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Alles Materie – oder was? Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion

Nein, sine ira et studio ist dieses Buch nicht geschrieben. Was nicht heißt, dass dem Autor nicht an einer sachlichen, differenzierten Aus­einander­set­zung gelegen ist. Aber ira, ein gewisser Zorn insbesondere auf neo­athe­istische Argumentationen, ist doch in manchen Passagen des Bu­ches deutlich zu spüren (insb. Kap. 1b). Ob die stellenweise emo­ti­onale, wertende und abwertende, teilweise sogar etwas flapsige Sprache (z. B. 18: „Ludwig Erhard – ständig Zigarre rauchend […]“; oder 25: „Das nun Folgende ist nicht sehr appetitlich“) den Ausführungen, auch wenn sie offenkundig populärwissenschaftlich sind, einen Gefal­len tut, ist für den Rezensenten fraglich.

Um was aber geht es in dem Werk? Wie der Untertitel schon besagt, um das „Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion“ – eine Thematik, mit der sich Mutschler, der passenderweise Theologie, Philosophie und Physik studiert hat, schon öfters und auch publizistisch auseinander­ge­setzt hat; so ist auch das vorliegende Werk offenbar eine für ein allge­mei­ne­res Publikum geschriebene Version seines Buches „Halbierte Wirk­lichkeit. Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt“ von 2014.

Damit sind wir aber schon beim Begriff „Materialismus“, der im Zen­trum von Mutschlers Ausführungen steht. Der Autor unterscheidet dazu einen praktischen Materialismus, wie er sich etwa im Marxismus, aber heute v. a. in transzendenzvergessenem Konsumismus zeigt, und einen theoretischen Materialismus, der sonst meist unter dem Begriff „Natu­ra­lismus“ läuft.

„Ich möchte also im Folgenden den materialistischen Zeitgeist kritisie­ren, der heute zur Norm wurde, als eine Form der kollektiven Ego­zent­rik, erfunden zum Zwecke des Überlegenheitsgefühls. Dabei ist es aber nütz­lich, sich über gesamtgesellschaftliche Hintergründe zu verständi­gen, die diesen Materialismus überhaupt erst möglich gemacht haben“ (10).

So changiert das Buch also zwischen zwei Polen: zum einen die Ausein­andersetzung mit Konzepten, die mit Bezugnahme auf die Naturwis­senschaften Religion für überholt erklären; zum anderen die Kritik an einer heute verbreiteten „materialistischen“ Kultur. Beide Formen des Materialismus gibt es laut Mutschler unabhängig voneinander, sie stüt­zen sich aber auch gegenseitig (11).

Mutschler behandelt eine Vielzahl von Einwänden gegen die Existenz Gottes und dessen, was über das naturwissenschaftlich Fassbare hin­ausgeht. Stets ist sein Anliegen dabei, eine materialistische Blickveren­gung zu überwinden. Dadurch, dass Mutschler sich gleichermaßen in verschiedenen wissenschaftlichen Sphären auskennt, kann er auch ein Stück weit vermitteln und Missverständnisse und plausibel wirkende, aber falsche Schlüsse aufdecken.

So verweist er etwa in der Auseinandersetzung mit Richard Dawkins’ Kritik an den „Gottesbeweisen“ Thomas von Aquins auf die notwendige Unterscheidung zwischen dem heutigen Ursache-Begriff und der mittel­alterlichen Rede von (Gott als) Ursprung (28 ff.). Zu der Gehirn-Geist-Debatte, der sich das 3. Kapitel widmet, wendet er gegen materialisti­sche Positionen u. a. ein, dass Geist und Materie immer verschränkt vorkommen (55) und dass es neben der Beobachter- auch die Betrof­fen­heitsperspektive gibt (61); die kritische Relativierung des Objektivi­täts­ideals der Naturwissenschaften vertieft dann Kapitel 6a.

Vor allem aber geht es ihm darum aufzuzeigen, dass die Naturwissen­schaften nicht die Welt vollständig erklären können. Das dekliniert er nicht nur im Bereich der Physik, sondern auch der Biologie durch: „Wenn nämlich der Mensch emergente, das heißt also neuartige Eigen­schaften hat, die ansonsten so in der Natur nicht vorkommen, dann können diese Eigenschaften schwerlich durch die Evolution hervor­ge­bracht worden sein, wie sie von der Biologie verstanden wird“ (37). Nein, im Kapitel 2 unter der Überschrift „Ist der Mensch ein Produkt der Evolution?“ folgt jetzt natürlich kein Plädoyer für den Kreationismus, aber leider doch die vielleicht argumentativ schwächste Passage des Buches, wenn Mutsch­ler etwa das moralische Bewusstsein des Men­schen und sein soziales Verhalten als Beweis für Emergenz plausibel zu machen sucht mit Aus­sagen wie: „Wenn wir uns verhielten wie reine Naturwesen, dann wür­den wir die Toten nicht etwa begraben, sondern essen, und der Kanniba­lismus wäre eine sinnvolle Angelegen­heit“ (45).

Vornehmlich auf die Physik berufen sich dagegen die „Dogmen des Ma­terialismus“, denen sich Kapitel 4 zuwendet. Analog zur Betonung der Emergenz argumentiert hier Mutschler gegen das Supervenienzprinzip, das besagt, „dass der ursprüngliche materielle Seinsbestand alle höhe­ren Eigenschaften zwingend festlegt“ (73).

„Wo wir Gott abschaffen, bleibt sein Thron nicht leer, sondern das meta­physische Bedürfnis der Menschen erfindet rasch einen Ersatz“ (92): Dieser Satz im 4. Kapitel weist schon voraus auf den praktischen Materi­alismus, der in der zweiten Hälfte des Buches im Zentrum der Kritik steht. Mutschler beklagt z. B. eine „Aufhebung der Moral durch die Wis­senschaft“: „Weil Naturwissenschaft einen sehr formalen Weltbezug hat, der keine Werte enthält, verschwinden die Werte ganz vor unserem Blick, wenn wir der Meinung sind, dass die Naturwissenschaft bereits alles Wesentliche enthält, was wir über die Welt wissen können“ (99). Mutschler plädiert im Gegenzug dafür, im Interesse einer humanen Welt die Frage nach dem praktischen, wertegeleiteten Handeln nicht auf dem Altar scheinbarer naturwissenschaftlicher Objektivität zu opfern (z. B. 124). Er wendet sich gegen eine Gesellschaft des Haben­wollens, die er in Verbindung mit einer materialistischen Grundhaltung sieht (Kap. 6c).

Im Laufe der Lektüre wird immer deutlicher, dass das Werk auch ein Glau­bensbuch ist. Der Untertitel ist insofern fast schon ein wenig irre­füh­rend, weil Mutschler nicht Religion generell (im Verhältnis zu den Naturwissenschaften) im Blick hat, sondern weil er dezidiert aus einer christlichen (katholisch geprägten) Perspektive an das Thema heran­geht. Das Buch richtet sich offenkundig nicht etwa an Neoatheisten – dazu wäre die Auseinandersetzung mit entsprechenden Positionen auch viel zu selektiv und punktuell –, sondern will wohl v. a. Christen Orientie­rung geben angesichts der Anfragen an den Glauben mit (natur‑)wis­sen­schaftlicher Attitüde. Es ist ein Plädoyer für den Glau­ben, denn: „Der Ver­lust der Religion ist zugleich mit einem Verlust an existenzieller und moralischer Substanz verbunden, wobei man bis heute nicht sehen kann, was diesen Verlust kompensieren könnte“ (15). Von daher meint Mutschler: „Bezüglich Wissenschaft und Technik gibt es eine Wahl zu treffen: Haben wir genug an der theoretischen Durch­dringung und an technischer Effizienzsteigerung oder ist uns all dies nur ein Mittel zum Zweck, das Zwecklose, Spielerische, das Selbst­genüg­same und Sponta­ne zur Geltung zu bringen, als dessen Auf­gipfe­lung der Glaube seinen Ort hat, der ansonsten im kulturellen Rauschen der Postmoderne unter­gehen muss?“ (142). Es geht Mutschler also um nicht weniger als einen neuen Lebensstil!

Aber ob Mutschler dafür nicht etwas zu schnell und „selbstverständ­lich“ den Glauben, und zwar speziell den christlichen, ins Spiel bringt? Es ist zumindest gewagt, wenn nicht sogar etwas überheblich, wenn er schreibt: „Man sagt oft im Sinn einer Kritik: Die Theologen geben Ant­worten auf Fragen, die niemand gestellt hat. Es könnte aber ebenso gut sein, dass wir die falschen Fragen stellen und dass uns deshalb die Ant­worten der Theologen so fremd geworden sind“ (143). Dies ist eine von mehreren Stellen im Buch, bei denen man Angst bekommen kann, dass Mutschler in plump-apologetische Rechthaberei oder in zu undifferen­zierte Schwarz-Weiß-Malerei abgleiten könnte. Das geschieht aber nicht. Das eben angeführte Zitat leitet über zu den zwei letzten Kapiteln des Buches, in denen dann zwar theologische Überlegungen in den Vor­dergrund treten, in denen aber zuerst einmal „die eigene Zunft“ kriti­siert wird: Mutschler nimmt „Biedermeiertheologien“ (146) aufs Korn, die sich nicht wirklich der kontroversen Auseinandersetzung mit mate­ria­listischem Denken stellen, und betont, dass Theologie auch sozial­kritisch sein und das grundlegende Vertrauen in das von Gott getragene Sein offenhalten müsse (Kap. 7b). Abschließend umreißt Mutschler eine „Theologie der Natur“, die sich den naturalistischen Anfragen an den Glauben stellt, die aber einer materialistischen Perspektive eine auch vor naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verantwortete Pers­pektive des Glaubens entgegenstellt.

Es fällt nicht ganz leicht, ein Fazit zu ziehen. Mutschler ackert sich durch ein komplexes, anspruchsvolles, aber für einen verantworteten christli­chen Glauben unübergehbares Thema und bietet vielfältige Ein­blicke und argumentative Hilfen. Und: Er bleibt nicht bei der Entkräf­tung von Einwänden gegen den Glauben stehen, sondern skizziert auch Perspek­tiven für ein sinnvolles menschliches Leben angesichts mate­ria­listischer „Versuchungen“. Zudem vermag Mutschler durchaus kompli­zierte Ge­dankengänge anschaulich darzustellen. Und nicht zuletzt ver­fällt er trotz aller „Zeitgeist“-Kritik, die sehr deutlich ausfällt, nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema, nicht in Kulturpessimismus und funda­men­talistische Einseitigkeiten.

Und doch: Einmal abgesehen davon, dass manche Aspekte eher zu schnell abgehakt werden, kommt der Rezensent nicht darum herum, schwache und fragwürdige Argumentationen zu konstatieren; an ein­zelnen Stellen scheint Mutschler auch nicht ganz auf dem Stand der Diskussion zu sein, etwa bei seinen Bemerkungen zur Säkularisierungs­these (23 f.) oder zu sozialem Verhalten im Tierreich (45).

Insgesamt ein Buch, das an der Thematik Interessierten (am ehesten solchen mit akademischem Hintergrund) durchaus Wichtiges, Klären­des und Weiterführendes zu sagen hat (was man sich an manchen Stel­len auch ausführlicher wünschen würde), das sich auch recht gut liest, das aber nur mit kritischem Blick zu genießen ist. Doch wenn es in dieser Weise zum eigenen Nachdenken herausfordert, dann hat Mutschler wohl bereits viel erreicht.

Martin Hochholzer