Praktisch theologisieren
Ein Paradigmenwechsel vom Sprach- zum Denkproblem
Papst Franziskus erreicht mit dem, was er sagt und tut, hohe Aufmerksamkeit in der medialen Öffentlichkeit, weit über kirchliche Kreise hinaus. Auch Kardinal Marx findet mit seinen Statements zu aktuellen Fragen regelmäßig Gehör in den Medien. Die Kirchen spielen zumal bei gesellschaftlichen Trauerereignissen, etwa wieder nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt, eine unverzichtbare Rolle bei der rituellen Traumabewältigung. Die Arbeit der Caritas ist hochprofessionell und ungefragt geschätzt. Das Engagement der Gemeinden bei der Integration der Flüchtlinge ist beispielhaft. Im säkularen Umfeld des Verkehrsverbundes Mittelthüringen hat die evangelische Kirche seit Jahren ein „Auto-Fasten“ etabliert: von Aschermittwoch bis Karfreitag „7 Wochen fahren, 4 Wochen zahlen“. Die Kirchen können sich in der Kultur nach wie vor sehen lassen, trotz aller säkularen Einflüsse und mancher atheistischen Attitüden.
Andererseits ist jedoch die Substanz des Christentums kaum noch zu vermitteln. Die seit der Jahrtausendwende propagierten missionarischen Anstrengungen scheinen wenig zu greifen: Kirchen und Priesterseminare leeren sich merklich, und die private Spiritualität der Menschen scheint der europäische Buddhismus auch ohne Mission leichter zu prägen als das Christentum. Wir hätten als Kirche heutzutage ein massives Sprachproblem, kann man als Erklärung häufig hören. Ob wir nicht eher ein theologisches Denkproblem haben? Dieser Spur soll im Folgenden ein wenig nachgegangen werden.
Säkularität – eine moderne Dynamik in drei Spielarten
Ein Grund für dieses Sprach- bzw. Denkproblem liegt sicher in den gesellschaftlichen Umständen der Moderne, die kirchlich gern unter der Chiffre Säkularisierung thematisiert werden. Genauer besehen sprechen die Soziologen von Säkularität und unterscheiden diese in drei Etappen, die sich aufeinander folgend entwickeln (vgl. Casanova 2006; Taylor 2009).
- Säkularität 1 – das Ende allgegenwärtiger Kirchlichkeit:
Die Gesellschaft bildet eigene Institutionen aus, die früher in der Hand der Kirche waren (Bildung und Kunst, Sozialhilfe und Spitalswesen, Feste und Freizeit). Damit wird der öffentliche Raum zugänglich für verschiedene Religionen, Weltanschauungen und Atheismen; der Glaube zieht sich in die Privatheit der Menschen und der Kirchengemeinden zurück. - Säkularität 2 – Glaube als frei gewählte Basis der Sinnsuche:
Es steht kulturell jedem frei, was er/sie glauben will. Die private Sinnsuche bringt ein selbstgewähltes Patchwork an Erfahrungen, Überzeugungen und rituellen Praktiken hervor, die Menschen frei für sich kombinieren, je nachdem, was man glauben kann und was zu einem passt. Und das gilt in gewissem Sinn auch für explizit kirchliche Gläubigkeit.
- Säkularität 3 – Lebensgrundausrichtung ohne notwendigen Gottesbezug:
Menschen orientieren sich nicht nach einem höheren Sinn, tragenden Urgrund oder letzten Ziel; sie leben sehr pragmatisch im Hier und Jetzt und entscheiden von Fall zu Fall, was sich gerade als hilfreich und nützlich erweist. Ihre Lebensgrundausrichtung ist phasenspezifisch und enthält die Religion nicht mehr als Referenzfeld.
Zum Ort des Sprachproblems
Säkularität entwickelt sich historisch, ihre Formen sind aber in der heutigen Kultur ineinander verwoben. Sie betreffen nicht nur ungläubige, sondern auch gläubige Menschen in je spezifischer Weise (vgl. Widl 2013). Ihnen entsprechen unterschiedliche Erwartungen der Menschen an die Kirche und unterschiedliche Herausforderungen an ihre Glaubensgestalten (vgl. Knop 2017).
- Die Rationalität des Glaubens:
Wenn eine aufgeklärte Kultur den Glauben nicht mehr braucht, muss er zeigen, dass er dennoch vernünftig ist. Moderne Gottesbeweise, die christliche Anthropologie von der Berufung jedes Menschen in Jesus Christus, eine Atmosphäre warmer Menschlichkeit in der Seelsorge, festliche Liturgien und eine tatkräftige Nothilfe sind passende pastorale Vorgehensweisen. Hier wird eine Sprache gesucht und gefunden, die vernünftig nachvollziehbar ist für jeden, der sich für den Glauben interessiert. Dazu gibt es eine Vielfalt an erwachsenenbildnerischen und katechetischen Vollzügen sowie die Projekte der Citypastoral und sogar die Bibel in „leichter Sprache“.
- Die Plausibilität des christlichen Glaubens:
Wo der Glaube zur Privatsache wird, kann er bei der eigenen Sinnsuche beliebig mit außerchristlichen Versatzstücken kombiniert werden. Es kann wegfallen, was einem nicht einleuchten mag; es gilt als obsolet, was dem modernen Menschen zuwiderläuft. Dieser Glaube als Suchbewegung hat stark antidoktrinäre Grundzüge, und jede Antwort ist per se verdächtig, scheint sie doch die Suche nach dem, was man selbst authentisch vertreten kann, zu beschneiden. Am emotional sichersten wäre man angesichts realer Gotteserfahrungen; dass diese sich ereignen, wird durch eine kritisch-skeptische Grundhaltung aber nicht gerade erleichtert. So zeigt sich der Glaube dann am ehesten als eine gute biografische Gewohnheit, die man nicht missen möchte und die durch die verbindliche Gemeinde gestützt ist. Man kann ihn in dieser Form bei Gelegenheit auch bezeugen; das ist als privates „Hobby“ kulturell gut akzeptiert, aber ohne irgendeine Überzeugungskraft. Möglicherweise hat hier das „Sprachproblem“ seinen genuinen Ort.
- Die Relevanz von Gottesbezug und Kirche:
Wenn Religion im „normalen Leben“ nicht mehr vorkommt, braucht es Gläubige, die sie in alltäglicher Selbstverständlichkeit thematisieren, sie prophetisch leben und daraus ihre Freude und ihre Kraft, ihren Trost und ihre Begeisterung, ihre Menschlichkeit und ihren Respekt gegenüber allen und allem anderen beziehen. Genau dafür steht Papst Franziskus. Allerdings hat er den Vorteil eines spektakulär herausgehobenen Amtes. Wenn er auf einer Pastoralreise Menschen im Plattenbau besucht und dort spontan eine kranke Frau über Telefon erreicht, kann er ihr die frohe Botschaft mit wenig Umschweifen direkt ans Herz legen. Für die ordentliche Seelsorge und Verkündigung scheint das wenig tauglich. Wofür ein normaler Mensch noch einen Gott braucht, bleibt völlig offen.
Früher war die Moral – und heute?
Die Frage nach der Relevanz von Gott und Kirche brauchte man in Zeiten durchgesetzter Volkskirchlichkeit nicht zu stellen. Es war selbstverständlich, dass das Ziel des menschlichen Lebens bei Gott liegt; auf seine Barmherzigkeit galt es zu bauen und sie sich durch ein moralisches Leben weitmöglichst zu verdienen. Insofern bestand die Verkündigung aus dem Erzählen von biblischen Geschichten, vor allem aber dem Einschärfen der Moral. Eine Kreuzes- und Herz-Jesu-Mystik führte die Wucht menschlicher Sünden emotional drastisch vor Augen. Die Hoffnung auf Erlösung konnte man letztlich höchstens durch ein langes Fegefeuer hindurch hegen; und betete deshalb eifrig für die armen Seelen.
Es war eine der großen Errungenschaften der Glaubens- und Theologieentwicklung des 20. Jahrhunderts, diese Drohbotschaften hinter sich zu lassen, das Evangelium wieder als Frohe Botschaft zu entdecken, hoffen zu dürfen, dass niemand tiefer fallen könne als in die Hände Gottes, und dass die Hölle daher leer sei. Die Kehrseite ist gut 50 Jahre nach dem Konzil ebenso sichtbar: Wenn Gott die bedingungslose Liebe ist, muss er uns dann nicht alles verzeihen? Wenn er ohnedies alles verzeiht, kann man dann nicht ungestraft leben, wie es einem beliebt? Hat nicht ein moderner Humanismus die wesentlichen Werte des Christentums ohnedies in säkularer Form übernommen, sodass grundsätzlich jeder eigentlich ein guter Mensch ist und sein will – alle Fehlschläge und Fehltritte sind angesichts von Überforderung und Missgeschick sowieso verzeihlich – oder?
„Diese Wirtschaft tötet“ – die prophetische Ansage als nötige Sprachgestalt
Wenn die Moralpredigt kein Weg der Verkündigung mehr sein kann und die Botschaft von der göttlichen Liebe allzu leicht zur spirituellen Wellness verkommt: Was bleibt dann? Das Konzil hat die Spur dazu vorgezeichnet: Wenn Kirche ad extra agiert, dann sind die „Freude und Hoffnung, die Trauer und die Angst“ (Gaudium et spes 1) der Menschen der Maßstab ihrer Verkündigung. Da jeder Mensch in Jesus Christus seine Berufung hat (GS 22), ist die christliche Offenbarung ein ausgezeichneter Weg, das eigene Menschsein zu verstehen. Wenn die elementarisierteste Rede von der Erlösung lautet: „Es gibt immer einen Plan B“, geht es darum, alle zentralen Gehalte des Glaubens elementar zu erschließen, mitten hinein in den Alltag unserer Kultur. Dazu muss man den Glauben nicht „übersetzen“, „herunterbrechen“ oder „niederschwellig“ verkünden; man muss ihn theologisch neu denken.
Praktisch theologisieren meint dann, das Leben in Bezug zum Glauben zu setzen, nicht umgekehrt den Glauben zum Leben. Das erfordert ein neues theologisches Denken, das die ganz banalen Fragen des Alltags hineindenkt in die Verheißungen zu einem Leben in Freude (die schönste Übersetzung von shalom, die es geben kann). Die theologische Begründung kann nicht mehr philosophisch erfolgen, sondern folgt den Logiken, in denen die heutige Kultur über sich selbst nachdenkt: naturwissenschaftlich, psychologisch, ökonomisch, soziologisch, historisch, politisch und kompetitiv. Sie muss darin eine neue theologische und spirituelle Qualität finden.
Die Sprachgestalt, die einer solchen Theologie entspricht, ist die prophetische Rede: ansagen, was unser ganz konkreter Alltag unter den Augen Gottes bedeuten mag. Propheten leben immer gefährlich, weil sie die Wahrheit ins Wort bringen – gelegen, aber häufig eben auch ungelegen. Dass es in diesem Jahrzehnt eine beispiellose Christenverfolgung gibt, ist erschreckend. Dass nach den Christen weltweit die Journalisten die zweite Gruppe sind, die besonders häufig ermordet werden, macht deutlich, dass sich in der freien Presse etwas vom Ethos der Wahrheit in säkularer Form zu zeigen vermag.
Wir leben in einer hochgebildeten Kultur, wo Menschen, die etwas zu sagen haben, mit bester Eloquenz ausgestattet sind. Sie haben kein Sprachproblem. Ob uns ein Paradigmenwechsel hin zur Einsicht, dass wir eventuell ein Denkproblem haben, weiterhilft?