Inhalt

Gottes einfühlsame Sprache

Wer sich von schlimmen Erfahrungen der Menschen mitschockieren lässt, wird selbst sprachlos und gewinnt gerade darin die Fähigkeit zu einer sen­siblen Sprache. Wer sprachlos werden kann, kann bedeutsam sprechen. Mangelndes Einfühlungsvermögen dagegen kommt gar nicht so weit zu verstummen und zu stottern. Wer keine Sprachnot zulässt, kommt in eine andere Sprachnot, nämlich nicht mehr authentisch reden zu können. Der christliche Glaube beruft sich auf einen Gott, der in Christus bis zum Äußers­ten einfühlsam ist, so sehr, dass dieses „Wort Gottes“ selbst am Kreuz zu ver­stummen vermag. Christliche Seelsorge und Verkündigung darf daraus Kraft und Kriterium für Worte finden, die sich rühren lassen und berühren.

1. Glaubenssprache – (K)eine Lebenshilfe?

Es ist nicht selten ein Problem in den Kirchen, dass viele Menschen er­fah­ren, wie wenig das gepredigte und seelsorgerliche Wort das Niveau ihrer eigenen Erfahrungen und Brüche erreicht, aber auch nicht die Tie­fen und Untiefen Gottes. Die Verkündigungssprache wird dann schnell, so „wahr“ sie in ihrer Wortbedeutung sein mag, zum beliebig wieder­hol­baren, erfahrungsentfernten und langweiligen Klischee. Sie beschwich­tigt, entschärft und verdrängt, was sie verstärken und schützen sollte. Die Diarrhö dieser Sprache wirkt obstipativ. Hans Scholl hat am 17. Au­gust 1942 an der Ostfront in seinem Russlandtagebuch im Abschnitt „Über Schwermut“ geschrieben: „Es zieht mich manchmal schmerzlich hin zu einem Priester, aber ich bin misstrauisch gegen die meisten Theo­­logen, sie könnten mich enttäuschen, weil ich jedes Wort, das aus ihrem Munde kommt, schon vorher gewusst hatte.“

Das Gegenteil wäre: Dass Menschen einen Ort finden, wo sie Rat suchen und querdenkende, überraschend phantasievolle Gesprächspartner an­tref­fen, wo liebenswürdige Ironie und geistreicher Witz zu Hause sind, wo man ruhigen Herzens werden kann und Güte spürt, wo mehr zuge­hört wird als gesprochen, mehr Mitgefühl gezeigt wird als Pathos, wo mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden, wo viel Neugierde herrscht im Hinhören auf Geschichten der Einzelnen, wo man Belesen­heit und geistig-geistliche Offenheit antrifft und keine Ignoranz und Bes­serwisserei, wo die Menschen und die Hauptamtlichen der Kirche zu sa­gen wagen, dass sie mit etwas überfordert sind und nach einiger Zeit ein­fach keine Kraft mehr zum Zuhören und Reden haben und so ihre eigenen Grenzen zeigen, wo man Menschen nicht dauerhaft an sich zu binden versucht, sondern loslässt, gegen andere, vielleicht bessere Ge­sprächspartnerinnen und -partner. Kurzum: Die Kirche als ein Ort, wo die Menschen nicht die Verwaltung Gottes, sondern die Öffnung für Gott spüren, für die Zukunft, die Gott bereithält und die die Gegenwart be­ein­druckt.

So täuscht unser reiches Sprachgefüge des Glaubens darüber hinweg, dass es dennoch nicht verfügbar ist für die suchenden, ansatzhaften und manchmal ursprünglich-evidenten oder schmerzlich vermissten Erfah­run­gen Gottes im Auf und Ab des Lebens. Dies gilt insbesondere für Erfahrungen seiner Abwesenheit, seiner Sperrigkeit und An­ders­ar­tig­keit. Es geht also darum, die Glaubenssprache offenzuhalten und die­sem Offenhalten mit aller Vorsicht Ausdruck zu verleihen. Also nicht nur für die Benennbarkeit Gottes einzustehen, sondern über die Gren­zen hinaus das Geheimnis Gottes offenzuhalten. So ist danach zu fra­gen, ob denn die kirchlichen Deuteprozesse tatsächlich sowohl die Kom­ple­xi­tät und die Tiefe menschlicher Erfahrung wie auch die ent­spre­chen­de Komplexi­tät Gottes und seines über alles hinausgehenden Ge­heim­nis­ses errei­chen bzw. berühren, ob Glaube und darin Gott selbst dicht an das Leben­dige rühren.

Vie­les in mei­ner theo­lo­gi­schen und pas­to­ra­len Aus­bil­dung En­de der 60er und An­fang der 70er Jah­re war dar­auf an­ge­legt, Gott und den Glau­ben zu „ver­tei­di­gen“. Die­se Hal­tung der Apo­lo­gie und der De­fen­si­ve reich­te bis in seel­sor­ger­li­che Be­geg­nun­gen hin­ein, wo Men­schen mit schlim­men Er­fah­run­gen kon­fron­tiert wur­den und ich mich un­ter dem Druck fühl­te, ich müss­te mich an­stel­le von Gott und zu sei­nen Guns­ten antwortge­bend ver­hal­ten. Erst nach ei­ni­ger Zeit setz­te sich die be­frei­en­de Hal­tung durch, dass ich zu­erst auf der Sei­te der Lei­den­den (und nicht auf der Sei­te Got­tes) zu ste­hen und mit ih­nen die Un­er­gründ­lich­keit des Gesche­hens Gott ge­gen­über mit zu ver­tre­ten ha­be (vgl. Fuchs 1982; Ebner/​Fi­scher 2001; Schö­ne­mann 2009). Je mehr ich Gott in der Seel­sor­ge recht­haberisch zum Sieg ver­hel­fen woll­te, des­to we­ni­ger muss­te ich mich der Si­tua­ti­on und dem Men­schen und da­mit der Em­pa­thie aus­set­zen.

Die Un­an­greif­bar­keit, die Im­mu­ni­sie­rung Got­tes zeigt sich auch dar­in, Gott mög­lichst rein als Über­wöl­bung ei­ner gu­ten Sicht der Welt und ei­nes gu­ten Han­delns an­zu­se­hen: frag­los gut und das Gu­te be­grün­dend, dua­lis­tisch ab­ge­setzt von al­lem Schlech­ten. Got­tes Wil­le ist iden­tisch mit dem, was Men­schen gut tut. Er gilt als gro­ße Sinn­ga­ran­tie.

Die bib­li­schen Er­zäh­lun­gen und Tex­te bie­ten das Ge­gen­teil ei­ner solch ein­schich­ti­gen Har­mo­nie des Gu­ten. Viel­mehr fällt die­ses Überwöl­bungs­hafte im­mer wie­der in sich zu­sam­men. Von Sinn­ga­ran­tie kann nicht die Re­de sein, viel­mehr von ei­ner Hal­tung, die Gott selbst nicht aus der viel­fäl­ti­gen Kom­ple­xi­tät, Sinn­lo­sig­keit und Frag­wür­dig­keit mensch­licher Er­fah­run­gen ent­lässt. Gott ist nicht nur ei­ne Pro­blem­lö­sung, er ist auch das zen­tra­le Pro­blem des Le­bens und des Den­kens. Die bib­li­sche Kla­ge ver­misst das Gu­te und klagt es ein. Gott er­scheint nicht als frag­los gut, son­dern es ist ge­ra­de die Fra­ge der Kla­ge­psal­men, war­um Gott denn tat­säch­lich nicht als gut er­lebt wird. Si­cher: In die­ser Frag­wür­dig­keit wird selbst wie­der an ei­nen Gott ge­glaubt, der dies al­les hört und (hof­fent­lich!) nicht weg­hört.

Der Spi­ri­tua­li­tät, Gott der­art ins Wort fal­len zu dür­fen, ent­spricht ein Men­schen­be­zug, der von lei­den­den Men­schen her und mit ih­nen ins schö­ne bzw. schlüs­si­ge Wort fällt und zer­stö­re­ri­sche Ver­hält­nis­se, aber auch ei­ne da­von un­be­ein­druck­te Got­tes­ver­eh­rung un­ter­bricht. Es steht noch aus, ähn­li­che Aus­wir­kun­gen – aber mit ent­ge­gen­ge­setz­ten Vorzei­chen – in der Er­fah­rung un­vor­stell­ba­ren Glücks, vor al­lem in der Lie­be, zu be­den­ken: die Un­ter­bre­chung des nor­ma­len Den­kens, das abgrund­tiefe Stau­nen und die be­glü­cken­de Grund­lo­sig­keit. Auch das Wunder­bar-Be­se­li­gen­de ver­setzt in die Ent­rückt­heit von Bis­he­ri­gem. Aber blei­ben wir beim Leid der Men­schen.

2. Klage im Glauben

Die bib­li­schen Kla­ge­ge­be­te, in der Pas­to­ral der Kir­chen jahr­hun­der­te­lang ver­drängt und kri­mi­na­li­siert (was die kirch­li­chen Top-down-Ver­hält­nis­se um­so mehr sta­bi­li­siert hat), sind ein Wi­der­stand ge­gen ei­nen Gott, der mehr ver­spricht, als er selbst ein­löst. Die Bi­bel spricht im­mer wie­der da­von, dass Gott für bei­des ver­ant­wort­lich ist: für das Gu­te und letzt­lich auch für das Übel, in­so­fern er ihm in die­ser Welt Raum ge­ge­ben und es nicht ver­hin­dert hat. Des­we­gen klagt Hi­ob, und Gott be­stä­tigt ihn im Recht sei­ner Kla­ge.

So mick­rig ist der all­mäch­ti­ge Gott nicht, dass er un­se­re Ver­tei­di­gung bräuch­te oder dass er die Auf­leh­nung der Men­schen als Sün­de anrech­nen müss­te; Gott ist durch­aus blas­phe­mieto­le­rant (Fuchs 2015) und kann schon selbst die Ver­ant­wor­tung wahr­neh­men, Ant­wort zu ge­ben. Im Glau­ben wird Gott ge­wür­digt, zur Ver­ant­wor­tung ge­zo­gen zu wer­den. Ein Gott, der we­der all­mäch­tig noch gut wä­re, könn­te nie­mals zur Ver­ant­wor­tung ge­zo­gen wer­den. Wer Gott ent­schul­digt, nimmt we­der den Men­schen noch Gott ernst.

Der Kla­ge- und An­kla­ge­pro­zess, wie ihn der Psalm 22 („Mein Gott, mein Gott, war­um hast Du mich ver­las­sen?“) wie­der­gibt, stellt die Konzentra­tion ei­nes Pro­zes­ses dar, der zeit­lich Mi­nu­ten, aber auch Ta­ge, Wo­chen und Jah­re, auch Jahr­zehn­te und ein gan­zes Le­ben lang dau­ern kann. Ein­schließlich der Spit­zen­an­kla­ge in der Mit­te des Psalms in Vers 16: „Du legst mich in den Staub des To­des.“ Bis end­lich „we­nigs­ten­s“ je­ne Hoff­nung mit­ten in der Hof­fnungslosigkeit auf­bricht: Du bist mir na­he, auch wenn, ja ge­ra­de wenn ich am En­de bin. Du hältst das al­les mit aus!

Die­se Un­ter­bre­chung des be­ten­den Men­schen mit­ten im Vers 22b: „Vor den Hör­nern der Büf­fel“, (al­so ge­ra­de im Lei­den) — (und dann unver­mit­telt): „Du ant­wor­test mir, Du ret­test mich, Du bist mir na­he (auch ge­gen den Au­gen­schein; OF)! Du hörst nicht weg!”, ist am bes­ten mit ei­nem „lan­gen“ Ge­dan­ken­strich zu kenn­zeich­nen. Die Zeit zwi­schen die­sen bei­den Bruch­stü­cken kann ei­ne lan­ge Zeit der Wort­lo­sig­keit und des Schwei­gens sein, in der man mit der Spra­che stockt und nicht mehr wei­ter weiß. In der Ver­zweif­lung fal­len Sprach­lo­sig­keit und Sprach­not der Spra­che ins Wort. Es ist dies die kri­ti­sche Zeit, in der wir vor Unver­ständ­nis und Un­ver­zeih­bar­keit nicht mehr wis­sen, in wel­cher Wei­se wir noch be­ten kön­nen. Hier be­fin­det sich der Über­gang vom spre­chen­den Be­ten zur Er­fah­rung der Nacht Got­tes.

Bei Pau­lus wird die­se Gott­ver­las­sen­heit pa­ra­do­xer­wei­se mit der empa­thiefähigen Nä­he Got­tes im Geis­te Chris­ti in Ver­bin­dung ge­bracht. Denn in die­ser Pha­se über­nimmt der Geist des Auf­er­stan­de­nen selbst stellver­tretend für uns das wei­te­re Be­ten, in­dem er das Schwei­gen über­brückt und für uns mit ei­nem Seuf­zen ein­tritt, das wir nicht ins Wort fas­sen kön­nen, weil es selbst to­tal An­teil an je­ner Not hat, die uns so sprach­los macht. Die­ser „Vor­‑­Mun­d“ des Geis­tes hat nichts mit Be­vor­mun­dung zu tun, son­dern ist Aus­druck der Em­pa­thie­kraft des Geis­tes und der Wider­­standskraft des Men­schen ge­gen Gott mit dem Geist des kla­gen­den Got­tessohnes selbst.

Die­ses Seuf­zen des Geis­tes Got­tes, das für uns statt­fin­det, fin­det Wor­te, die wir (noch) nicht bzw. nicht mehr spre­chen kön­nen (vgl. Röm 8,​26–27). Der Geist be­tet – ge­wis­ser­ma­ßen be­ob­ach­tungs­un­ab­hän­gig – un­ser Ge­bet, wo wir es nicht mehr be­ten kön­nen, und er tut es auf dem Lei­dens­ni­veau, auf dem sich der lei­den­de Mensch be­fin­det (al­so nicht et­wa in läs­si­ger Fern­be­die­nung). Der Geist kann dies, weil er der Geist des auf­er­stan­de­nen Ge­kreu­zig­ten ist. Das Grau­en, das die Men­schen sprach­los macht, er­fährt er selbst: Doch er kann dar­in an un­se­rer Statt noch das Wort zum Va­ter fin­den. Denn er ist der ge­kreu­zig­te Auferstan­dene. So er­eig­net sich der Geist Got­tes im be­ten­den Men­schen nicht nur, so­lan­ge er spricht, son­dern er tritt stell­ver­tre­tend für ihn ein, wenn es ihm die Spra­che ver­schlägt: an­ge­sichts der Be­dräng­nis und an­ge­sichts der dar­in er­fah­re­nen Got­tes­fer­ne. Auch in der letz­te­ren noch ist der Geist des Auf­er­stan­de­nen mit sei­nem Seuf­zen so­li­da­risch und bringt sie auf und ge­gen Gott zu, wie am Kreuz, wo Je­sus in der Er­fah­rung der Gott­­verlassenheit den An­fang des Psalms 22 be­tet.

Aus die­ser Per­spek­ti­ve stellt das Kla­ge­ge­bet den in­ter­ak­ti­ve Voll­zug ne­ga­ti­ver Theo­lo­gie und die Ab­sa­ge an je­de Theo­di­zee, al­so Rechtferti­gung Got­tes durch die Men­schen dar. Je­des Ver­stum­men in Leid und Not wird von Chris­tus selbst mit aus­ge­hal­ten und in Gott vor und ge­gen Gott zur Spra­che ge­bracht.

Noch be­vor Ver­kün­di­gung und Seel­sor­ge das Wort wa­gen, wer­den sie das Mit-​​Ver­stum­men aus­hal­ten. Viel­leicht sehr lan­ge! Und dann mög­li­cher­wei­se auch so, dass die Seel­sor­ger und Seel­sor­ge­rin­nen für Men­schen ein­tre­ten, die nicht mehr be­ten kön­nen oder wol­len, de­nen al­le Hoff­nung ge­nom­men wur­de. Es kann al­so sein, dass sol­che un­zu­grif­fi­ge Sym-pa­thie die ein­zi­ge Mög­lichkeit bleibt. Un­zu­grif­fig des­halb, weil man nie be­an­spru­chen kann, wie der be­trof­fe­ne Mensch zu lei­den und zu füh­len. Das Wort der Em-pa­thie lebt im­mer über sei­ne Ver­hält­nis­se, wenn sie nicht die­se sen­si­ble Dis­tanz zur Wür­de des lei­den­den Men­schen wahrt.

Im Al­ten Is­ra­el gab es für den Be­such ei­nes kran­ken und be­dräng­ten Men­schen ei­ne re­li­gi­ös ge­präg­te kul­tu­rel­le Form. Ele­men­te die­ser Form sind: Die Wahr­neh­mung des Un­heils (durch die Be­su­cher) und ei­ne hef­ti­ge Re­ak­ti­on der Er­schüt­te­rung und des Mit­lei­dens (z. B. durch das Zer­reißen der Klei­der und das Sich-Be­wer­fen mit Staub), dann ei­ne Zeit län­ge­ren Schwei­gens und dann das Hin­hö­ren auf die Kla­ge bzw. das Kla­ge­lied des Kran­ken. Dies erst ist das Si­gnal für die Be­su­cher, mit dem Kran­ken mit­zu­kla­gen und ihn zu trös­ten.

3. „Antwort“ Gottes

Vom un­end­li­chen Gott wis­sen wir auch im Glau­ben nicht viel, al­ler­dings das, was für uns das Wich­tigs­te ist, näm­lich dass Gott uns selbst bis in sei­ne ei­ge­nen Tie­fen hin­ein ernst nimmt. Sei­ne Em­pa­thie – und bei Gott ist Em­pa­thie kei­ne Über­trei­bung – ist für vie­le, auch für mich, der ent­schei­dende sei­de­ne Fa­den, an dem der Glau­be noch hängt. Al­les an­de­re wä­re wert­los, wenn uns Gott nicht der­art sei­ne Lie­be ge­of­fen­bart hät­te. Auch für Gott gilt, was Pau­lus von der Lie­be sagt: Wür­de sich Gott nicht die­se Lie­be zu uns so viel an „Sel­f‑En­vol­ve­men­t“ kos­ten las­sen, wä­re Gott nichts (vgl. 1 Kor 13,1–3).

Gott ant­wor­tet nicht er­klä­rend auf die War­um-Fra­ge, viel­mehr ist sei­ne „Ant­wor­t“ ei­ne prak­ti­sche, näm­lich dass er um­so in­ten­si­ver na­he ist. Im Al­ten Tes­ta­ment gibt es man­nig­fal­ti­ge Bil­der und Er­zäh­lun­gen von der Em­pa­thie­fä­hig­keit Got­tes, in de­nen Gott den Men­schen auf der Ebe­ne barm­her­zi­ger Em­pa­thie be­geg­net, wie zum Bei­spiel Ho­sea 11, wo die Lie­be zu sei­nem Volk Gott so sehr „über­mann­t“, dass er das  mo­ra­lisch-sün­de­n­ahn­den­de Straf­sys­tem be­reut (vgl. Döh­ling 2009): statt vorwurfs­volle Be­wer­tung und ver­schärf­te Ge­set­ze nun Barm­her­zig­keit und Ver­söhnung.

Die schärfs­te Dif­fe­renz, näm­lich die zwi­schen Ret­tung und Ver­nich­tung, fin­det al­so nicht nur ih­ren viel­fa­chen Aus­druck in den Tex­ten und Ge­schich­ten der Bi­bel, son­dern wird in Gott selbst zum Kon­flikt ge­bracht. Gott ist nicht rein­lich gut, son­dern er ist gut in dem Sinn, dass auch in ihm das Gu­te das Bö­se, die Reue den für die Men­schen zer­stö­re­ri­schen Zorn be­siegt. Das Ne­ga­ti­ve wird, oh­ne es zu ent­schär­fen, in Gott ausge­tragen und muss nicht dua­lis­tisch gott- und lieb­los „out­ge­sourc­t“ wer­den (vgl. Fuchs 2014). Der Cu­sa­ner hat vom Zu­sam­men­fall der Gegen­sätze in Gott ge­spro­chen.

Im Jüngs­ten Ge­richt wird Gott auf die War­um-Fra­ge ant­wor­ten, denn oh­ne die­se Ant­wort kann die Ver­gan­gen­heit nicht wert­ge­schätzt und die Zu­kunft nicht ge­won­nen wer­den: Wie wird Gott die­se Welt und sich „recht­fer­ti­gen“? Je­den­falls kann er uns nicht mit ei­ner Sinn­ant­wort kom­men, dass al­les ei­nen not­wen­di­gen Sinn ge­habt ha­be. Was soll das nur für ein Sinn sein, dem so viel an Leid zu op­fern war? Was soll das für ei­ne Not­wen­dig­keit sein, die die Not nicht ge­wen­det hat?

Ei­gent­lich ah­nen wir im christ­li­chen Glau­ben, wie er ant­wor­ten wird: Er wird auf sei­nen Sohn, auf Je­sus von Na­za­reth deu­ten und sa­gen: „Ich war al­le Stun­den des Lei­dens bei Euch.“ Gott hat sich nicht herausgehal­ten, son­dern hat im mensch­ge­wor­de­nen Got­tes­sohn das Lei­den der Men­schen an sich her­an­ge­las­sen, auch das Lei­den ei­nes Men­schen, der sich um der Barm­her­zig­keit und Ge­rech­tig­keit wil­len der Ge­walt der Men­schen aus­lie­fert, bis zum Fol­ter­schmerz und bis zum Tod am Kreuz. Und Gott wird im Ge­richt of­fen­ba­ren, dass er nicht nur in Je­sus das Lei­den der Men­schen er­fah­ren hat, son­dern dass er im Geist des Auferstan­denen al­le Lei­den der Men­schen mit­ge­lit­ten hat. An­ge­sichts des an In­tensität und Tie­fe un­end­li­chen Lei­dens in der Ge­schich­te kann es nur ein all­mäch­ti­ger Gott sein, der ei­ne der­art all­um­fas­sen­de Com­pas­si­on, ei­nen sol­chen Mit-Schmerz, auf­zu­brin­gen ver­mag.

Im Bild des Auf­er­stan­de­nen for­mu­liert: Da­durch, dass Gott den Aufer­stan­denen mit sei­nen Wund­ma­len (vgl. Lk 24,39–40; Joh 20,25.27–28), mit sei­nem Mar­ty­ri­um in sich hin­ein­holt, holt er das Lei­den der gan­zen Mensch­heit, das Mar­ty­ri­um un­se­rer Ge­schich­te in sich hin­ein. Denn Gott heilt „in sei­ner In­kar­na­ti­on […] nicht nur die na­tür­li­chen Zu­mu­tun­­gen, son­dern setzt sich selbst die­ser Welt vol­ler Un­heil, vol­ler Eng­stir­nig­­keit und Klein­gläu­big­keit aus, so­dass Gott selbst nicht mehr oh­ne die­ses Lei­den zu be­stim­men ist.“ (Striet 2012, 166). Es ist der ge­kreu­zig­te Gott. „Ein Gott, der nicht mehr oh­ne die Fol­ter­ma­le Je­su denk­bar is­t“ (ebd.).

Dies wird Gott uns of­fen­ba­ren: dass sei­ne un­er­schöpf­li­che Em­pa­thie al­lem vor­aus­geht, dass er nicht von au­ßen zu­ge­schaut hat, son­dern dass sich al­les Leid der Men­schen in sei­ner Un­end­lich­keit wi­der­spie­gelt. Die­se ma­ß­lo­se Em­pa­thie ist zu­gleich der glaub­wür­digs­te Be­leg sei­ner Lie­be und dar­in sei­ner Exis­tenz. In den Schrei­en und Kla­gen der Men­schen schreit und klagt Chris­tus nicht nur in­ner­ge­schicht­lich, son­dern zu­gleich als der in Gott exis­tie­ren­de Got­tes­sohn, wo­durch das Lei­den der Men­schen in Gott selbst sub­stan­ti­ell er­lit­ten und der­art ge­hört wird.

Dies ist kei­ne sinn­lo­se Ver­dop­pe­lung des Lei­dens, von der nie­mand et­was hat; viel­mehr ist hier die Re­de von ei­ner Dy­na­mik, mit der der Got­tes­sohn das ne­ga­ti­ve Mys­te­ri­um des Lei­dens in Gott selbst ver­tritt und dar­in „ge­gen“ ihn klagt. Der Geist geht von bei­den aus, vom Va­ter und vom Sohn. Er eint bei­de, in ihm sind sie eins. Dar­an ist nicht zu rüt­teln, weil Gott sonst aus­ein­an­der­fie­le. Man darf we­der die Verbin­dungs- noch die Wi­der­spruchs­macht des Geis­tes un­ter­schät­zen, bei­de, Lie­be und Frei­heit, sind in Gott un­er­schöpf­lich. In die­sem Dra­ma wird – wie ne­ben­bei – auch die War­um-Fra­ge „be­ant­wor­te­t“ wer­den.

Mit ei­ner Sinn­ant­wort, mit der Gott selbst „aus dem Schnei­der“ wä­re und auch re­la­tiv un­be­tei­ligt sein könn­te (weil ja al­les sei­nen Sinn hat­te), kann Gott bei den Men­schen kei­ne Glaub­wür­dig­keit er­rin­gen. Ge­nau­so we­nig kann christ­li­che Re­de mit ei­nem sol­chen Gott Ver­trau­en gewin­nen, denn hier ist Got­tes Image wich­ti­ger als Le­bens­hil­fe. Seel­sor­ge und Ver­kün­di­gung von Chris­ten und Chris­tin­nen, in wel­chen Be­rei­chen des Le­bens und Han­delns auch im­mer, er­eig­nen sich viel­mehr auf die­sem sp­irituellen Hin­ter­grund: dass al­les Ge­lin­gen und Miss­lin­gen, Re­den und Schwei­gen, gu­tes Spre­chen und hilf­lo­ses Stam­meln, dass al­le Span­nung, Wi­der­sprüch­lich­keit und Er­ge­bung von Gott mit­ge­tra­gen und mit­aus­ge­hal­ten ist. Wir sind nicht al­lein ge­las­sen, auch im Al­lein­sein nicht. Und je­des Hin­hö­ren und Spre­chen, das in un­se­rem Mit­ge­fühl wur­zelt, wur­zelt auch im Mit­ge­fühl Got­tes. Sei die Si­tua­ti­on kura­bel oder nicht, sei das al­les um­sonst oder er­folg­reich. Auf Sie­ge sind wir nicht an­ge­wie­sen. Denn al­les, was aus vor­sich­ti­ger, in­tel­li­gen­ter, mit­fühlender und frei­heits­schen­ken­der Lie­be ge­schieht, ge­winnt in Gott ei­nen un­er­schöpf­li­chen, un­end­li­chen Le­bens­wert. Nichts da­von geht ver­loren. Nichts da­von ist ver­geb­lich.

4. Anbetung: Gott ist größer als „alles“

Psalm 22 en­det mit dem Got­tes­lob, mit der Do­xo­lo­gie, kon­traf­ak­tisch, denn die Not ist nicht be­sei­tigt. „Nur“ die Got­tes­be­zie­hung hat sich ver­ändert. Der Glau­be wird zur Hoff­nung ge­gen den Au­gen­schein. Es ist die Hoff­nung wi­der al­le Hoff­nung, wie Pau­lus in Röm 8,24 for­mu­liert. Die Er­fah­rung, dass Wohl­er­ge­hen kei­ne Er­fah­rung der Nä­he Got­tes sein muss – wenn­gleich sich die Em­pa­thie Got­tes si­cher auch an der Freu­de der Men­schen mit er­freut, aber sich dar­in nicht er­schöpft – die­se Erfah­rung ei­ner Em­pa­thie, die sich nie­mals und vor al­lem nicht in der äu­ßer­s­ten Not „aus dem Staub mach­t“, mo­bi­li­siert „von ganz un­ten her“ das Ver­trau­en dar­auf, dass die­ser in sei­ner So­li­da­ri­tät so ge­wal­ti­ge Gott auch der all­mäch­ti­ge Gott ist. Die Do­xo­lo­gie, der Lob­preis Got­tes, lässt Gott über die ei­ge­ne Si­tua­ti­on, über das ei­ge­ne Fas­sungs­ver­mö­gen und über das ei­ge­ne Elend hin­aus den un­er­schöpf­li­chen und un­end­li­chen Gott sein. Die Em­pa­thie Got­tes er­mög­licht die An­be­tung ei­nes Got­tes, der bis zum Äu­ßers­ten sei­nes Mit­ge­fühls Lie­be ist, und die Do­xo­lo­gie gibt der Em­pa­thie die Hoff­nung, dass die­se Lie­be letzt­lich al­le Macht an sich zie­hen wird. Die Em­pa­thie er­mög­licht den Glau­ben, dass Gott Mensch und Welt ret­ten will und die Do­xo­lo­gie er­mög­licht das Ver­trau­en dar­auf, dass Gott al­les in al­lem ret­ten kann.

Die Do­xo­lo­gie ent­schul­digt nicht, son­dern nimmt Gott als Gott ernst. War­um nicht al­les Lie­be ist: Die­se Grau­sam­keit ist un­ver­zeih­lich. Die Do­xo­lo­gie be­wahrt da­vor, die­se Pa­ra­do­xie zum An­lass zu neh­men, Gott zu „ver­nich­ten“. Im „Ich prei­se Dich!“ stellt die An­er­ken­nung Got­tes das Sag­ba­re in den Ho­ri­zont des Un­sag­ba­ren. Und Den­ken und Glau­ben kön­nen dann auf Über­le­gen­heit ver­zich­ten, auf Über­sichts­po­si­tio­nen, auf Sie­ger­dis­kur­se, mit der Fik­ti­on, das Gan­ze über­schau­en zu be­kom­men.

Was der Athe­is­mus vor­aus­setzt, näm­lich dass Gott un­mög­lich und der Glau­be nutz­los sei, wird in der an­be­ten­den An­er­ken­nung des Gott­seins Got­tes zum Aus­gangs­punkt der Got­tes­an­re­de selbst. Wir müs­sen Gott nicht er­fah­ren, da­mit er exis­tiert. Er exis­tiert. Wir müs­sen sei­ne Lie­be nicht er­le­ben, da­mit Gott liebt: Er liebt in je­dem Fall. Die Auf­er­ste­hung Je­su macht nach­träg­lich deut­lich, dass Got­tes Lie­be kon­traf­ak­tisch zur Ver­las­sen­heits­er­fah­rung im Kreu­zes­schrei „ob­jek­ti­v“ wei­ter­be­stand. Die­se Ver­ob­jek­ti­vie­rung der Lie­be Got­tes si­chert die Lie­be Got­tes nicht durch uns, son­dern au­ßer­halb un­ser. Dar­in be­steht Got­tes Ab­so­lut­heit. In der An­be­tung „ab­stra­hier­t“ der Mensch ge­wis­ser­ma­ßen von sich selbst und ge­winnt sich aus dem un­ver­füg­ba­ren Ge­heim­nis Got­tes her­aus in ei­ner neu­en und durch­aus kon­kre­ten Wei­se.

Die An­be­tung bil­det den spi­ri­tu­el­len Er­fah­rungs­raum ei­nes Got­tes, der in kei­nem Er­fah­rungs-, In­ter­es­sen- und In­ten­tio­nen­be­zug auf­geht. Die Do­xo­lo­gie macht al­ler­dings nicht – wie ein all­zu selbst­si­che­rer Nicht-Glau­be sich ma­ß­los über­schät­zend – den Er­fah­rungs­man­gel zum Maß­stab der Exis­tenz Got­tes selbst. Die Do­xo­lo­gie lässt Gott viel­mehr noch­mals un­end­lich grö­ßer sein als un­se­re dies­be­züg­li­chen Mög­lich­kei­ten und Un­mög­lich­kei­ten, und zwar in die Dy­na­mik sei­ner Gü­te, So­li­da­ri­tät und Er­lö­sung hin­ein. Es ist die Pa­ra­do­xie ei­ner do­xo­lo­gi­schen Spra­che, die das Ant­wort­haf­te ver­liert und gleich­wohl (oder ge­ra­de des­we­gen, weil es kei­ne oder nur un­zu­läng­li­che, un­be­frie­di­gen­de Ant­wor­ten gibt) über die Räu­me der Ver­zweif­lung hin­aus wei­te­re Räu­me er­öff­net oder zu­min­dest er­ah­nen lässt.

Ob­gleich die Do­xo­lo­gie sich nur auf Gott be­zieht, kann von ihr her doch auch für die Seel­sor­ge viel ge­won­nen wer­den: Denn ana­log zur An­er­ken­nung des Ge­heim­nis­ses Got­tes ge­hört zu Seel­sor­ge und Ver­kün­di­gung auch die Aner­ken­nung des Ge­heim­nis­ses des Men­schen und zwar je­des Men­schen. Es ist die Ab­rüs­tung von je­der Art von Ma­ni­pu­la­ti­on und Nö­ti­gung, auch der sub­lim­s­ten. Men­schen spü­ren schnell, wenn sie nicht um ih­rer selbst wil­len, son­dern für ganz be­stimm­te In­ter­es­sen wahr­ge­nom­men wer­den. Do­xo­lo­gie im zwi­schenmenschlichen Be­reich hei­ßt al­so, den Men­schen ih­re Wür­de zu garan­tie­ren, sie dar­in an­ders und auch sper­rig wer­den und sein zu las­sen. Und gleich­wohl nicht mit Ge­mein­schafts- oder An­er­ken­nungs­ent­zug zu reagie­ren.

Christ­li­che Seel­sor­ge und Ver­kün­di­gung sind Or­te der So­li­da­ri­sie­rung mit „an­de­ren“ und für „an­de­re", in­so­fern hier die Er­fah­rung zu­ge­las­sen wird, an­ders sein zu dür­fen, auch un­ver­stan­den wer­den zu dür­fen, sich von­ein­an­der in Mei­nung, Ein­stel­lung und Be­zie­hung ent­fer­nen und ei­ge­ne Ver­ant­wor­tun­gen su­chen und wahr­neh­men zu dür­fen. Wenn Men­schen da­ge­gen durch wi­der­spruchs­kne­beln­des Ja-Sa­gen und Abhängig­keit bei der Stan­ge ge­hal­ten wer­den, fällt die Iden­ti­tät des ein­zel­nen Men­schen mit der Iden­ti­tät ei­nes so­zia­len Kol­lek­tivs (sei es klein oder groß) zu­sam­men. Dann ist die Ver­tei­di­gung der Gren­zen die­ses Kol­lektivs im­mer auch iden­tisch mit der Ver­tei­di­gung der ei­ge­nen Iden­ti­tät. Chau­vi­nis­ti­sche und fun­da­men­ta­lis­ti­sche Pro­gram­me fin­den dar­in ih­ren Hu­mus.

5. Gegenseitige Ermöglichung von Anbetung und Widerstand

Die Lit­ur­gie ist der Leib der An­be­tung, in­dem sie in der Vor­ga­be des Ri­tu­als je­ne Wirk­lich­keit ver­ge­gen­wär­tigt, die auch „erfahrungsunab­hän­gig“ gilt und Wirk­lich­keit ist: die nie aus­ge­setz­te Em­pa­thie Got­tes. Es ist die An­er­ken­nung Got­tes „jen­seits“ ei­ge­ner Be­find­lich­keit. So kann man von ei­ner „kon­traf­ak­ti­schen Per­for­ma­ti­vi­tät“ (vgl. Gru­ber 2010, 29; Fuchs 2015, 33 f.) der Sa­kra­men­te spre­chen. Der gläu­bi­ge Mensch glaubt und fei­ert dies stell­ver­tre­tend (Vgl. Ja­now­ski 2006) – frei von Zu­griffs­phan­ta­si­en – für die Nicht­glau­ben­den.

Das Ri­tu­al rea­li­siert die Do­xo­lo­gie ge­gen den Au­gen­schein, auch dann noch, wenn sie nicht oder noch nicht er­lebt wer­den kann. Im Ri­tu­al ist die Gna­de noch vor der Er­fah­rung prä­sent, auch un­ab­hän­gig zu ihr, um in die­ser Vor­ge­ge­ben­heit ge­ra­de als sol­che er­fah­ren wer­den zu kön­nen. Das Ri­tu­al ist al­so nicht nur ver­dich­te­ter Aus­druck mensch­li­cher Erfah­rung, son­dern steht die­ser auch ge­gen­über und re­prä­sen­tiert ei­ne Wirk­lichkeit, die zur Er­fah­rung auch kon­traf­ak­tisch sein kann.

So klagt in Elie Wie­sels Pro­zess von Scham­go­rod die jü­di­sche Ge­mein­de Gott an, sie ver­ur­teilt ihn an­ge­sichts der er­fah­re­nen Not. Kaum ist das Ur­teil ge­spro­chen, er­hebt sich der Rab­bi und ruft die Ge­mein­de zur An­erkennung Got­tes im Lob­preis auf, zum Haupt­ge­bet bei der Sab­bat­fei­er, zum ri­tu­el­len Ge­bet des „Sche­ma Is­ra­el“:

Der Geist sol­cher Do­xo­lo­gie ver­hin­dert nicht, son­dern schafft Raum für den Wi­der­stand, in der Auf­leh­nung von Men­schen, wo im­mer sie sind, in wel­chen Re­li­gio­nen und Ge­sell­schaf­ten, ge­gen das Bö­se und ge­gen das Leid und – so­fern sie dar­an glau­ben – ge­gen ei­ne all­mäch­ti­ge Macht, die ih­re All­macht nicht da­für ein­ge­setzt hat, Zer­stö­rung und Leid zu ver­hindern. Denn man kann nicht sa­gen, dass die Auf­leh­nung der An­kla­ge nicht ei­ne Wir­kung des Geis­tes wä­re, je­nes Geis­tes, der in und mit Chris­tus ge­gen Gott klagt. Auch Zwei­fel, aus­ge­löst durch un­säg­li­ches Leid oder auch „nur“ durch die Un­sen­si­bi­li­tät der Kir­chen nach in­nen wie nach au­ßen, kön­nen Aus­druck die­ses Geis­tes sein.

Wenn z. B. Hei­ner Gei­ß­ler, zor­nig über vie­les, auch über kirch­li­che Prak­ti­ken, die­sen Zorn in den Zwei­fel an Gott mün­den lässt, dann darf dies auch als ein Aus­druck je­nes Geis­tes ge­se­hen wer­den, der sich mit sol­chen Ver­hält­nis­sen nicht zu­frie­den gibt, zu­mal Gei­ß­ler sei­nen Zwei­fel letzt­lich nicht zum Maß­stab Got­tes sel­ber macht. Viel­mehr lässt er über sei­nen Zwei­fel hin­aus die Mög­lich­keit, auch sei­ne ei­ge­ne Sehn­sucht of­fen, dass Gott Gott ist. Gei­ß­ler lan­det al­so in der Do­xo­lo­gie, die Gott noch ein­mal grö­ßer sein lässt als den ei­ge­nen Zwei­fel. „Und viel­leicht ist das, wor­an man zwei­felt, trotz­dem wahr. Die Je­sui­ten nen­nen die­ses Ver­lan­gen: de­si­de­ri­um de­si­de­rii. Die Sehn­sucht nach der Sehn­­sucht, glau­ben zu kön­nen“ (Gei­ß­ler 2017). Dies ist der An­fang je­ner Do­xo­lo­gie, die Gott über al­les Er­fahr­ba­re und Nicht-Er­fahr­ba­re hin­aus Gott sein lässt. Viel­leicht könn­te man mit ihm ent­spre­chend be­ten (vgl. Fuchs 2014, 222–225).