Charismatisch, evangelikal und katholisch
Eine theologische Unterscheidung der Geister
Das Gebetshaus Augsburg und das Mission Manifest sind die vielleicht bekanntesten Manifestationen eines evangelikal-charismatischen Katholizismus, der in Deutschland seit einigen Jahren verstärkt für Kontroversen sorgt. Während zum herkömmlichen konservativen Lager manch inhaltliche Nähe und auch Kooperationen bestehen, ist das Verhältnis zum kirchlichen „Mainstream“ stark durch gegenseitige Abwehrreflexe geprägt: Häufig hält man wenig voneinander und möchte miteinander nichts zu tun haben.
Willibald Sandler will mit seinem Buch vermitteln. Er selbst lebt gewissermaßen „zwischen den Welten“, was sich auch in den beiden Geleitworten höchst unterschiedlicher Personen widerspiegelt: Roman Siebenrock ist Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Innsbruck, wo auch Sandler lehrt. Johannes Hartl leitet das bekannte Augsburger Gebetshaus – so wie auch Sandler ein (allerdings wesentlich kleineres) Gebetshaus leitet. In einem „persönlichen Nachwort“ schildert Sandler, wie er von der akademischen Arbeit zum Charismatismus kam: über die Auseinandersetzung mit dem Thema Wunder – und persönliche Erfahrungen.
Damit sind schon einmal drei Aspekte benannt, die das Buch durchziehen und an denen sich der Leser und die Leserin reiben kann: Was an „übernatürlichem“ Wirken gestehen wir Gott zu? Welche Rolle dürfen persönliche Erfahrungen spielen? Und welche Bedeutung kommt einer theologisch-wissenschaftlichen Betrachtung zu?
Eine „Unterscheidung der Geister“ hat sich Sandler auf die Fahnen geschrieben, wenn er in drei Hauptteilen zu klären versucht: Was ist „evangelikal“, „charismatisch“ und – in Verbindung damit – „katholisch“? Dabei geht er grundlegend historisch vor, indem er Entwicklungslinien in Evangelikalismus und Charismatismus nachzeichnet. Vor allem möchte er erklären, wie es im Laufe der Zeit zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen dieser beiden großen Stränge des Christentums kam. Kundig führt er in Anliegen, Hintergründe und Entwicklungen ein. Es ist geradezu schade, dass Sandler hier nur ausgewählte Zeiträume bzw. AkteurInnen behandelt: Seine Darstellungen gehen in die Tiefe, erschließen Zusammenhänge und geben zugleich einen guten Überblick. Doch geht es Sandler mit seinem historischen Durchgang darum, darzustellen, wie wesentliche Züge von Evangelikalismus und Charismatismus sich ausgebildet haben.
Zugleich spart Sandler nicht mit Kritik, wo es ihm angebracht erscheint. Und er hat viel zu kritisieren! Er identifiziert Einseitigkeiten, theologisch nicht Tragfähiges und Fehlentwicklungen. Für den Rezensenten wurde insbesondere deutlich, wie führende Gestalten der Erweckungsbewegungen immer wieder eigene Erfahrungen – des Heiligen Geistes, der Bekehrung, der Heiligkeit, der Heilung, ekstatischer Phänomene – verabsolutiert und in unzulässiger Weise verallgemeinert haben: mit großem missionarischen Eifer und in der Erwartung, dass der geistliche Weg anderer ähnlich verlaufen müsse.
Sandler geht ausführlich darauf ein und stellt dem insbesondere seine Kairostheologie entgegen: Gott schenke Einzelnen und auch Gemeinschaften, Bewegungen etc. Zeiten seiner Gnade, wo Besonderes möglich sei „wie Wunder oder ein Leben in einem ungewohnten Grad von Heiligkeit“ (36). Diese Zeiten aber lassen sich nicht erzwingen oder auf Dauer stellen: Man kann den rechten Zeitpunkt etwa zur Umkehr verpassen – und man darf nicht erwarten, dass besondere Erfahrungen ständig möglich sind.
Zugleich ist die Sympathie nicht zu übersehen, die Sandler den erwecklichen Strömungen und Erfahrungen entgegenbringt: Er sieht hier stets Zeichen von Gottes Wirken und Potenziale – die nur leider immer wieder Gefahr laufen zu pervertieren. Sandlers Perspektive ist letztlich auch bei problematischen Phänomenen darauf gerichtet, „wie Gott in der Pfingstbewegung aus Allzumenschlichem Segensvolles entstehen ließ“ (114; vgl. 167 f.).
Der Hauptteil zum „Katholischen“ geht zwar auch auf einige ekklesiologische Grundzüge ein, aber mehr noch auf den Einzug des Charismatischen in die katholische Kirche: im Rahmen der Charismatischen Erneuerung, aber auch in neocharismatischen Formen und Organisationen. Wiederum wird dies in einem historischen Durchgang dargestellt. Sandler beleuchtet dabei auch den hohen Anspruch der Charismatischen Erneuerung, die gesamte Kirche mit ihrer Spiritualität durchdringen zu wollen.
Gewissermaßen eine Klammer für das Buch bildet die Auseinandersetzung mit dem Mission Manifest. Sie wird am Anfang kurz eingeführt und ist dann Inhalt des vorletzten Hauptteils, wo Sandler die Thesen des Mission Manifest der Reihe nach durchgeht. Auch hier bleibt Sandler seiner Linie treu, das aus seiner Sicht zu Würdigende zu würdigen, aber zugleich ausführlich problematische Aspekte herauszuarbeiten – bei grundlegendem Wohlwollen.
Neben vielem anderen kritisiert er, „dass der Sinn für eine […] evangelistische Behutsamkeit und Diskretion im Mission Manifest weitgehend ausfällt“ (229). Er sieht hinter der Publikation eine junge Bewegung, die zu Übertreibungen neigt – und deshalb auf ihrem Entwicklungsweg zu begleiten ist (vgl. 236 f. und 288). Insbesondere plädiert er dafür, die Bedeutung der Theologie trotz aller evangelikal-charismatischen Begeisterung nicht zu übersehen (vgl. 288–292).
Gerade auf dieses Verhältnis der Erneuerungsbewegungen zur Theologie und auch zur Kirche fokussiert der Schlussteil des Buches. Sandler betont die gegenseitige Verwiesenheit: Für ihn sind die bestehenden Kirchen und nicht neugegründete Gemeinden die Orte, wo die „Starre eines Gewohnheitschristentum[s]“ (322) aufgebrochen werden soll. Und umgekehrt „kann eine gewachsene sakramentale Spiritualität der katholischen Kirche mit ihrer nüchternen ‚Schwarzbrotspiritualität‘ den charismatischen Bewegungen ein Gegengewicht und damit Schutz geben“ (326). Ähnlich verhält es sich laut Sandler mit der Theologie: Sie müsse „das Hören auf Gott neu lernen, indem sie sich in christlichen Milieus der gelebten Gott-Rede […] regeneriert“ (328) – wobei Sandler hier freilich nicht nur evangelikal-charismatische Milieus im Blick hat. Für eine „Wiederbelebung […] müssen sich TheologInnen auch auf Erneuerungsbewegungen einlassen, indem sie ihnen dienen – in einer wahrhaftigen und deshalb auch kritisch-solidarischen Weise – und sich zugleich von ihnen herausfordern, auch durchkreuzen lassen und so selber Erneuerung empfangen“ (332). Mit dem Buch ist also auch Kritik am „Mainstream“ von Kirche und Theologie verbunden, die aber nur im Schlusskapitel besonderes Gewicht bekommt.
Damit schließt Sandler den Kreis und ist seinem Anliegen durchaus gerecht geworden: „Mit diesem Buch möchte ich Potenziale und auch Gefährdungen von charismatischen und evangelikalen Bewegungen sichtbar machen: für die Menschen innerhalb der Bewegungen und für die katholische Kirche, wenn sie sich auf diese Bewegungen einlässt“ (35). Insgesamt also ein Buch, von dem man viel lernen kann. Es ist aber auch ein Buch, an dem man sich reiben kann.
Der Rezensent schätzt die Einblicke in evangelikal-charismatisches Denken und mehr noch Fühlen. Er ist beeindruckt davon, wie offen und intensiv (und natürlich mit theologischer Kompetenz) Sandler seine Kritik an der spirituellen Richtung ausbreitet, der er sich selbst zugehörig weiß. Das ist nicht nur zu würdigen, sondern könnte/sollte sogar Vorbild sein für selbstkritische Reflexion bei Christen und Christinnen aller Ausrichtungen und Spiritualitäten.
Zugleich bleibt der Rezensent aber skeptisch nicht nur bei etlichen einzelnen Aussagen, sondern insgesamt gegenüber Sandlers „Denkwelt“, die doch deutlich von der Erwartung „außerordentlicher“, „übernatürlicher“ Phänomene und durch evangelikal-charismatische Logiken geprägt ist. Ihm ist etwa Sandlers Vertrauen in entsprechende geistliche Erfahrungen dann doch noch zu groß (obwohl Sandler bereits sehr auf kritische Unterscheidung bedacht ist!). Aber bei dieser Skepsis spielt natürlich auch die andere Erfahrungswelt des Rezensenten eine Rolle – und diese ist ebenso natürlich kein Argument, sich nicht mit Sandlers Denken auseinanderzusetzen.
Das Buch ist umfangreich, aber ohne Längen – Sandler weiß aufgrund seiner Expertise einfach so viel zu sagen, dass rund 350 Seiten mit vielfältigen Informationen und Aspekten prall gefüllt sind. Dass allein das Inhaltsverzeichnis zwölf (!) Seiten umfasst, sollte Leserinnen und Leser nicht abschrecken – die 32 (!) Kapitel stehen für eine gute, lesefreundliche Strukturierung eines Textes, der durchweg intellektuell-theologisch niveauvoll ist, ohne in abstraktes Fachkauderwelsch abzugleiten. Man kann seinen Darstellungen gedanklich gut folgen. Ein Glossar soll auch Nicht-TheologInnen das Lesen des Buches erleichtern.
Eines (aber das ist keineswegs das Einzige!) nimmt der Rezensent mit: Wenn jemand eine Glaubenserfahrung evangelikalen oder charismatischen Typs macht, ist das zuerst einmal einfach so und zu akzeptieren. Aber was er oder sie daraus macht, das ist eine ganz andere Sache, bei der Unterscheidung der Geister nottut. Sandlers Buch ist zu wünschen, dass es dazu beiträgt – und auch zum besseren gegenseitigen Verständnis.
Martin Hochholzer