Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften
Im Diskurs über (mangelnde) religiöse Sprachwilligkeit und fähigkeit bleibt man meist nur bei der Problemanzeige stehen. Der vorliegende Sammelband dokumentiert eine Tagung, die im Februar 2015 unter dem Titel „Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften“ in Jena stattfand. Sein Verdienst ist es, die Reflexion religiöser Rede sehr breit und unter den Bedingungen veränderter sozio-kultureller Rahmenbedingungen voranzubringen. „Was die jeweilige Redeweise über die Religion, aber auch für die Öffentlichkeit bedeutet, was überhaupt eine religiöse Rede leisten soll und was sie öffentlich sagen darf, das ist in den sich wandelnden europäischen Gesellschaft neu zu debattieren“ (7). Dabei bleibt ein durchgängiges Thema, ob denn die These von der Postsäkularität der aktuellen Gesellschaft ein Konsens ist und was der Habermas’sche Begriff der Postsäkularität überhaupt meint. Gerade aus dem Strauß der unterschiedlichen Ansätze, der letztlich die Komplexität und Ambiguität aktueller Gesellschaftskonfiguration und Lebensorientierungen spiegelt, gewinnt der Band seinen Charme und seine Valenz. Natürlich bewegen sich die Beiträge auf schmalen Pfaden, wenn es darum geht, überhaupt religiöse Rede zu definieren und verschiedene Formen von Glaubensrede zur Verständigung und zur personalen wie kollektiven Validierung „innerhalb“ der Glaubensgemeinschaft („Selbstverständigung“) und die öffentliche Funktion religiöser Rede nach „außen“ („Vermittlungsfunktion“) zu definieren und zu unterscheiden. Die Herausgeber problematisieren selbst gleich zu Beginn die Begrifflichkeiten der Gesellschaftsanalyse, indem sie zugeben, dass die Begriffe „säkular“, „post-säkular“ ‚ „religiös“, „konfessionslos“, „religiös indifferent“ jeweils unterschiedliche Aspekte umfassen. So kritisiert Klaus Dicke in seinem Beitrag „Postsäkularität und Konfessionslosigkeit“ die Verabsolutierung gegenwärtiger Deutungsmodelle zur religiösen Lage. Er stellt die Frage, „ob man der Religiosität mit Instrumenten demoskopischer Empirie überhaupt beikommt“ (25). Er wirbt dafür, die Differenzen zwischen Indifferenz und Unbestimmtheit ebenso wahrzunehmen wie die mannigfaltigen Formen alternativer Religiosität und öffentlicher Kommunikationsräume, in denen sich religiöse Rede jenseits des institutionellen Bereichs der christlichen Kirchen realisiert. Die Freiheitlichkeit als konstitutives Prinzip der Moderne führt dazu, dass im Staat einerseits gläubigen Mitbürgern nicht verwehrt werden darf, in religiöser Diktion zu gesellschaftlich-politischen Fragen beizutragen, und sie andererseits auch gefordert sind, diese positiv mit fremden Weltanschauungen und säkularem Wissen in Dialog zu bringen.
Monika Wohlrab-Sahr, die in Leipzig über „forcierte Säkularität“ forscht, deutet Postsäkularität so, dass mit Religion auch weiterhin in vielfältigen Formen zu rechnen ist, auch wenn Säkularität im Sinne des Rückgangs an kirchlicher Partizipation, der Abkehr von Glaubensaussagen und des allmählichen Mitgliederrückgangs in den Kirchen tatsächlich stattfindet. Wohlrab-Sahr charakterisiert die religiöse Situation als eine postkonfessionelle. Die Theologie sei auf die erforderliche religiös-säkulare und interreligiöse „Mehrsprachigkeit“ (41) zumeist nicht vorbereitet. Der Versuch der christlichen Religionsgemeinschaften, „die wilde Inanspruchnahme religiöser Symbolik unter Kontrolle zu bringen“ (43), muss scheitern. Die aktuellen Migrationsbewegungen verstärken in postsäkularen Gesellschaften Polarisierungen. Aus ihrer Forschung bestätigt Wohlrab-Sahr, dass manche „religiöse Suchbewegungen“, die junge Erwachsene in Ostdeutschland im Hinblick auf existenzielle Deutungen ihrer Lebensthemen unternehmen, das festgefügte säkulare Weltbild ihrer Eltern irritieren.
Gerd Pickel, ebenfalls Soziologe, macht deutlich, dass eine „stärkere Kommunikation über Religion gar kein entscheidendes Gegenargument gegen die Annahme eines kontinuierlichen […] unabänderlichen sozialen Bedeutungsverlustes von Religion“ (58) darstellt. Die Gleichzeitigkeit von Säkularem und Religiösem ist ein Kennzeichen moderner Gesellschaften. Problematisch ist, dass der Begriff der religiösen Rede oft mit der Kommunikation des Evangeliums, also einem christlichen Deutungsgehalt, verbunden wird. Er votiert dafür, viel offener heranzugehen, und unterscheidet in vier Stufen existenzielle Kommunikation (über die eigene Religiosität) von der Kommunikation, die mit religiösen Symbolen geschieht, von der Kommunikation über religiös-theologische Sachverhalte und schließlich von Diskursen über Religion(en) in der Welt (62 f.). Pickel fragt, wie die einzelnen Bereiche aufeinander Bezug nehmen. Durch das negative Image der Kirchen ist das Bekenntnis als religiöse Kommunikation schwerer geworden, Pickel stellt eher eine säkulare Schweigespirale fest. „Je weniger Menschen sich als religiös zu erkennen geben, umso stärker wird der Eindruck, dass dies im Alltagsleben unpassend und nicht mehr angebracht ist“ (83).
Diese These greift Hans-Joachim Höhn auf: „Gott“ wurde zum Fremdwort. Höhn zeigt die Gründe auf, „die das Reden von Gott in der Moderne überflüssig, verzichtbar und entbehrlich erscheinen lassen“ (90), und votiert dafür, die Behauptung einer (innerweltlichen) Notwendigkeit Gottes zu bestreiten, um auf diesem Wege einer negativen Theologie wieder neue Redeformen von Gott als „Verb“ (Tunwort) zu gewinnen.
Ľubomír Batka sieht Glaubensrede als Antwort eines vorgängigen Hörens (unter Beachtung der verschiedenen Kontexte); theologische Rede versucht ihrerseits das zu sagen, was in der Glaubensrede artikuliert wird. Angesichts der Vieldeutigkeit der Wahrheitsansprüche und ihrer Interpretationen wirbt Batka für eine (selbst-)kritische Funktion religiöser Rede, die totalitäre Machtansprüche aufzudecken hat.
Martina Kumlehn zeigt anhand des Romans „Vor dem Fest“ religiöse Rede als narrative Verarbeitung von Erfahrungen mit dem Ziel der Identitätsbestimmung auf. Der Roman als „Laboratorium der Existenz“ erschließt Resonanzräume zwischen den zwei Deutungswelten von Literatur und Religion. Die damit verbundenen Grenzgänge und gegenseitigen Spiegelungen zeigen so die „poetische Kraft der tradierten religiösen Rede“ (135), insbesondere der biblischen Rede. Der Fährmann als zentrale Figur des Romans repräsentiert die Einsicht, „dass Wahrheit in dem liegen kann, was nicht sichtbar, sondern nur erzählbar ist“ (139). Mit Wundererzählungen und Bekehrungen spielt der Roman mit biblischen Motiven und zeigt am Beispiel des Glockenklangs Spuren von Religion als Raum mit einer Verweisungsstruktur.
Winfried Gebhardt stellt den „spirituellen Wanderer“ als Idealtypus spätmoderner Religiosität vor Augen. Dieser ist nicht primär der Rezipient kirchlicher Angebote, sondern entscheidet selbstständig nach dem Kriterium, „ob das betreffende Angebot ›hilft‹, ›heilt‹ oder ihn auf seinem ›eigenen Weg weiterbringt‹“ (152), über die Gestaltung seines individuellen spirituellen Weges. Der Wanderer ist offen für alles und probiert vieles aus. Er intendiert jedoch in der Regel keine dauerhaften Bindungen; sein Habitus ist ein „auswählendes Zugreifen und Kommen und Gehen nach Belieben“ (158). Es ist Gebhardt wichtig, dass es nach wie vor ein Bedürfnis nach Gemeinschaft gibt, das jedoch andere Gesellungsgestalten intendiert, als sie die institutionalisierten Kirchen in der Regel anbieten. Der Wanderer reagiert negativ „gegen eine vorgegebene, hierarchisch strukturierte und gesteuerte, auf Befehl, Gehorsam und Unterordnung gebaute und mit dem Anspruch auf Ewigkeit ausgestattete Gemeinschaft“ (161).
Johanne Stubbe Kristensen entwickelt im Rückgriff auf den französischen Phänomenologen Merlaut-Ponty eine Theorie der Ambiguität und Unsicherheit religiöser Rede in Bezug auf die personale Leiblichkeit als Unfassbares und als problematische Erfahrung der Vermittlung und Reflexion, die einer letztlichen Klarheit entbehrt. Die Ambivalenz religiöser Rede korrespondiert mit der „Beschreibung unserer Gesellschaft als postsäkular im Sinne einer Ambivalenz im Bezug zur Religion“ (176). Diese Ambivalenz darf nicht versteckt, sondern muss angenommen und gestaltet werden.
In einem letzten Teil handeln die Beiträge von Übersetzungsvorgängen religiöser Rede in den politischen und öffentlichen Bereich. Ulrich Körtner bietet eine Theorie der öffentlichen Theologie, die er von Zivilreligion und politischer Theologie unterscheidet. Eine öffentliche Theologie müsse zweisprachig agieren, indem sie einerseits in der christlichen Tradition gründet, diese aber für eine Öffentlichkeit verstehbar zu machen versteht. Dabei ist für Körtner zentral: „Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert“ (194). Eine solche Theologie muss in einem gewissen Sinne religionskritisch sein und kann im Sinne einer Theologie der Diaspora als Dialektik von Sammlung und Zerstreuung vertieft werden.
Martin Jäggle beschreibt die Funktionen religiöser Bildung für postsäkulare Gesellschaften und wirbt dafür, das einseitige Paradigma von „Anwendung“ oder „Übersetzung“, das der Praktischen Theologie oft anhängt, in ein wechselseitiges Modell zu verändern. Er weitet den Blick auf die Vielgestaltigkeit religiöser Rede, zu der auch die Prophetie, das Schuldbekenntnis, die Klage und die Provokation gehören (204). Professionalisierte religiöse Rede hat das Problem, dass man ihr eine Erschließung von Lebenswirklichkeit nicht zuschreibt, weil sie routiniert und selbstverständlich daherkommt und weil ihr oft das Suchen und der Zweifel fehlen. An einigen Beispielen zeigt Jäggle die Bedeutung religiöser Bildung für die Erschließung von Weltzugängen und den Umgang mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt auf.
Ansgar Kreutzer stellt Gastfreundschaft als zentralen Topos eines christlichen Lebensstils in der Aufnahme von Gedanken Christoph Theobalds vor. Die Exkulturation des Christentums aus der Gesellschaft und die Säkularisierung führen zu neuen Gründungsperspektiven des Glaubens: radikale Adressatenorientierung im Dialog und Einübung eines Stils von uneigennütziger Gastfreundschaft. Stephanie Dietrich rückt die diakonische Dimension als gleichwertige, wenn auch zumeist verkannte Dimension religiöser Kommunikation als Vermittlung der Relevanz und Glaubwürdigkeit der „guten Botschaft“ in den Fokus. Die beiden Beiträge von Ina ter Avest und David Käbisch thematisieren schließlich die religionspädagogischen und bildungsbezogenen Chancen eines Lernens zur Entwicklung religiöser Kompetenz. Insbesondere Käbisch setzt sich für einen schulischen Religionsunterricht ein, der „kein Ort religiöser Erziehung und Sozialisation“ (265) ist. Seine Thesen optieren vielmehr für eine Einübung von Perspektivenwechseln, um religiöse Kommunikation wie Religionslosigkeit wahrzunehmen, zu beschreiben und deuten und verstehen zu lernen.
Der Band stellt in der Vielseitigkeit der Perspektiven, die zu religiöser Rede eingenommen werden, eine spannende Lektüre für Menschen dar, die beruflich mit den Veränderungen religiöser Kommunikation befasst sind, und ermutigt dazu, die Transformationen der Kontexte wahrzunehmen und religiöse Kommunikation in neuer Weise zu versuchen.
Hubertus Schönemann