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Freikirchen. Analysen eines wettbewerbsstarken Milieus

Der Titel verweist bereits auf die forschungsleitende These: Die „Evan­ge­lisch-Freikirchlichen“ als „wettbewerbsstarkes Milieu“, das sich der auch in der Schweiz deutlich wahrnehmbaren Säkularisierung – insbe­sondere auch in ihrer Form des Mitgliederschwunds bei religiösen Ge­meinschaften – erfolgreich entgegenstemmt. Was ist das „Geheimnis“ dieses „Erfolgs“?

Zuerst aber zurück zum Begriff „Evangelisch-Freikirchliche“, der in dem Band durchgängig gebraucht wird: Durch ihn soll die Verwendung des Begriffs „Evangelikale“ vermieden werden, der „einen negativen Beigeschmack“ habe (9). Im Blick sind somit nicht nur Freikirchler, sondern auch „Personen mit evangelisch-freikirchlichem Frömmig­keitstypus in reformierten Kirchen“ (ebd.).

Damit sind wir aber schon bei der Frage danach, welche Personengrup­pen die Studie erfasst und wie sie das tut. Zuerst einmal: Es ist eine reli­gionssoziologische Studie zur Schweizer Situation, die im Kern eine quan­titative und eine qualitative Befragung miteinander verbindet. Ihr Vorgehen erläutern die Forschenden ausführlich in einem methodi­schen Anhang.

Für die quantitative Befragung nehmen die Autoren eine „Repräsenta­tivi­tät […] mit Blick auf die evangelisch-freikirchliche Bevölkerung in der Schweiz“ (369) für sich an Anspruch. Mit 1100 ausgefüllten Frage­bögen (360) haben sie dafür eine breite Basis, allerdings mit einigen Einschränkungen: So wurden etwa die Migrationskirchen im freikirch­lichen Milieu aus praktischen Gründen weitgehend ausgeblendet (359 Anm. 8) und auch keine Fragebögen gezielt an evangelikale Mitglieder der reformierten Kirche verteilt.

Das schmälert den Wert der Studie aber keineswegs, sondern zeigt viel­mehr, wie schwierig die statistische Erfassung des (innerhalb der Ge­samtbevölkerung doch relativ kleinen) evangelikalen Milieus ist, dem sich die Forschenden so gut wie möglich angenähert haben. Von daher ist die Triangulation der quantitativen Zahlen mit einer qualitativen Befragung, die u. a. auch Evangelikale in reformierten Kirchen und Ausgetretene erfasst, sehr zu begrüßen. Denn dies erlaubt einzigartige Einblicke in das Milieu, die wegen ihrer Fülle nur exemplarisch benannt werden können.

Erhellend sind z. B. die Ausführungen zur „Wiedergeburt“ (Kapitel 2): Eine „Bekehrung“ – sei es als Kind oder erst als Erwachsener, sei es punktuell (oftmals im Kontext einer öffentlichen Veranstaltung) oder als längerer Prozess – gehört für die Milieumitglieder konstitutiv dazu. Ebenso identitätsstiftend ist die freikirchliche Gemeinschaft, die von spezifischen Glaubensüberzeugungen, Praktiken, Werten und Normen geprägt ist, die eine gewisse Abschottung gegenüber der Außenwelt im­plizieren. Neben „Abschottung“ ist aber „Wettbewerbsstärke“ der zwei­te Schlüsselbegriff, mit dem das Forscherteam den Erfolg dieses Milieus bestimmt (57–60): Punkten können Freikirchen gerade mit der sozialen Unterstützung und Beheimatung, die sie schaffen – so dass die von den Meisten allwöchentlich besuchten Sonntagsgottesdienste eine zentrale Rolle als sozialer Treffpunkt spielen. Was das auch bedeutet, wird an einigen Befragungsergebnissen klar: Der Freundeskreis fokussiert sich stark auf das eigene Milieu (114–116), ebenso die Partnersuche: „93,3 % der verheirateten Befragten haben einen gleichfalls ‚bekehrten‘ Ehe­part­ner“ (171 – dem „evangelisch-freikirchlichen Paar“ ist ein ganzes Kapitel gewidmet). Nimmt man noch die verschiedenen Aktivitäten hinzu, die von den Gemeinden außerhalb der Gottesdienste angeboten werden, dazu innergemeindliche Hilfsbeziehungen, so kann man eine deutliche „Attraktivität des evangelisch-freikirchlichen ‚Lebensstils‘“ (59) feststellen.

Die Wettbewerbsstärke erhöht sich noch, weil dieser Lebensstil durch­aus mit der heutigen „Ich-Gesellschaft“ kompatibel ist: neben der Mög­lichkeit der Auswahl von verschiedenen christlichen Angeboten nach eigenem Geschmack auch durch die relativ niedrigschwellige Möglich­keit, im Bedarfsfall innerhalb des Milieus zu einer anderen Kirche zu wechseln (vgl. Kapitel 9). Hier spielt auch die milieuinterne Diversifizie­rung eine Rolle, die die Studie in der Berücksichtigung von drei Submili­­eus (klassisch, konservativ, charismatisch) nachzeichnet (ohne dabei frei­lich noch näher auf die teilweise immer noch sehr großen Unter­schie­de zwischen einzelnen Freikirchen bzw. Gemeindeverbünden innerhalb der Submilieus näher eingehen zu können).

Dieser Flexibilität, Mobilität und Offenheit stehen freilich auch deut­liche Grenzziehungen gegenüber: Neben gemeinsamen Glaubensüber­zeugungen (Bibeltreue, Zentralität der Jesusbeziehung …) sind spezifi­sche gemeinsame Wertüberzeugungen extrem stabil und offenbar stark identitätsstiftend (was auch der Vergleich zwischen verschiedenen Ge­ne­rationen innerhalb des Milieus zeigt): Ablehnung von vorehelichem Geschlechtsverkehr, Homosexualität, Abtreibung und Scheidung (340). Positiv korrespondiert damit der Stellenwert der Ehe sowie der religiö­sen Kindererziehung im Milieu – wobei sich die Befragten deutlich ge­gen Zwang im Glauben positionieren (193–196). Auch hier zeigt sich wieder einmal das Bemühen der Autoren, Aspekte des Milieus aus ver­­schiedenen Blickwinkeln zu betrachten: Das Kapitel 7 hat zwei Unter­punkte, nämlich „Die eigenen Kinder erziehen“ und „Erzogen werden“. Insgesamt gilt: „Eine Familie gründen, Kinder haben und ihnen religiöse Überzeugungen vermitteln – dies erweist sich tatsächlich als eine zen­trale Zielsetzung dieser höchst aktiven Christen und spielt, indem es die Grenzen des Milieus festigt, eine herausragende Rolle in dessen Repro­duktion“ (167).

Daneben muss ein weiterer Aspekt von Reproduktion und damit von Wettbewerbsstärke erwähnt werden, dem die Autoren ein spannendes Kapitel widmen, das ungeahnte Einblicke ermöglicht: Evangelisierung / Mission (Kapitel 8). „Die Norm, wonach Evangelisierung für den Chris­ten Pflicht sei, wird von den Befragten nie infrage gestellt. Ganz im Ge­gensatz zu der in unseren Gesellschaften herrschenden Meinung wird aufdringliche Evangelisierung positiv bewertet“ (216). Dennoch ist „aggres­sive“ Evangelisierung (Selbstbezeichnung!; 223) nicht jeder­manns Sache; die Studie identifiziert auch andere Methoden wie „Zei­chen setzen und auf eine Reaktion warten“ (225), „Den Glauben als Problemlösung anbieten“ (226) und insbesondere das Knüpfen von dauerhaften Freundschaften als Missionsmethode – teilweise ganz bewusst zu diesem Zweck (228–231). Die Autoren dazu: „Freundschaft als Mittel der Evangelisierung einzusetzen läuft in gewisser Weise dar­auf hinaus, den Freund über die Beweggründe des Evangelisierenden zu täuschen. Dass dies ethisch fragwürdig ist, wird überhaupt nicht thema­tisiert“ (230).

Die Studie blendet also keineswegs kritische Aspekte des evangelikalen Milieus aus. Gerade durch die qualitativen Befragungen kann sie auch einiges aufzeigen, was „hinter den Kulissen“ läuft: die Gefahr innerer Spannungen und Zerwürfnisse zwischen Mitgliedern und Leitungsper­sonen, das Scheitern von Idealen (z. B. Ehescheidung), ungeschriebene Gesetze und Erwartungshaltungen, die Einzelne zuweilen stark unter Druck setzen, ausgeprägte Sozialkontrolle. Kapitel 11 widmet sich auf der Basis von Interviews mit 17 Personen explizit den Erfahrungen von Menschen, die das Milieu verlassen haben; es zeichnet ihre Beweggrün­de für eine religiöse Neuorientierung und die Austrittsprozesse nach sowie die damit verbundenen Probleme – das aber jenseits jeglicher Dramatisierung.

Das letzte Kapitel schließlich verlässt die synchrone Ebene und geht Veränderungen in ausgewählten Einstellungen nach, indem die Befra­gungsergebnisse nach Alterskohorten aufgeschlüsselt nebeneinanderge­stellt werden: z. B. Gottesdienstbesuch, Bibellektüre, Gleichstellung von Mann und Frau. Hier zeigt sich abschließend noch einmal in gewis­sen Punkten ein erstaunliches Beharrungsvermögen, in anderen dage­gen aber auch die Wandlungsfähigkeit des Milieus: etwa Pragmatismus im Geschlechterverhältnis oder die Zunahme von Angeboten speziell für Jugendliche. Eine entscheidende Entwicklung wird allerdings be­reits weit vorne im Band behandelt, nämlich die der einzelnen Submili­eus, wobei besonders der charismatische Sektor durch Wachstum – auch zu Lasten des klassischen und des konservativen Submilieus – hervorsticht (43 f.).

Soweit einige Einblicke in die Studie, welche keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Insgesamt bietet der Band ein mit Informatio­nen dicht gefülltes und (von Migrationskirchen abgesehen) recht umfas­sendes Panorama des evangelikalen Milieus in der Schweiz (ein Kapitel ist auch dem Thema „Evangelisch-Freikirchliche in einer reformierten Kirchgemeinde“ gewidmet). Einige Bilder und viel mehr noch die zahl­reichen O-Töne aus den qualitativen Interviews illustrieren und konkre­tisieren die soziologischen Reflexionen, die auch für Nicht-Fachleute gut zu lesen sind, aber nicht auf einen theoretischen Unterbau verzichten (Fachbegriffe werden ggf. erklärt).

Gewiss: Die religiöse Situation in der Schweiz hat ihre eigene Prägung. Dennoch vermag die Studie auch Nicht-Schweizern wertvolle Einblicke in evangelikale Vorstellungs- und Lebenswelten zu geben; da die einzel­nen Kapitel zwar mit den anderen vernetzt, aber prinzipiell in sich ab­ge­schlossen sind, lässt sich der Band auch selektiv nach eigenen Interes­sen lesen. Angesichts des Ausmaßes, mit dem Evangelikale auch in Deutschland das öffentliche Bild von Religion mitprägen, und der Brei­tenwirkung, die entsprechende Denk- und Verhaltensmuster zuneh­mend auch innerhalb des Katholizismus zeigen, sei die vorliegende Studie allen, die sich für die Gegenwart und Zukunft von Religion und Kirche interessieren, ans Herz gelegt.

Martin Hochholzer