Gottes einfühlsame Sprache
1. Glaubenssprache – (K)eine Lebenshilfe?
Es ist nicht selten ein Problem in den Kirchen, dass viele Menschen erfahren, wie wenig das gepredigte und seelsorgerliche Wort das Niveau ihrer eigenen Erfahrungen und Brüche erreicht, aber auch nicht die Tiefen und Untiefen Gottes. Die Verkündigungssprache wird dann schnell, so „wahr“ sie in ihrer Wortbedeutung sein mag, zum beliebig wiederholbaren, erfahrungsentfernten und langweiligen Klischee. Sie beschwichtigt, entschärft und verdrängt, was sie verstärken und schützen sollte. Die Diarrhö dieser Sprache wirkt obstipativ. Hans Scholl hat am 17. August 1942 an der Ostfront in seinem Russlandtagebuch im Abschnitt „Über Schwermut“ geschrieben: „Es zieht mich manchmal schmerzlich hin zu einem Priester, aber ich bin misstrauisch gegen die meisten Theologen, sie könnten mich enttäuschen, weil ich jedes Wort, das aus ihrem Munde kommt, schon vorher gewusst hatte.“
Das Gegenteil wäre: Dass Menschen einen Ort finden, wo sie Rat suchen und querdenkende, überraschend phantasievolle Gesprächspartner antreffen, wo liebenswürdige Ironie und geistreicher Witz zu Hause sind, wo man ruhigen Herzens werden kann und Güte spürt, wo mehr zugehört wird als gesprochen, mehr Mitgefühl gezeigt wird als Pathos, wo mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden, wo viel Neugierde herrscht im Hinhören auf Geschichten der Einzelnen, wo man Belesenheit und geistig-geistliche Offenheit antrifft und keine Ignoranz und Besserwisserei, wo die Menschen und die Hauptamtlichen der Kirche zu sagen wagen, dass sie mit etwas überfordert sind und nach einiger Zeit einfach keine Kraft mehr zum Zuhören und Reden haben und so ihre eigenen Grenzen zeigen, wo man Menschen nicht dauerhaft an sich zu binden versucht, sondern loslässt, gegen andere, vielleicht bessere Gesprächspartnerinnen und -partner. Kurzum: Die Kirche als ein Ort, wo die Menschen nicht die Verwaltung Gottes, sondern die Öffnung für Gott spüren, für die Zukunft, die Gott bereithält und die die Gegenwart beeindruckt.
So täuscht unser reiches Sprachgefüge des Glaubens darüber hinweg, dass es dennoch nicht verfügbar ist für die suchenden, ansatzhaften und manchmal ursprünglich-evidenten oder schmerzlich vermissten Erfahrungen Gottes im Auf und Ab des Lebens. Dies gilt insbesondere für Erfahrungen seiner Abwesenheit, seiner Sperrigkeit und Andersartigkeit. Es geht also darum, die Glaubenssprache offenzuhalten und diesem Offenhalten mit aller Vorsicht Ausdruck zu verleihen. Also nicht nur für die Benennbarkeit Gottes einzustehen, sondern über die Grenzen hinaus das Geheimnis Gottes offenzuhalten. So ist danach zu fragen, ob denn die kirchlichen Deuteprozesse tatsächlich sowohl die Komplexität und die Tiefe menschlicher Erfahrung wie auch die entsprechende Komplexität Gottes und seines über alles hinausgehenden Geheimnisses erreichen bzw. berühren, ob Glaube und darin Gott selbst dicht an das Lebendige rühren.
Vieles in meiner theologischen und pastoralen Ausbildung Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre war darauf angelegt, Gott und den Glauben zu „verteidigen“. Diese Haltung der Apologie und der Defensive reichte bis in seelsorgerliche Begegnungen hinein, wo Menschen mit schlimmen Erfahrungen konfrontiert wurden und ich mich unter dem Druck fühlte, ich müsste mich anstelle von Gott und zu seinen Gunsten antwortgebend verhalten. Erst nach einiger Zeit setzte sich die befreiende Haltung durch, dass ich zuerst auf der Seite der Leidenden (und nicht auf der Seite Gottes) zu stehen und mit ihnen die Unergründlichkeit des Geschehens Gott gegenüber mit zu vertreten habe (vgl. Fuchs 1982; Ebner/Fischer 2001; Schönemann 2009). Je mehr ich Gott in der Seelsorge rechthaberisch zum Sieg verhelfen wollte, desto weniger musste ich mich der Situation und dem Menschen und damit der Empathie aussetzen.
Die Unangreifbarkeit, die Immunisierung Gottes zeigt sich auch darin, Gott möglichst rein als Überwölbung einer guten Sicht der Welt und eines guten Handelns anzusehen: fraglos gut und das Gute begründend, dualistisch abgesetzt von allem Schlechten. Gottes Wille ist identisch mit dem, was Menschen gut tut. Er gilt als große Sinngarantie.
Die biblischen Erzählungen und Texte bieten das Gegenteil einer solch einschichtigen Harmonie des Guten. Vielmehr fällt dieses Überwölbungshafte immer wieder in sich zusammen. Von Sinngarantie kann nicht die Rede sein, vielmehr von einer Haltung, die Gott selbst nicht aus der vielfältigen Komplexität, Sinnlosigkeit und Fragwürdigkeit menschlicher Erfahrungen entlässt. Gott ist nicht nur eine Problemlösung, er ist auch das zentrale Problem des Lebens und des Denkens. Die biblische Klage vermisst das Gute und klagt es ein. Gott erscheint nicht als fraglos gut, sondern es ist gerade die Frage der Klagepsalmen, warum Gott denn tatsächlich nicht als gut erlebt wird. Sicher: In dieser Fragwürdigkeit wird selbst wieder an einen Gott geglaubt, der dies alles hört und (hoffentlich!) nicht weghört.
Der Spiritualität, Gott derart ins Wort fallen zu dürfen, entspricht ein Menschenbezug, der von leidenden Menschen her und mit ihnen ins schöne bzw. schlüssige Wort fällt und zerstörerische Verhältnisse, aber auch eine davon unbeeindruckte Gottesverehrung unterbricht. Es steht noch aus, ähnliche Auswirkungen – aber mit entgegengesetzten Vorzeichen – in der Erfahrung unvorstellbaren Glücks, vor allem in der Liebe, zu bedenken: die Unterbrechung des normalen Denkens, das abgrundtiefe Staunen und die beglückende Grundlosigkeit. Auch das Wunderbar-Beseligende versetzt in die Entrücktheit von Bisherigem. Aber bleiben wir beim Leid der Menschen.
2. Klage im Glauben
Die biblischen Klagegebete, in der Pastoral der Kirchen jahrhundertelang verdrängt und kriminalisiert (was die kirchlichen Top-down-Verhältnisse umso mehr stabilisiert hat), sind ein Widerstand gegen einen Gott, der mehr verspricht, als er selbst einlöst. Die Bibel spricht immer wieder davon, dass Gott für beides verantwortlich ist: für das Gute und letztlich auch für das Übel, insofern er ihm in dieser Welt Raum gegeben und es nicht verhindert hat. Deswegen klagt Hiob, und Gott bestätigt ihn im Recht seiner Klage.
So mickrig ist der allmächtige Gott nicht, dass er unsere Verteidigung bräuchte oder dass er die Auflehnung der Menschen als Sünde anrechnen müsste; Gott ist durchaus blasphemietolerant (Fuchs 2015) und kann schon selbst die Verantwortung wahrnehmen, Antwort zu geben. Im Glauben wird Gott gewürdigt, zur Verantwortung gezogen zu werden. Ein Gott, der weder allmächtig noch gut wäre, könnte niemals zur Verantwortung gezogen werden. Wer Gott entschuldigt, nimmt weder den Menschen noch Gott ernst.
Der Klage- und Anklageprozess, wie ihn der Psalm 22 („Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“) wiedergibt, stellt die Konzentration eines Prozesses dar, der zeitlich Minuten, aber auch Tage, Wochen und Jahre, auch Jahrzehnte und ein ganzes Leben lang dauern kann. Einschließlich der Spitzenanklage in der Mitte des Psalms in Vers 16: „Du legst mich in den Staub des Todes.“ Bis endlich „wenigstens“ jene Hoffnung mitten in der Hoffnungslosigkeit aufbricht: Du bist mir nahe, auch wenn, ja gerade wenn ich am Ende bin. Du hältst das alles mit aus!
Diese Unterbrechung des betenden Menschen mitten im Vers 22b: „Vor den Hörnern der Büffel“, (also gerade im Leiden) — (und dann unvermittelt): „Du antwortest mir, Du rettest mich, Du bist mir nahe (auch gegen den Augenschein; OF)! Du hörst nicht weg!”, ist am besten mit einem „langen“ Gedankenstrich zu kennzeichnen. Die Zeit zwischen diesen beiden Bruchstücken kann eine lange Zeit der Wortlosigkeit und des Schweigens sein, in der man mit der Sprache stockt und nicht mehr weiter weiß. In der Verzweiflung fallen Sprachlosigkeit und Sprachnot der Sprache ins Wort. Es ist dies die kritische Zeit, in der wir vor Unverständnis und Unverzeihbarkeit nicht mehr wissen, in welcher Weise wir noch beten können. Hier befindet sich der Übergang vom sprechenden Beten zur Erfahrung der Nacht Gottes.
Bei Paulus wird diese Gottverlassenheit paradoxerweise mit der empathiefähigen Nähe Gottes im Geiste Christi in Verbindung gebracht. Denn in dieser Phase übernimmt der Geist des Auferstandenen selbst stellvertretend für uns das weitere Beten, indem er das Schweigen überbrückt und für uns mit einem Seufzen eintritt, das wir nicht ins Wort fassen können, weil es selbst total Anteil an jener Not hat, die uns so sprachlos macht. Dieser „Vor‑Mund“ des Geistes hat nichts mit Bevormundung zu tun, sondern ist Ausdruck der Empathiekraft des Geistes und der Widerstandskraft des Menschen gegen Gott mit dem Geist des klagenden Gottessohnes selbst.
Dieses Seufzen des Geistes Gottes, das für uns stattfindet, findet Worte, die wir (noch) nicht bzw. nicht mehr sprechen können (vgl. Röm 8,26–27). Der Geist betet – gewissermaßen beobachtungsunabhängig – unser Gebet, wo wir es nicht mehr beten können, und er tut es auf dem Leidensniveau, auf dem sich der leidende Mensch befindet (also nicht etwa in lässiger Fernbedienung). Der Geist kann dies, weil er der Geist des auferstandenen Gekreuzigten ist. Das Grauen, das die Menschen sprachlos macht, erfährt er selbst: Doch er kann darin an unserer Statt noch das Wort zum Vater finden. Denn er ist der gekreuzigte Auferstandene. So ereignet sich der Geist Gottes im betenden Menschen nicht nur, solange er spricht, sondern er tritt stellvertretend für ihn ein, wenn es ihm die Sprache verschlägt: angesichts der Bedrängnis und angesichts der darin erfahrenen Gottesferne. Auch in der letzteren noch ist der Geist des Auferstandenen mit seinem Seufzen solidarisch und bringt sie auf und gegen Gott zu, wie am Kreuz, wo Jesus in der Erfahrung der Gottverlassenheit den Anfang des Psalms 22 betet.
Aus dieser Perspektive stellt das Klagegebet den interaktive Vollzug negativer Theologie und die Absage an jede Theodizee, also Rechtfertigung Gottes durch die Menschen dar. Jedes Verstummen in Leid und Not wird von Christus selbst mit ausgehalten und in Gott vor und gegen Gott zur Sprache gebracht.
Noch bevor Verkündigung und Seelsorge das Wort wagen, werden sie das Mit-Verstummen aushalten. Vielleicht sehr lange! Und dann möglicherweise auch so, dass die Seelsorger und Seelsorgerinnen für Menschen eintreten, die nicht mehr beten können oder wollen, denen alle Hoffnung genommen wurde. Es kann also sein, dass solche unzugriffige Sym-pathie die einzige Möglichkeit bleibt. Unzugriffig deshalb, weil man nie beanspruchen kann, wie der betroffene Mensch zu leiden und zu fühlen. Das Wort der Em-pathie lebt immer über seine Verhältnisse, wenn sie nicht diese sensible Distanz zur Würde des leidenden Menschen wahrt.
Im Alten Israel gab es für den Besuch eines kranken und bedrängten Menschen eine religiös geprägte kulturelle Form. Elemente dieser Form sind: Die Wahrnehmung des Unheils (durch die Besucher) und eine heftige Reaktion der Erschütterung und des Mitleidens (z. B. durch das Zerreißen der Kleider und das Sich-Bewerfen mit Staub), dann eine Zeit längeren Schweigens und dann das Hinhören auf die Klage bzw. das Klagelied des Kranken. Dies erst ist das Signal für die Besucher, mit dem Kranken mitzuklagen und ihn zu trösten.
3. „Antwort“ Gottes
Vom unendlichen Gott wissen wir auch im Glauben nicht viel, allerdings das, was für uns das Wichtigste ist, nämlich dass Gott uns selbst bis in seine eigenen Tiefen hinein ernst nimmt. Seine Empathie – und bei Gott ist Empathie keine Übertreibung – ist für viele, auch für mich, der entscheidende seidene Faden, an dem der Glaube noch hängt. Alles andere wäre wertlos, wenn uns Gott nicht derart seine Liebe geoffenbart hätte. Auch für Gott gilt, was Paulus von der Liebe sagt: Würde sich Gott nicht diese Liebe zu uns so viel an „Self‑Envolvement“ kosten lassen, wäre Gott nichts (vgl. 1 Kor 13,1–3).
Gott antwortet nicht erklärend auf die Warum-Frage, vielmehr ist seine „Antwort“ eine praktische, nämlich dass er umso intensiver nahe ist. Im Alten Testament gibt es mannigfaltige Bilder und Erzählungen von der Empathiefähigkeit Gottes, in denen Gott den Menschen auf der Ebene barmherziger Empathie begegnet, wie zum Beispiel Hosea 11, wo die Liebe zu seinem Volk Gott so sehr „übermannt“, dass er das moralisch-sündenahndende Strafsystem bereut (vgl. Döhling 2009): statt vorwurfsvolle Bewertung und verschärfte Gesetze nun Barmherzigkeit und Versöhnung.
Die schärfste Differenz, nämlich die zwischen Rettung und Vernichtung, findet also nicht nur ihren vielfachen Ausdruck in den Texten und Geschichten der Bibel, sondern wird in Gott selbst zum Konflikt gebracht. Gott ist nicht reinlich gut, sondern er ist gut in dem Sinn, dass auch in ihm das Gute das Böse, die Reue den für die Menschen zerstörerischen Zorn besiegt. Das Negative wird, ohne es zu entschärfen, in Gott ausgetragen und muss nicht dualistisch gott- und lieblos „outgesourct“ werden (vgl. Fuchs 2014). Der Cusaner hat vom Zusammenfall der Gegensätze in Gott gesprochen.
Im Jüngsten Gericht wird Gott auf die Warum-Frage antworten, denn ohne diese Antwort kann die Vergangenheit nicht wertgeschätzt und die Zukunft nicht gewonnen werden: Wie wird Gott diese Welt und sich „rechtfertigen“? Jedenfalls kann er uns nicht mit einer Sinnantwort kommen, dass alles einen notwendigen Sinn gehabt habe. Was soll das nur für ein Sinn sein, dem so viel an Leid zu opfern war? Was soll das für eine Notwendigkeit sein, die die Not nicht gewendet hat?
Eigentlich ahnen wir im christlichen Glauben, wie er antworten wird: Er wird auf seinen Sohn, auf Jesus von Nazareth deuten und sagen: „Ich war alle Stunden des Leidens bei Euch.“ Gott hat sich nicht herausgehalten, sondern hat im menschgewordenen Gottessohn das Leiden der Menschen an sich herangelassen, auch das Leiden eines Menschen, der sich um der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit willen der Gewalt der Menschen ausliefert, bis zum Folterschmerz und bis zum Tod am Kreuz. Und Gott wird im Gericht offenbaren, dass er nicht nur in Jesus das Leiden der Menschen erfahren hat, sondern dass er im Geist des Auferstandenen alle Leiden der Menschen mitgelitten hat. Angesichts des an Intensität und Tiefe unendlichen Leidens in der Geschichte kann es nur ein allmächtiger Gott sein, der eine derart allumfassende Compassion, einen solchen Mit-Schmerz, aufzubringen vermag.
Im Bild des Auferstandenen formuliert: Dadurch, dass Gott den Auferstandenen mit seinen Wundmalen (vgl. Lk 24,39–40; Joh 20,25.27–28), mit seinem Martyrium in sich hineinholt, holt er das Leiden der ganzen Menschheit, das Martyrium unserer Geschichte in sich hinein. Denn Gott heilt „in seiner Inkarnation […] nicht nur die natürlichen Zumutungen, sondern setzt sich selbst dieser Welt voller Unheil, voller Engstirnigkeit und Kleingläubigkeit aus, sodass Gott selbst nicht mehr ohne dieses Leiden zu bestimmen ist.“ (Striet 2012, 166). Es ist der gekreuzigte Gott. „Ein Gott, der nicht mehr ohne die Foltermale Jesu denkbar ist“ (ebd.).
Dies wird Gott uns offenbaren: dass seine unerschöpfliche Empathie allem vorausgeht, dass er nicht von außen zugeschaut hat, sondern dass sich alles Leid der Menschen in seiner Unendlichkeit widerspiegelt. Diese maßlose Empathie ist zugleich der glaubwürdigste Beleg seiner Liebe und darin seiner Existenz. In den Schreien und Klagen der Menschen schreit und klagt Christus nicht nur innergeschichtlich, sondern zugleich als der in Gott existierende Gottessohn, wodurch das Leiden der Menschen in Gott selbst substantiell erlitten und derart gehört wird.
Dies ist keine sinnlose Verdoppelung des Leidens, von der niemand etwas hat; vielmehr ist hier die Rede von einer Dynamik, mit der der Gottessohn das negative Mysterium des Leidens in Gott selbst vertritt und darin „gegen“ ihn klagt. Der Geist geht von beiden aus, vom Vater und vom Sohn. Er eint beide, in ihm sind sie eins. Daran ist nicht zu rütteln, weil Gott sonst auseinanderfiele. Man darf weder die Verbindungs- noch die Widerspruchsmacht des Geistes unterschätzen, beide, Liebe und Freiheit, sind in Gott unerschöpflich. In diesem Drama wird – wie nebenbei – auch die Warum-Frage „beantwortet“ werden.
Mit einer Sinnantwort, mit der Gott selbst „aus dem Schneider“ wäre und auch relativ unbeteiligt sein könnte (weil ja alles seinen Sinn hatte), kann Gott bei den Menschen keine Glaubwürdigkeit erringen. Genauso wenig kann christliche Rede mit einem solchen Gott Vertrauen gewinnen, denn hier ist Gottes Image wichtiger als Lebenshilfe. Seelsorge und Verkündigung von Christen und Christinnen, in welchen Bereichen des Lebens und Handelns auch immer, ereignen sich vielmehr auf diesem spirituellen Hintergrund: dass alles Gelingen und Misslingen, Reden und Schweigen, gutes Sprechen und hilfloses Stammeln, dass alle Spannung, Widersprüchlichkeit und Ergebung von Gott mitgetragen und mitausgehalten ist. Wir sind nicht allein gelassen, auch im Alleinsein nicht. Und jedes Hinhören und Sprechen, das in unserem Mitgefühl wurzelt, wurzelt auch im Mitgefühl Gottes. Sei die Situation kurabel oder nicht, sei das alles umsonst oder erfolgreich. Auf Siege sind wir nicht angewiesen. Denn alles, was aus vorsichtiger, intelligenter, mitfühlender und freiheitsschenkender Liebe geschieht, gewinnt in Gott einen unerschöpflichen, unendlichen Lebenswert. Nichts davon geht verloren. Nichts davon ist vergeblich.
4. Anbetung: Gott ist größer als „alles“
Psalm 22 endet mit dem Gotteslob, mit der Doxologie, kontrafaktisch, denn die Not ist nicht beseitigt. „Nur“ die Gottesbeziehung hat sich verändert. Der Glaube wird zur Hoffnung gegen den Augenschein. Es ist die Hoffnung wider alle Hoffnung, wie Paulus in Röm 8,24 formuliert. Die Erfahrung, dass Wohlergehen keine Erfahrung der Nähe Gottes sein muss – wenngleich sich die Empathie Gottes sicher auch an der Freude der Menschen mit erfreut, aber sich darin nicht erschöpft – diese Erfahrung einer Empathie, die sich niemals und vor allem nicht in der äußersten Not „aus dem Staub macht“, mobilisiert „von ganz unten her“ das Vertrauen darauf, dass dieser in seiner Solidarität so gewaltige Gott auch der allmächtige Gott ist. Die Doxologie, der Lobpreis Gottes, lässt Gott über die eigene Situation, über das eigene Fassungsvermögen und über das eigene Elend hinaus den unerschöpflichen und unendlichen Gott sein. Die Empathie Gottes ermöglicht die Anbetung eines Gottes, der bis zum Äußersten seines Mitgefühls Liebe ist, und die Doxologie gibt der Empathie die Hoffnung, dass diese Liebe letztlich alle Macht an sich ziehen wird. Die Empathie ermöglicht den Glauben, dass Gott Mensch und Welt retten will und die Doxologie ermöglicht das Vertrauen darauf, dass Gott alles in allem retten kann.
Die Doxologie entschuldigt nicht, sondern nimmt Gott als Gott ernst. Warum nicht alles Liebe ist: Diese Grausamkeit ist unverzeihlich. Die Doxologie bewahrt davor, diese Paradoxie zum Anlass zu nehmen, Gott zu „vernichten“. Im „Ich preise Dich!“ stellt die Anerkennung Gottes das Sagbare in den Horizont des Unsagbaren. Und Denken und Glauben können dann auf Überlegenheit verzichten, auf Übersichtspositionen, auf Siegerdiskurse, mit der Fiktion, das Ganze überschauen zu bekommen.
Was der Atheismus voraussetzt, nämlich dass Gott unmöglich und der Glaube nutzlos sei, wird in der anbetenden Anerkennung des Gottseins Gottes zum Ausgangspunkt der Gottesanrede selbst. Wir müssen Gott nicht erfahren, damit er existiert. Er existiert. Wir müssen seine Liebe nicht erleben, damit Gott liebt: Er liebt in jedem Fall. Die Auferstehung Jesu macht nachträglich deutlich, dass Gottes Liebe kontrafaktisch zur Verlassenheitserfahrung im Kreuzesschrei „objektiv“ weiterbestand. Diese Verobjektivierung der Liebe Gottes sichert die Liebe Gottes nicht durch uns, sondern außerhalb unser. Darin besteht Gottes Absolutheit. In der Anbetung „abstrahiert“ der Mensch gewissermaßen von sich selbst und gewinnt sich aus dem unverfügbaren Geheimnis Gottes heraus in einer neuen und durchaus konkreten Weise.
Die Anbetung bildet den spirituellen Erfahrungsraum eines Gottes, der in keinem Erfahrungs-, Interessen- und Intentionenbezug aufgeht. Die Doxologie macht allerdings nicht – wie ein allzu selbstsicherer Nicht-Glaube sich maßlos überschätzend – den Erfahrungsmangel zum Maßstab der Existenz Gottes selbst. Die Doxologie lässt Gott vielmehr nochmals unendlich größer sein als unsere diesbezüglichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, und zwar in die Dynamik seiner Güte, Solidarität und Erlösung hinein. Es ist die Paradoxie einer doxologischen Sprache, die das Antworthafte verliert und gleichwohl (oder gerade deswegen, weil es keine oder nur unzulängliche, unbefriedigende Antworten gibt) über die Räume der Verzweiflung hinaus weitere Räume eröffnet oder zumindest erahnen lässt.
Obgleich die Doxologie sich nur auf Gott bezieht, kann von ihr her doch auch für die Seelsorge viel gewonnen werden: Denn analog zur Anerkennung des Geheimnisses Gottes gehört zu Seelsorge und Verkündigung auch die Anerkennung des Geheimnisses des Menschen und zwar jedes Menschen. Es ist die Abrüstung von jeder Art von Manipulation und Nötigung, auch der sublimsten. Menschen spüren schnell, wenn sie nicht um ihrer selbst willen, sondern für ganz bestimmte Interessen wahrgenommen werden. Doxologie im zwischenmenschlichen Bereich heißt also, den Menschen ihre Würde zu garantieren, sie darin anders und auch sperrig werden und sein zu lassen. Und gleichwohl nicht mit Gemeinschafts- oder Anerkennungsentzug zu reagieren.
Christliche Seelsorge und Verkündigung sind Orte der Solidarisierung mit „anderen“ und für „andere", insofern hier die Erfahrung zugelassen wird, anders sein zu dürfen, auch unverstanden werden zu dürfen, sich voneinander in Meinung, Einstellung und Beziehung entfernen und eigene Verantwortungen suchen und wahrnehmen zu dürfen. Wenn Menschen dagegen durch widerspruchsknebelndes Ja-Sagen und Abhängigkeit bei der Stange gehalten werden, fällt die Identität des einzelnen Menschen mit der Identität eines sozialen Kollektivs (sei es klein oder groß) zusammen. Dann ist die Verteidigung der Grenzen dieses Kollektivs immer auch identisch mit der Verteidigung der eigenen Identität. Chauvinistische und fundamentalistische Programme finden darin ihren Humus.
5. Gegenseitige Ermöglichung von Anbetung und Widerstand
Die Liturgie ist der Leib der Anbetung, indem sie in der Vorgabe des Rituals jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, die auch „erfahrungsunabhängig“ gilt und Wirklichkeit ist: die nie ausgesetzte Empathie Gottes. Es ist die Anerkennung Gottes „jenseits“ eigener Befindlichkeit. So kann man von einer „kontrafaktischen Performativität“ (vgl. Gruber 2010, 29; Fuchs 2015, 33 f.) der Sakramente sprechen. Der gläubige Mensch glaubt und feiert dies stellvertretend (Vgl. Janowski 2006) – frei von Zugriffsphantasien – für die Nichtglaubenden.
Das Ritual realisiert die Doxologie gegen den Augenschein, auch dann noch, wenn sie nicht oder noch nicht erlebt werden kann. Im Ritual ist die Gnade noch vor der Erfahrung präsent, auch unabhängig zu ihr, um in dieser Vorgegebenheit gerade als solche erfahren werden zu können. Das Ritual ist also nicht nur verdichteter Ausdruck menschlicher Erfahrung, sondern steht dieser auch gegenüber und repräsentiert eine Wirklichkeit, die zur Erfahrung auch kontrafaktisch sein kann.
So klagt in Elie Wiesels Prozess von Schamgorod die jüdische Gemeinde Gott an, sie verurteilt ihn angesichts der erfahrenen Not. Kaum ist das Urteil gesprochen, erhebt sich der Rabbi und ruft die Gemeinde zur Anerkennung Gottes im Lobpreis auf, zum Hauptgebet bei der Sabbatfeier, zum rituellen Gebet des „Schema Israel“:
Der Geist solcher Doxologie verhindert nicht, sondern schafft Raum für den Widerstand, in der Auflehnung von Menschen, wo immer sie sind, in welchen Religionen und Gesellschaften, gegen das Böse und gegen das Leid und – sofern sie daran glauben – gegen eine allmächtige Macht, die ihre Allmacht nicht dafür eingesetzt hat, Zerstörung und Leid zu verhindern. Denn man kann nicht sagen, dass die Auflehnung der Anklage nicht eine Wirkung des Geistes wäre, jenes Geistes, der in und mit Christus gegen Gott klagt. Auch Zweifel, ausgelöst durch unsägliches Leid oder auch „nur“ durch die Unsensibilität der Kirchen nach innen wie nach außen, können Ausdruck dieses Geistes sein.
Wenn z. B. Heiner Geißler, zornig über vieles, auch über kirchliche Praktiken, diesen Zorn in den Zweifel an Gott münden lässt, dann darf dies auch als ein Ausdruck jenes Geistes gesehen werden, der sich mit solchen Verhältnissen nicht zufrieden gibt, zumal Geißler seinen Zweifel letztlich nicht zum Maßstab Gottes selber macht. Vielmehr lässt er über seinen Zweifel hinaus die Möglichkeit, auch seine eigene Sehnsucht offen, dass Gott Gott ist. Geißler landet also in der Doxologie, die Gott noch einmal größer sein lässt als den eigenen Zweifel. „Und vielleicht ist das, woran man zweifelt, trotzdem wahr. Die Jesuiten nennen dieses Verlangen: desiderium desiderii. Die Sehnsucht nach der Sehnsucht, glauben zu können“ (Geißler 2017). Dies ist der Anfang jener Doxologie, die Gott über alles Erfahrbare und Nicht-Erfahrbare hinaus Gott sein lässt. Vielleicht könnte man mit ihm entsprechend beten (vgl. Fuchs 2014, 222–225).