Sozial- und Kultkritik laufen parallel zueinander, am Ende stehe der Untergang Israels (Am 8,1 f.). Spätere Redakteure empfanden den Ausgang des Buches Amos als so dramatisch, dass sie Änderungen vornahmen, die die Verheißung künftigen Heils beinhalteten (Am 9,11 f.).

Kein einig Volk

Bereits vor der Königszeit mit ihren Sozialpropheten wie Amos gab es im Volk des Alten Bundes so manche Spaltung. Schon während der Wanderung durch die Wüste kämpfte Mose immer wieder darum, nicht das Volk zu verlieren – und das nicht nur, wenn dieses Angst bekam, zu verhungern, zu verdursten oder von Feinden vernichtet zu werden. Das Buch Numeri berichtet ebenso vom Aufstand Korachs und anderer, die die Führerschaft Moses in Frage stellten (Num 16 f.).

Auch das Reich Davids hielt nicht lange: Nach dem Tod Salomos spaltete es sich in ein Nord- und Südreich. Was natürlich nicht bedeutete, dass es nicht auch innerhalb dieser Teilreiche zu weiteren Spaltungen kommen konnte (vgl. 1 Kön 16,21).

Wenn – freilich in deutlich späterer Zeit – auch die Herausbildung des Christentums zu Spaltungen unter den Juden führte (vgl. Apg 23,7), so möchte man einwenden: Das sind jetzt aber keine politischen, sondern religiöse Spaltungen! Doch in biblischer Perspektive lässt sich dies nicht wirklich trennen. Vielmehr haben Risse und Spaltungen im Volk grundlegend mit dem Gottesverhältnis zu tun. Gerade im Alten Testament ist die Deutung geläufig, dass nationale Krisen auf Abfall oder Auflehnung gegen Gott und seine Gebote zurückgehen.

„Erschüttert hast du das Land und gespalten. Heile seine Risse! Denn es kam ins Wanken“, heißt es in Psalm 60,4. Es ist umgekehrt also Gott, der wieder alles zusammenfügt, die Einheit und politische Stabilität wiederherstellt: „An jenem Tag richte ich die zerfallene Hütte Davids wieder auf und bessere ihre Risse aus, ich richte ihre Trümmer auf und stelle alles wieder her wie in den Tagen der Vorzeit“ (Am 9,11). Das ist freilich verbunden mit einer Wiederbefolgung von Gottes Geboten.

Wenn heute in Deutschland das Schwinden gesellschaftlichen Zusammenhalts beklagt wird, so hört man nur selten eine religiöse Deutung dafür, die etwa den „Abfall von Gottes Willen“ oder „Sündhaftigkeit“ dafür verantwortlich macht. Mit einer solchen Erklärung würde man es sich auch zu einfach machen. Jedoch verknüpft die Bibel das Gottesverhältnis untrennbar mit dem Verhältnis zum Nächsten. Und in dieser Hinsicht macht gelebtes Christsein, das sich wesentlich in der Sorge um und Rücksicht auf die Mitmenschen realisiert, vielleicht doch auch einen Unterschied für die Einheit eines Landes.

Gott und Mensch: Urrisse

Also: Wenn das Volk – und der König bzw. die Führer voran – dem Willen Gottes folgt, wird es ihm wohl ergehen: so ein geläufiger alttestamentlicher Topos. Aber die Bibel macht sich auch Gedanken darüber, wie ein einzelner Mensch – oder der Mensch an sich – vor Gott steht. Gerade, wenn sich hier Risse auftun und die Beziehung in die Krise gerät.

Die Urgeschichte (Gen 1–11) offenbart sozusagen „Urrisse“. Adam und Eva essen vom Baum der Erkenntnis – und werden aus dem Paradies vertrieben. Kain erträgt es nicht, dass Abel (im Gegensatz zu ihm) Beachtung vonseiten Gottes erfährt – und erschlägt ihn. Gott sieht, wie die menschliche Schlechtigkeit überhandnimmt – und schickt eine gigantische Flut. Gott missbilligt, wie sich die Menschen im Projekt des Turmbaus zu Babel an einem Ort zusammenballen – und zerstreut sie über die ganze Erde.

Zwar verflucht Gott nach dem Sündenfall auch die Schlange (3,14 f.), die als „schlauer als alle Tiere des Feldes“ (3,1) bezeichnet wird. Doch mit seinen besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften ist es der Mensch, der sich immer wieder in die Bredouille bringt: Er ist neugierig, kann Erkenntnis erlangen, kann gewalttätig werden und überheblich. Kein Wunder, dass das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen einmalig und herausragend ist gegenüber dem zu den Tieren, aber auch spannungsvoll (und manchmal weit mehr als nur spannungsvoll!).

Gerade in solchen Rissen, Brüchen, Spannungen und Konflikten ereignet und entwickelt sich aber auch viel und tun sich neue Möglichkeiten auf! (Denken Sie nur einmal an Spielfilme: Wenn es dort keine Konflikte oder zumindest irgendwelche Probleme oder gefährliche Situationen gäbe, wäre es einfach nur langweilig.) In der biblischen Urgeschichte zeigen sich grundlegende Facetten des Menschen, aber vielleicht noch viel mehr Gottes. Ein wesentlicher Grundzug dabei: Trotz allem geht die Geschichte des Menschen weiter – und kommt sogar erst so richtig in Fahrt! Erst außerhalb des Paradieses geht es richtig los: Adam und Eva entdecken die Sexualität. Die Menschheit wächst und entwickelt Zivilisationen. Erst mit der Sprachverwirrung und Zerstreuung nach dem Turmbau zu Babel wird die ganze Erde besiedelt. Und selbst die Sintflut endet mit einem Bekenntnis Gottes, das Leben nicht auszurotten. Nicht Entzweiung und Untergang sind das letzte Wort Gottes, sondern das Hoffnungszeichen des Regenbogens (9,8–17).

Eine spannungsvolle Mission

Dennoch brachte der Neue Bund mit Gott in Jesus Christus nicht nur Einheit und Versöhnung. Gerade die Verbreitung der neuen Botschaft war nicht selten von Missstimmungen und Anfeindungen im (römischen) Volk begleitet. Angeführt wurde etwa, dass die christliche Mission zu Rissen innerhalb von Ehen und Familien führe, denn hier waren es häufig zuerst Frauen, die sich dem Christentum zuwandten (vgl. 1 Petr 3,1–7). Der Exklusivitätsanspruch der Christ:innen wurde ebenfalls kritisch wahrgenommen. Er vertrug sich nicht mit der Vielfalt von Kultformen, die im Römischen Reich nebeneinander existieren konnten und durften. Hinzu kam der große Erfolg, den die Christ:innen mit ihrer Mission erzielten – zuerst lokal, dann aber entwickelte sich auch die Sorge, sie könnten staatsgefährdende und letztlich sogar staatsverändernde Macht gewinnen. Zunächst handelte es sich nur um heimlich gehegte Aversionen, im späteren Verlauf schlug die Situation aber in öffentliche Polemik und nicht zuletzt in pogromartige Übergriffe um, die den Beginn der Christenverfolgungen markierten.

Adressaten der Mission waren die Völker „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8); also nicht nur die Griechen, sondern auch die sogenannten Barbaren sollten vom Evangelium erreicht werden. Die Predigt des Evangeliums hat somit nicht nur das Ziel einer individuellen Bekehrung, sondern als ein weltumspannendes und – idealerweise – Einheit stiftendes Geschehen ist sie in der Lage, Risse zu beseitigen und zeitbedingte, politische und soziale Grenzen zu überbrücken. Anfangs sahen sich die Christen im Gegenüber zur Welt, eine kleine, in sich geschlossene Gruppe, was sich u. a. in der Gestaltung des Katechumenats niederschlug. Die Mission nur geographisch zu bewerten, reicht aber nicht aus. Vielmehr geht es um die existentielle Konfrontation des Menschen mit dem Evangelium, ein neues menschliches Miteinander und um den Anbruch einer neuen Zeit.

Die christliche Mission sorgte aber auch intern für manche Spannungen. Anfangs war sie nach Mt 28,16–20 („Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern“) und Apg 1,8 („… und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“) Aufgabe besonders der Apostel. Über den Fortgang dieses idealen Missionsauftrags haben die frühen Gemeinden Erzählungen geschaffen, die in der Alten Kirche sehr geschätzt wurden. Demzufolge (vgl. Didaskalia 43,12–17; Euseb, Kirchengeschichte III 1; Thomas- und Philippusakten) kamen die Apostel nach der Himmelfahrt Jesu zusammen, um die Welt in Missionsgebiete einzuteilen, in die jeder Apostel gesendet werden sollte. Nicht jeder war über das auf ihn gefallene Los gleichermaßen erfreut. Es wurde verhandelt und sogar geweint, aber letztlich konnte dieser temporäre Riss in der apostolischen Einigkeit aufgehoben werden.

Wer jetzt denkt, Krach unter Aposteln käme nur in außerbiblischen Schriften vor, der sei auf das Apostelkonzil verwiesen (Gal 2,1–10; Apg 15), das ja aus Anlass der Kritik judenchristlicher Nomisten an der Beschneidungsfreiheit und Gesetzeskritik der antiochenischen Heidenmission stattfand. Aber erinnert sei auch an die Episode, als Jakobus und Johannes Jesus darum baten, in seinem Reich zu seiner Rechten und Linken sitzen zu dürfen (Mk 10,35–45): „Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes“ (V. 41).

Notwendige Spaltungen?

„Zunächst höre ich, dass es Spaltungen unter euch gibt, wenn ihr als Gemeinde zusammenkommt; zum Teil glaube ich das auch. Denn es muss Parteiungen geben unter euch, damit die Bewährten unter euch offenkundig werden“ (1 Kor 11,18 f.): heftige Worte von Paulus – die deutlich machen, dass es sich nicht nur unter Aposteln gut streiten ließ, sondern auch in den frühen Gemeinden.

Was war in Korinth passiert? Offenbar scheiterte das urchristliche Ideal der Geschwisterlichkeit und Gleichheit besonders deutlich bei einem zentralen Punkt, nämlich der Feier des Abendmahls (V. 17–34). Dieses war nicht nur ein eher symbolisches, rituelles Mahl wie bei der heutigen Eucharistiefeier, sondern mit einer Mahlzeit verbunden, mit mitgebrachten Speisen. Doch das Teilen funktionierte nicht wirklich. Manche konnten erst später kommen – und andere warteten nicht; „dann hungert der eine, während der andere betrunken ist“ (V. 21). Hier schlugen gerade auch soziale Unterschiede durch. Insgesamt ein unwürdiges Schauspiel, das dem, was im Abendmahl gefeiert wird, nicht gerecht wird – so tadelt Paulus.

Aber das ist nicht das Einzige, das Paulus kritisiert. Im Gegenteil, der Erste Korintherbrief zeichnet das Bild einer Gemeinde, die es schier zerreißt: ausgeprägte Parteibildungen, theologischer Grundsatzstreit, sittliche Missstände, Rechtsstreitigkeiten unter Gemeindemitgliedern, offene Fragen zu Ehe, Jungfräulichkeit und Geschlechterordnung, dazu bei manchen ein selbstbezogener charismatischer Überschwang … Paulus versucht hier zu vermitteln, zu klären, Orientierung zu geben. Offenbar nicht ohne Erfolg. Denn die Geschichte der Gemeinde geht weiter.

Springen wir einmal ein ganzes Stück vor (und damit über den Zweiten Korintherbrief hinweg). Ende der 90er Jahre des ersten Jahrhunderts traf in Korinth der Erste Clemensbrief ein. Es ist ein als „amtliche Verfügung“ verfasstes Schreiben der römischen Gemeinde an die Gemeinde in Korinth. Der Anlass ist die „abscheuliche und gottlose Stásis [gr. Aufruhr, Zwietracht, Parteiung]“, die in Korinth dazu führte, dass die vorbildliche und gottesfürchtige Gemeinde (1,2) in „Eifersucht und Neid“ (3,2) verfiel und „Streit und Aufruhr, Verfolgung und Unordnung, Krieg und Gefangenschaft“ (ebd.) herrschten. Konkret ging es um die Absetzung der Ältesten, die als Gremium die korinthische Gemeinde leiteten, was nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände nach sich zog. Die Motivation war vermutlich nicht, einzelne Personen abzusetzen, sondern die Legitimität der Gemeindeleitung durch Presbyter wurde als solche in Frage gestellt. Damit lässt sich das Eingreifen der Gemeinde in Rom erklären, da sie das gute Ansehen der korinthischen Gemeinde gefährdet sieht und darüber hinaus das Ansehen und vor allem die Einheit der ganzen Kirche. Der Brief verfolgt somit ein ekklesiologisches Ziel: Der stetige Aufruf zu Frieden und Umkehr in 1 Clem ist der Versuch, diesen anfänglichen Riss in der Kirche zu beseitigen und ihre Einheit zu bewahren. Gottes Wille ziele auf die heilvolle Ordnung seiner Schöpfung ab, so der Tenor des Briefes. Doch das ist eine bleibende, ständige Aufgabe – gerade auch in der Kirche.

Vielstimmigkeit – das biblische Prinzip

Einheit – eine Herausforderung für die Kirche von Anfang an. Und eine beständige Aufgabe für das Gottesvolk bereits zu alttestamentlicher Zeit. Welche Risse, Zerwürfnisse, Spaltungen und Kontroversen es seit jeher gab, hat unser Parforceritt durch die Bibel gezeigt.

Doch wann ist ein Riss ein Riss? Oder anders gefragt: Ab wann sind abweichende Auffassungen ein Bruch, ein handfestes Zerwürfnis, ein Verlassen der grundlegenden Einheit, ein Ausschlusskriterium?

Für die Bibel ist das eine geradezu existentielle Frage. Markion (im 2. Jahrhundert n. Chr.) war nicht der Einzige, der Teile der Heiligen Schrift aus inhaltlichen Gründen ablehnte. Welche Bücher Aufnahme in den Kanon finden sollten, war eine lange kontrovers diskutierte Frage. Und bis heute gibt es unterschiedliche Antworten: nicht nur zwischen Juden und Christen, sondern auch zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen.

Trotz der Abweichungen in den Kanones besteht aber in einem Einheit: in der Uneinheitlichkeit. Das Wort Bibel geht auf das griechische Wort biblia zurück, das übersetzt „Bücher“ bedeutet. Die Bibel ist also keine Monographie aus einem Guss, sondern eine Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Schriften. Und eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Meinungen. Wenn etwa der Jakobusbrief betont, „dass der Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht aus Glauben allein“ (Jak 2,24), so klingt das ganz anders als das, was Paulus sagt. Während es im Buch der Sprichwörter heißt: „Kein Unheil trifft den Gerechten“ (Spr 12,21), arbeitet sich das Buch Hiob an gegensätzlichen Erfahrungen ab. Und über die kontrastreiche Vielfalt der Gottesbilder, die die Bibel zeichnet, ließe sich lange reden.

Man kann darin Risse sehen. Aber diese Risse rühren auch daher, dass es Menschen in ihren Erfahrungen mit dem Leben, mit anderen Menschen, mit der Umwelt, mit Gott manchmal innerlich schier zerreißt. Das Babylonische Exil etwa war eine kollektive Erfahrung des Volkes Israel, die zu einer Neuorientierung der Theologie geführt hat. Auch Jesus als der Christus hat alles auf den Kopf gestellt in den Augen seiner Anhänger. Und dann gibt es auch die vielen individuellen Erfahrungen, die mit beigetragen haben zur Vielstimmigkeit der Bibel.

Diese Vielstimmigkeit stört viele. Sie tendieren zur Vereinheitlichung: durch Deutungen und Umdeutungen, durch Ausblenden mancher Abschnitte der Bibel, in Einzelfällen durch Umschreiben der Bibel. Doch damit werden sie der Bibel nicht gerecht, deren Prinzip Vielstimmigkeit ist.

Diese Vielstimmigkeit eröffnet mit ihren Meinungen und Bildern einen Raum des Gesprächs, der Diskussion, sich ergänzender Perspektiven. Und einen Raum, in dem sich auch heutige Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen wiederfinden können. Die Bibel bietet so Menschen die Gelegenheit, die Vielstimmigkeit und auch die Risse, die sie im Inneren bewegen, vor Gott in den Blick zu nehmen: Denn nichts Menschliches ist Gott und der Bibel fremd.