Neue Evangelisierung – Kirche konkret. Personen – Positionen – Perspektiven. Festschrift für Bischof Dr. Konrad Zdarsa zum 70. Geburstag
Fragt man nach der Situation von Glaube und Kirche in Europa, so dürfte weitestgehend Einigkeit bestehen, dass das Christentum in weiten Teilen seine das alltägliche Leben prägende Kraft größtenteils verloren hat. In Reaktion auf diese bereits von Paul VI. (in Evangelii nuntiandi) gemachte Beobachtung rief Johannes Paul II. das Projekt der „Neuevangelisierung“ ins Leben. Die Frohe Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus sollte auf neue Weise verkündet werden, damit die vormalige existenzielle Bedeutung dieses Evangeliums neu geweckt werde. Papst Benedikt XVI. verfolgte das Vorhaben seines Vorgängers konsequent weiter und rief zu diesem Zweck unter anderem den Päpstlichen Rat für die Neuevangelisierung ins Leben. Unter Papst Franziskus scheint es jedoch um dieses Thema etwas ruhiger geworden zu sein. Der genannte Rat existiert allerdings weiterhin. Zuletzt hat er mit der Ernennung von Bischof Franz-Peter Tebartz van Elst zum Delegaten und der Übertragung der Kompetenz für die Wallfahrtsorte an diesen Rat eine interessante Entwicklung genommen. Es scheint daher lohnenswert, sich zu fragen, welche Weiterentwicklung das Projekt und der Begriff der Neuevangelisierung in der theologischen Debatte gefunden hat.
Eine gute Adresse hierfür bietet die Festschrift für Bischof Konrad Zdarsa zum 70. Geburtstag „Neue Evangelisierung – Kirche konkret. Personen – Positionen – Perspektiven“, die im vierten Jahr seines Wechsels vom Bistum Görlitz zum Bistum Augsburg erschienen ist. Die Relevanz des Buches ergibt sich zum einen daraus, dass dem Projekt der Neuevangelisierung im Bistum Augsburg auf diözesaner Ebene eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Eine andere auf das Projekt der Neuevangelisierung bezogene Erfahrung prägt die Autoren aus Bischof Zdarsas vormaligem Tätigkeitsraum: die Erfahrung der Diasporasituation im Osten Deutschlands. Zusätzlich gehören zu den Autoren des Buches auch einige namhafte, mit dem Thema der Neuevangelisierung befasste Kurienvetreter. Es fällt freilich zugleich ins Auge, dass es sich, wohl dem üblichen Bezugsfeld des Bischofs entsprechend, bei den Schreibenden hauptsächlich um Kleriker handelt. Unter den 33 Autor(inn)en sind gerade einmal zwei weiblichen Geschlechts.
Den Auftakt des Buches bildet das Kapitel „Martyria –authentisch bezeugen“ mit einem Beitrag von Kardinal Kurt Koch, der die Bedeutung der Hör- und Antwortbereitschaft Mariens als „Stern der Neuevangelisierung“ meditiert. Analog zu Maria gilt es nach Koch für die Kirche, Hörende des Wortes zu sein und es in Freude aufzunehmen. In dieser Freude soll sich dann eine neuerliche Dynamik entfalten, um nach der Phase der Säkularisierung dem Vorbild Mariens entsprechend Gott erneut „zu den Menschen zu bringen“ (10). Diesem Verständnis von Neuevangelisierung bleibt auch der folgende Aufsatz des Präsidenten des Rates für die Neuevangelisierung Erzbischof Rino Fisichella treu. Er ist daher bemüht, das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium in diesem Sinne in den Rahmen des Projektes der Neuevangelisierung einzuordnen. Zwar räumt Fisichella ein, dass der Ausdruck „Neuevangelisierung“ bei Papst Franziskus „eher selten“ (20) Verwendung findet, führt dies allerdings auf begriffliche Vorlieben zurück. Die Neuartigkeit von Evangelii gaudium sieht er vor allem darin, dass es die Pastoral der Kirche zur Zuwendung zu den Armen und zu den existenziellen Rändern der Gesellschaft aufruft. Als Ziel dieses Appells wird das Heraustreten aus der Selbstfokussierung bestimmt. Peter Hofmann deutet anschließend dagegen an, dass der Begriff der Evangelisierung bei Papst Franziskus durchaus eine Neuinterpretation findet: die von Papst Franziskus eingeläutete „neue Etappe der Evangelisierung“ sei nicht mit „Reevangelisierung“ im Sinne einer „Wiederherstellung des alten Systemzustandes“ (42) zu verwechseln.
Im folgenden Beitrag stellt der Augsburger Weihbischof Florian Wörner die Ziele und zwei Projekte des von ihm geleiteten Instituts für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg vor. Grundausrichtung der Evangelisierung ist es für Wörner, der „Verdunstung des Glaubens entgegenzuwirken“ (47; Hervorhebung von mir). Anders als Koch betrachtet er damit die Phase der Säkularisierung nicht als abgeschlossen, sondern als weiterhin voranschreitend. Dementgegen geht er von einem wohldefinierten, unveränderlichen Bestand des überlieferten Glaubens aus. Ziel der Arbeit seines Instituts scheint es zu ein, Menschen zu befähigen, diesen Glauben in neue Sprache und neue Formen zu kleiden und in einer Art Multiplikatorenfunktion wieder lebendig zu machen.
Die nachfolgenden Texte des Kapitels setzen sich im Gegensatz zu den vorhergehenden nicht mit der Neuevangelisierung insgesamt, sondern mit einzelnen Aspekten auseinander. Dabei geht es zunächst um die Glaubensweitergabe in den Familien, Exerzitien im Alltag als Mittel der Selbstevangelisierung und Wallfahrtsfrömmigkeit. Zwei weitere Beiträge schildern das Leben der Persönlichkeiten Johann Michael Sailer und Hildegard von Bingen, machen jedoch den Bezug zur Neuevangelisierung nicht explizit. Eine kritische Betrachtung der Studie und des darauf basierenden Buchs „Was glaubst du eigentlich? Weltsicht ohne Gott“ von Rita Kuczynski schließt das Kapitel ab.
Das anschließende Kapitel „Leiturgia – glaubwürdig feiern“ beginnt mit einem Beitrag des Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Müller widmet sich darin insbesondere der Rolle der Priester. Als Schwierigkeit für Glaubensweitergabe und vertiefung sieht er eine „durch ein System von Pluralismen, Relativismen und Ideologismen“ (159) fehlgeleitete Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund legt er Wert auf „eine unverfälschte und ungekürzte inhaltliche Begegnung mit den Eckpunkten unseres Glaubensbekenntnisses“ (162). Es scheint, als fürchte Müller eine schleichende gesellschaftliche Assimilation. Ganz anders der zur Weltoffenheit auffordernde folgende Beitrag von Bernhard Ehler, dem Sprecher des Priesterrates im Bistum Augsburg. Ehler legt hier die Tatsache aus, dass die Urkirche erst im Hinausgehen zur Welt Wachstum erlangen konnte. Ähnlich könne auch die Kirche heute, so Ehlers These, nur in Begegnung und Dialog mit ihrem Außen immer wieder zu sich selbst finden. Daraus folgernd formuliert Ehler einige nachdenkenswerte Prioritäten, die im Primat des Lernens vor dem Dogma ihren Ausgang nehmen (siehe 175–178).
Die abschließenden fünf Beiträge befassen sich mit der Bedeutung der Eucharistie, der Deutung des Paschamysteriums in Werken der Kunst und dem Umkehrgeschehen der Taufe. Lesenswert erscheint insbesondere der Beitrag von Diakon Gerhard Rummel. Rummel deutet darin die „neue Evangelisierung“ als „ein Geschehen, sich mit dem heutigen Menschen, mit ihren Hoffnungen, mit den Sehnsüchten, mit ihren Freuden und Schmerzen auseinanderzusetzen“ (216). Sein Ziel ist es, „so das Evangelium […] gemeinsam neu zu buchstabieren“ (ebd.).
Es folgt das Kapitel „Diakonia – helfend eingreifen“ mit einem Beitrag von Bischof Wolfgang Ipolt, dem Nachfolger des Jubilars als Bischof von Görlitz. Wie der emeritierte Erfurter Bischof Joachim Wanke sieht Ipolt die Zukunft der Kirche in der ostdeutschen Diaspora in einer ‚Missionskirche neuen Typs‘. Den Priestern misst Ipolt bei der Bildung von Glaubensschulen innerhalb von pastoralen Zentren dieser Missionskirche eine zentrale Rolle zu. Der Zweck ihrer Weihe sei schließlich, „dass Menschen glauben lernen können und aus dem Glauben selbst Christus begegnen in seinem Wort und in den Sakramenten“ (251). Die Rolle von Nicht-Priestern in solchen Glaubensräumen kommt hingegen nur am Rande zur Sprache. Alfred Hofmann vermag mit seinem folgenden Beitrag zum Miteinander von Polen und Deutschen sowie Christen und Nichtgläubigen in Bistum Görlitz diese Fehlstelle nur unzureichend zu füllen.
Im nächsten Beitrag offenbart dann Offizial Ernst Freiherr von Castell, welche kirchenrechtlichen Überlegungen bei der Einrichtung der neuen Rätestruktur im Bistum Augsburg leitend waren. Der anschließende Beitrag des Generalvikars Harald Heinrich legt jedoch Wert darauf, dass die eigentliche Kirchenreform aus der Reform der Einstellungen erwächst (vgl. 299). Das Bistum Augsburg scheint damit in einem ähnlichen Dilemma wie viele andere Bistümer zu stecken, dass die Kirchenreform zunächst aus einer personellen Dringlichkeit heraus in den Blick gerät und zuerst als Strukturreform in Angriff genommen wird. Diese muss sich dann beinah zwangsläufig anfangs unmittelbar an äußeren Erfordernissen und rechtlichen Vorgaben zu orientieren, ohne eine tiefere inhaltliche Ausrichtung zu finden. Papst Franziskus versucht hier bei der Reform der Kurie zurzeit einen anderen Weg zu gehen.
Es folgen zwei Beiträge zum Dialog innerhalb der Kirche und der Kommunikation nach außen. Danach erst finden sich Beiträge, die sich mit dem eigentlichen Thema des Kapitels, nämlich der Diakonie und ihrer Rolle im Rahmen der Neuevangelisierung, befassen. Der Diözesan-Caritasdirektor des Bistums Augsburg Andreas Magg bestimmt nicht Mission, sondern den Liebesdienst der Kirche als „Wesensausdruck ihrer selbst“ (325). Zugleich mahnt er, „dass das soziale Handeln aus dem Glauben nicht auf Evangelisierung und Missionierung der Hilfsbedürftigen“ (325) abzielen darf. Bestimmt man Mission allerdings umfassend als Zuwendung zur Welt, so besteht zwischen ihr und dem Liebesdienst der Kirche kein Widerspruch, sondern sie fallen zusammen. Erst so lässt sich die von Papst Franziskus vorgenommene Identifikation von Mission und Kirche richtig einordnen. Wie für Magg, so ist auch für seinen Vorgänger im Amt des Caritasdirektors Peter C. Manz im folgenden Beitrag der Dienst der Caritas Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihres Evangeliums. Nach diesen beiden grundsätzlichen Beiträgen folgt ein Beitrag des Augsburger Regens Martin Straub über die heilsame Wirkung des Glaubens für seelisch traumatisierte Menschen. Armin Zürn schließt sich mit der Ambulanten Hospiz- und Palliativseelsorge an.
Den Abschluss bildet das Kapitel „Persönliches Erleben“. Bischof Joachim Reinelt,Roland Elsner, Evamaria Nowa, Joachim Linek und Christoph Pötzsch erzählen hier von ihren individuellen Erfahrungen mit Bischof Konrad Zdarsa und der Kirche im Osten Deutschlands. Ein Anhang mit einer tabellarischen Biographie des Bischofs und einem Autorenverzeichnis rundet das Buch ab.
Insgesamt fällt auf, dass mehrere Beiträge nur einen sehr losen Bezug zum Thema der Neuevangelisierung aufweisen. Die nachträgliche Ordnung und Zusammenstellung der Beiträge entsprechend der kirchlichen Grundvollzüge erscheint vor diesem Hintergrund recht beliebig. Dieser Sachbestand ist zwar für das Format einer Festschrift zu erwarten, schmälert jedoch den Informationswert hinsichtlich des im Titel angegebenen Themas der „Neuen Evangelisierung“. Beschränkt man sich in der Betrachtung auf die einschlägigen Beiträge, so bringt das Buch die Spannbreite der Einstellungen im Feld der Neuen Evangelisierung gut zum Ausdruck. Von seinem Gründungsmoment her verband sich mit dem Begriff der „Neuevangelisierung“ zunächst die Vorstellung einer Neubelebung des verschütteten Glaubens innerhalb ehemals christlich geprägter Gebiete. Übersehen wird dabei häufig, dass sich innerhalb Europas nicht nur das Glaubensleben, sondern die Art und Weise des Lebens insgesamt in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Neuere Ansätze der Theologie weisen zudem darauf hin, dass sich ein weltzugewandter Gott selbst beständig im Wandel befindet (vgl. Catherine Keller). Es scheint daher nur folgerichtig, dass ein anthropologisch verankerter Glaube nicht nur ab und an eine erneuerte Verkündigung, sondern ebenfalls ständig neue Ausdrucks- und auch Verstehensweisen finden muss. Diese Einsicht scheint allerdings, so lässt sich aus der Lektüre des Sammelbandes schließen, innerhalb der Kirche noch nicht flächendeckend geteilt zu werden.
Jörg Termathe