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Was ist ein Charisma? Und wer ist ein charismatischer Mensch?

Was macht eine charismatische Persönlichkeit aus? Diese Frage markiert den Beginn eines Weges, auf dem Regina Radlbeck-Ossmann den Leser / die Leserin durch ein engeres und schließlich ein weiteres theologisches Ver­ständ­nis von „Charisma“ führt. Die Annahme des eigenen Lebens als Ge­schenk führt Menschen dazu, sich selbst zu finden und zu gestalten und gerade dadurch Anziehungskraft auszustrahlen.

Charisma ist ein Zauberwort. Bei Umfragen sind Menschen spontan in der Lage, Personen zu benennen, die sie als charismatisch empfinden. Die Lösung scheint ziemlich klar zu sein, denn unter den eingehenden Antworten tauchen wenige bekannte Namen immer wieder auf: Marilyn Monroe und Prinzessin Diana sind ebenso darunter wie Barack Obama und seit rund zwei Jahren natürlich Papst Franziskus. Schwerer schon fällt es den Befragten anzugeben, was genau sie unter der Be­zeich­nung „charismatisch“ verstehen. Nach kurzem Überlegen gelingt es den meisten, immerhin so viel festzuhalten: Wer als charismatisch empfunden wird, verfügt über eine besondere Ausstrahlung.

Der charismatische Mensch, ein Meister des gesellschaftlichen Auftritts?

Sozialwissenschaftler wollten es genauer wissen. Sie untersuchten, wel­che Kriterien erfüllt sein müssen, damit eine Person von ihrer Umwelt als charismatisch empfunden wird. Dabei gelang es, drei Grundkompo­nen­ten zu identifizieren. Es ist zum einen ein hohes Maß an Expressi­vi­tät, sodann eine funktionierende (Selbst)kontrolle und schließlich eine überdurchschnittliche Sensitivität. Charismatische Menschen sind der erwähnten Studie zufolge also mehr als andere in der Lage, selbstsicher aufzutreten und sich sprachlich treffend auszu­drücken. Sie verfügen des Weiteren über eine zuverlässige Selbstkontrolle, weshalb sie gut mit ihren – in der Regel positiven – Gefühlen umgehen können. Charismati­schen Menschen fällt es der Untersuchung zufolge vor allem leicht, die Menschen in einem Raum für sich einzunehmen. Kurzum: Charismati­sche Menschen sind Meister des gesellschaftlichen Auftritts. Dabei ist sowohl an den Ausdruck gedacht, den sie ihrer Person in der Begegnung verleihen, wie auch an den Eindruck, den sie dabei von ihrem Gegen­über mitnehmen. Soviel also zur alltagsüblichen Rede über einen als charismatisch empfundenen Menschen.

Zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem theologischen gibt es bemerkenswerte Unterschiede, aber durchaus auch Gemeinsam­keiten. Zunächst fallen die Unterschiede stärker ins Gewicht. So setzt der alltägliche Sprachgebrauch fast ausschließlich formal an, während der theologische ganz entschieden inhaltlich bestimmt ist. Konzentriert sich die außertheologische Rede nämlich auf die besondere Ausstrah­lung einer Person, so fällt dabei allein die Intensität dieser Anziehungs­kraft ins Gewicht. Der Charakter der betreffenden Person oder ihre mo­ra­­li­sche Integrität spielen hingegen keine nennenswerte Rolle. Über diesen Umstand stolpert man erst, wenn man bedenkt, dass unter dem lediglich formalen Gesichtspunkt einer starken Ausstrahlung wohl auch so mancher Diktator punkten könnte und als „charismatisch“ eingestuft würde. Nach konkreten Beispielen muss man nicht lange suchen. Die Geschichte kennt eine ganze Reihe entsprechender Gestalten. So soll etwa Stalin über ein Auftreten verfügt haben, das Menschen regelrecht in seinen Bann zog. Seine Biographen berichten, dass Stalin Menschen auf Anhieb gefangen nehmen konnte, und das nicht nur in Lagern, son­dern auch in Salons. Dem Vernehmen nach verfügten auch andere als extrem rücksichtslos oder gewalttätig bekannte Personen in ihrem Auf­treten über eine so starke persönliche Präsenz, dass man sie, wenn sie einen Raum betraten, garantiert nicht übersah.

Charismatische Führer, blinde Gefolgschaft?

Der 1864 geborene Soziologe Max Weber konnte aufgrund seiner Le­bens­daten (1864–1920) von Stalins Persönlichkeit und Politikstil noch nichts wissen. Dennoch fasste er in seinen Reflexionen über Herrschaft exakt den Typ ins Auge, den der russische Diktator später verkörperte. Weber identifizierte drei Typen von Autorität, eine traditionelle, eine legale und eine charismatische. Die letzte, charismatische Form der Au­torität sah der große Soziologe überall dort gegeben, wo einer Person außergewöhnliche Kräfte oder Fähigkeiten zugesprochen werden. Diese Zuschreibung hat – wie Max Weber richtig erkannte – zur Folge, dass das Umfeld der betreffenden Person spontan bereit ist, ihr zu folgen und ihren Anordnungen selbst unter extremen Bedingungen Folge zu leisten.

Im alltäglichen Sprachgebrauch blendet man die inhaltliche Unbe­stimmt­heit des Prädikats „charismatisch“ in der Regel aus. Man denkt nicht daran, dass dieser Begriff in seiner ausschließlich formalen Be­grün­dung gefährlich schillert und mit seinem zweideutigen Glanz bis­weilen ein ziemlich problematisches Sozialverhalten überdeckt. Charis­matischen Menschen gelingt es, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, und in einer Massengesellschaft ist dies ein besonders begehrtes Gut. So gilt heute vermutlich mehr denn je, dass man die Nähe charis­ma­tischer Menschen sucht und sich an ihnen orientiert. Jeder fühlt sich geschmeichelt, wenn andere ihm ein gewisses Charisma zuerkennen, und sei der Bereich, in dem dieses Charisma zur Geltung kommt, noch so klein. Umgekehrt wünscht niemand, aber auch wirklich niemand, von seiner Umwelt als „ein wenig charismatischer Mensch“ eingestuft zu werden. Dieses Urteil würde als geradezu vernichtend empfunden.

Charisma – theologisch vor allem dies: ein Gnadengeschenk

Im Unterschied zur allgemeinen Rede von Charismen und charismati­schen Menschen ist der  theologische Charismabegriff vor allem inhalt­lich bestimmt. Er beschreibt eine personale Besonderheit, die vor allem eines ist: eine Wirkung der göttlichen Gnade. Dieser intensive Bezug zur Gnade ist dem griechischen Wort „Charisma“ bis in seine Sprachgestalt hinein eingeschrieben. Der Verweis auf die göttliche Gnade prägt als „Charis“ die ersten beiden Silben des Begriffs. Die daran angehängte Endung ‑ma verweist auf ein Ergebnis, im konkreten Fall das Charisma, welches die im Grundwort benannte Ursache, hier „Charis“, die Gnade, hervorgebracht hat.

Da im theologischen Zusammenhang Gott als Ursprung und Geber der Gnade vorausgesetzt wird, wird mit dem in Gott liegenden Ursprung des Charismas zugleich dessen positive Qualität ausgesagt. Die Dinge lie­gen eindeutig. Weil von Gott nur Gutes kommen kann, kann auch das im Charis­ma vorliegende göttliche Gnadengeschenk nur gut sein. Die damit verbundene Qualitätsaussage hat eine zweifache Richtung: Sie fasst zum einen den göttlichen Ursprung ins Auge und erklärt das Cha­risma deshalb als in sich gut, weil es eine Frucht der göttlichen Gnade darstellt. Zu dieser kausal ansetzenden Begründung tritt eine finale. Sie hebt darauf ab, dass das Charisma vom Moment des Empfangs an aus­erwählt ist, selbst Mittel und Werkzeug der göttlichen Gnade zu sein. Der Träger des Charismas ist also berufen, es zum Guten zu gebrauchen und damit zu der Vollendung beizutragen, die Gottes Güte in der Welt schaffen will. Nachdem die inhaltliche Ausrichtung des theologischen Begriffs geklärt ist, ist ein erster, engerer von einem zweiten, weiteren Gebrauch des Begriffs zu unterscheiden. Beide Verwendungen werden in der paulinischen Theologie grundgelegt und dort auch näher begrün­det. Da der engere Gebrauch der geläufigere ist, sei er nachfolgend als erster erläutert.

Die außergewöhnliche Gabe. Das engere Verständnis von Charisma

Das engere Verständnis des theologischen Begriffs „Charisma“ leitet sich aus den Ausführungen ab, die der Apostel Paulus im 1. Korinther­brief (1 Kor 12–14) entfaltet. Der relevante Ausschnitt dient der Bewälti­gung einer konkreten Konfliktsituation. Der Apostel genießt als Ge­mein­­­degründer bei den Korinthern nach wie vor besondere Autorität. Abgesandte der Gemeinde haben ihm deshalb mitgeteilt, dass sich unter den Christen in Korinth zahlreiche Missstände eingeschlichen haben.

Einer dieser Missstände betrifft die Geistbegabungen, die einige wenige Mitglieder der Gemeinde für sich in Anspruch nehmen. Die fraglichen Personen haben die Fähigkeit zur Zungenrede an sich entdeckt. Darun­ter versteht man ein Auftreten, bei dem Menschen in freier Assoziation Laute oder Lautfolgen hervorbringen, die für sie selbst bedeutungsvoll sind, für etwaige Zuhörer jedoch keinen Mitteilungswert besitzen. Ge­schehen diese Äußerungen ausschließlich im privaten Bereich, so gelten sie als kindlich-spielerisches Lallen, als Trällern oder als harmloses Plappern. Erst dort, wo bewusst der öffentliche Auftritt gesucht wird und man den unartikulierten Äußerungen eine über die eigene Person hinausgehende Bedeutung beimisst, spricht man von Zungenrede oder Glossolalie.

Die Situation in Korinth erfüllt diese Kriterien. Die dortigen Glossolalen haben von ihrer neu entdeckten Fähigkeit im Gottesdienst Gebrauch ge­macht und dies dem Vernehmen nach ziemlich ausgiebig getan. Aus die­sen Auftritten haben sie einen Habitus abgeleitet, mit dem sie sich als „Geistbegabte“ inszenieren. Als solche beanspruchen sie nun eine Sonderstellung in der Gemeinde. Die nicht-glossolalen Gemeindemit­glie­der sind angesichts dieser neuen Autoritäten verunsichert, der ge­meindliche Zusammenhalt ist gefährdet. Zum Abfassungszeitpunkt des Briefes scheint die belastende Entwicklung bereits weit gediehen zu sein.

Paulus muss gezielt eingreifen. Er will die Dinge richtigstellen und das Auseinanderbrechen der Gemeinde auf diese Weise verhindern. Die Stellungnahme, die er vorlegt, ist deshalb denkbar umfassend. Sie er­streckt sich über ganze drei Kapitel (1 Kor 12–14), behandelt alle an­ste­henden Einzelfragen und bietet in argumentativer Hinsicht auf, was aufzubieten ist. Der Apostel spricht mahnend, werbend, erklärend und normsetzend. Mal ist er kategorisch, mal kameradschaftlich, zwischen­durch poetisch, und schließlich gibt er ganz einfach klare Anweisungen. Dabei konzentriert er sich zunächst auf Erstrangiges.

In einem ersten Schritt stellt Paulus klar, dass die potentiell vielfältigen Gnadengaben immer in einem unaufhebbaren Bezug zu dem einen Geist, dem einen Herrn, Jesus Christus, und dem einen Gott stehen (1 Kor 12,1–6). Welche besonderen gnadenhaften Fähigkeiten sich deshalb auch immer zeigen mögen, Jesus Christus bleibt für sie die unverbrüch­liche Richtschnur. Wer sich von ihr distanziert, steht – wie Paulus an­deu­tet – nicht in der Kirche, sondern vermutlich noch immer im Bann­kreis der stummen Götzen, also im Heidentum. Dies gelte auch, wenn der Betreffende selbst der Meinung sei, diese Phase liege längst hinter ihm. Paulus packt seine Adressaten bei ihrer Ehre. Er erinnert sie scho­nungslos an ihre Vergangenheit. Zu seinen Worten gesellt sich unaus­gesprochen die leise Aufforderung, jeder der Korinther möge für sich prüfen, ob er dem Heidentum womöglich noch immer nahestehe. Nach­dem er die Klärung dieser Frage seinen Adressaten selbst über­antwortet hat, holt der Apostel weiter aus.

In seinem nächsten Schritt geht Paulus zwei weitere Aspekte an, die in der Gemeinde von Korinth falsch verstanden wurden. Es ist zum einen der richtige Gebrauch der Gnadengaben und zum anderen der Rang, den der mit einer Gnadengabe Begabte in der Gemeinde beanspruchen darf. Paulus klärt beide Aspekte, indem er den Geschenkcharakter jedes Charismas erläutert. Was aus der Hand Gottes als Geschenk empfangen wurde, soll seinen Worten zufolge nicht für die persönliche Aufwertung eingesetzt und damit banalisiert, sondern so gebraucht werden, dass es in der Gemeinde Frucht bringt und anderen nützt. Dies gilt umso mehr, als Gott eine große Anzahl verschiedener Gaben ausgeteilt hat. Nicht ob­wohl, sondern gerade weil demnach jeder eine je andere gnadenhafte Ausstattung besitzt, kann er für die Gemeinde von besonderem Nutzen sein. Aus der so entstehenden Vielfalt baue sich nämlich, so Paulus, eine Gemeinschaft auf, in der jeder für die anderen Bedeutung besitze, jeder die anderen bereichere und jeder am Wohl und Wehe aller teilhabe. Eine uniforme Begabungsstruktur würde dies gerade nicht ermöglichen. Pau­lus greift auf die antike Staatstheorie und ihr Bild von dem einen Leib aus vielen Gliedern zurück, um seine Ausführungen zum Aufbau einer Gemeinde in Einheit und Vielfalt zu illustrieren.

In einem dritten Schritt hebt der Apostel noch einmal an, um von einem Weg zu sprechen, der über die beschriebenen grundlegenden Struktu­ren noch einmal hinausführt. Dazu entfaltet er ein Hohelied der Liebe. Der Text wird aufgrund seiner aussagekräftigen Bilder und seiner poe­­tisch fließenden Sprache bis in die Gegenwart hinein auch losgelöst von der Situation in Korinth häufig zitiert. In immer neuen Anläufen legt Paulus darin dar, dass alle Charismen, so wertvoll sie auch scheinen mögen, in sich zusammenfallen und nichtig werden, wenn sie nicht auf die gebotene Liebe bezogen bleiben. Wer von dieser Liebe erfüllt ist, las­se sein Charisma weder ungenutzt noch verwende er es, um seine eige­ne Weisheit oder Tüchtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Vielmehr bleibe dieser liebende und damit wahrhaft charismatische Mensch in seinem ganzen Denken, Fühlen und Handeln auf das Wohl der anderen bezogen. Dadurch werde er von einer Dynamik erfasst, in der er vom Kind zum Erwachsenen heranreife. In der Offenheit für dieses geistliche Wachstum bleibe er auf die noch ausstehende Vollendung ausgerichtet, in die sein individuelles Charisma und seine Persönlichkeit ebenso ein­geschrieben seien wie die übrige Welt. Bis diese Vollendung sich erfülle, empfiehlt Paulus, sich an Glaube, Hoffnung und Liebe zu halten, diese drei wahrhaft christlichen Tugenden. Der Liebe räumt er dabei gegen­über den beiden anderen einen Vorrang ein.

Vor dem Hintergrund des Gesagten formuliert der Apostel schließlich ein differenziertes Urteil über die Zungenrede. Darin würdigt er zwar deren Wert als mögliche Ausdrucksform der persönlichen Gottesbezie­hung, setzt ihrer gottesdienstlichen Verwendung jedoch klare Schran­ken. Seine Anweisungen sind unmissverständlich. Wo die Zungenrede geübt wird, soll sie zum einen von ihrem Umfang her begrenzt sein und zum zweiten im unmittelbaren Anschluss auch ausgelegt werden. Diese Aufgabe weist Paulus jenen Gemeindemitgliedern zu, die über die Gabe der prophetischen Rede verfügen. Bei diesem Charisma scheint es weni­ger um die Gabe einer hellsichtigen Zukunftsschau zu gehen, als um die Fähigkeit, in unübersichtlichen sozialen Situationen Klarheit zu schaf­fen. Mehrfach betont der Apostel in diesem Zusammenhang die Bedeu­tung des Verstandes. Er gesteht gern zu, dass der Zungenredner mit sei­nem Lallen Gott preise, doch habe auch diese Rede sich verständlich zu erklären. Die prophetisch begabten Ausleger sollten sich deshalb ein­schalten, das Gelallte ausdeuten und es erklären. Die Verständlichkeit der religiösen Rede sei nämlich unabdingbar sowohl für die Integrität des einzelnen Glaubenden und seines Glaubensaktes, wie auch für das innere Wachstum der Gemeinde. Verständlichkeit sei schließlich auch mit Blick auf die Außenwirkung einzufordern, die die Gemeinde auf Fernstehende habe. Wegen dieser klärenden und einordnenden Funk­tion weist Paulus dem prophetischen Dienst schließlich eine größere Bedeutung in der Gemeinde zu als der Zungenrede.

Leben in der zuvorkommenden Gnade Gottes: das weite Verständnis von Charisma

Die auf die korinthische Situation bezogenen Ausführungen Pauli sind bis heute Grundlage für das engere Verständnis dessen, was man theolo­gisch unter „Charisma“ versteht. Dieses enge Verständnis wurzelt je­doch in einem zweiten, deutlich weiter angelegten. Die inhaltliche Aus­richtung beider Fassungen ist teilweise identisch. Auch das zweite, wei­ter angelegte Verständnis von „Charisma“ meint wesentlich ein Ge­schenk der göttlichen Gnade und schließt dabei in kausaler wie in fina­ler Hinsicht das Merkmal der Güte ein. Im Unterschied zum ersten, en­geren Verständnis geht es bei dem zweiten jedoch nicht mehr vorrangig um spezielle Gaben, die einen Menschen vor anderen auszeichnen. Viel­mehr öffnet sich nun der Blick, wodurch das Leben insgesamt als ein einziges großes Gnadengeschenk erfasst wird. Durch Gottes Gnade ist der Mensch ins Leben gerufen worden. Gottes Gnade hat ihn bislang am Leben erhalten. Weil Gottes Zuwendung treu ist, darf er hoffen, dass sie ihm auch zukünftig all das gewährt, was er zum Leben nötig hat.

Wer Gottes Zuwendung erfahren hat und sich von ihr reich beschenkt weiß, der beginnt auf neue Weise zu leben. Er darf sich von Gott geliebt wissen. Dadurch wird es ihm möglich, sich selbst anzunehmen und zu lieben. Indem er dies tut, wird er fähig, auch andere anzunehmen und sie zu lieben. Wo dies geschieht, hat er der paulinischen Theologie zufol­ge das große Geschenk seines Lebens angenommen. Er macht es frucht­bar, indem er mit ganzem Herzen auf die Liebe antwortet, mit der Gott ihn zuvor schon geliebt hat. Dann wird auch er sich anderen gegenüber gnädig verhalten und ihr Wohlergehen fördern.

Dieses Verhältnis einer liebenden Geborgenheit, die durch Gott begrün­det wurde und auf andere ausstrahlt, bezeichnet Paulus im Römerbrief und an anderen Stellen ausdrücklich mit dem Begriff „Charisma“ (Röm 5,15f; 6,23). In diesem zweiten, weiten Verständnis leuchtet – wie un­schwer zu erkennen ist – die Existenzform des Glaubens insgesamt auf. Sie begreift das Leben in der zuvorkommenden Gnade Gottes als ein einziges großes Geschenk, weshalb kein anderer als der Begriff „Charis­ma“ dafür adäquat ist. Es ist Paulus, der diese ausgefeilte Gnadentheo­lo­gie entfaltet und den Schlüsselbegriff „Charisma“ darin einsetzt. Der Sache nach findet sich dieses Motiv jedoch nicht nur bei Paulus, son­dern in jedem Buch der Bibel. Dies gilt selbst dann, wenn der Begriff „Charisma“ dort nicht ausdrücklich dafür verwendet wird.

Das gemeinsame Merkmal: „eine Ausstrahlung, die besonders anziehend wirkt“

Nun rundet sich der Bogen. Fasst man nämlich das Gesagte zusammen, so zeigt sich, dass das theologische Verständnis des Begriffs „Charisma“ einiges mit dem alltagssprachlichen gemeinsam hat. Das Merkmal, das beide Verwendungen miteinander verbindet, verweist auf eine Aus­strah­lung, die besonders anziehend wirkt. Während die alltagsprachli­che Rede diese Ausstrah­lung auf das Können, die Gewandtheit oder die Persönlichkeit des als charismatisch bezeichneten Menschen selbst zu­rückführt, weist die theologische Rede über diesen Menschen hinaus auf das Wirken der göttlichen Gnade in ihm.

Die damit vollzogene Öffnung auf den in Gott liegenden Ursprung und Horizont des Charismas bringt zum einen das Merkmal grundlegender Güte in Erinnerung. Mit dieser Öffnung wird des Weiteren jeder Versu­chung zum Personenkult gewehrt, denn nach dem theologischen Ver­ständnis ist nicht der charismatisch begabte Mensch selbst zu bestau­nen, sondern das Wirken der göttlichen Gnade in ihm. Das theologische Verständnis gesteht dem charismatisch begabten Menschen deshalb auch keinen besonderen Status zu. Es eignet sich nicht dazu, eine Herr­schaft von Menschen über Menschen zu begründen und schafft von daher auch keine Untertanen.

Wer sich dennoch als Untertan sieht, muss etwas falsch verstanden ha­ben. Er ist aufgerufen, sich der Würde bewusst zu werden, die Gott allen seinen Geschöpfen mit auf den Weg gegeben hat und die Gottebenbild­lichkeit zu entdecken, mit der er den Menschen im Besonderen ausge­stattet hat. Die Begegnung mit charismatisch empfundenen Menschen soll ihn nicht zuletzt auffordern, das Charisma zu entdecken, mit dem er selbst ausge­stat­tet wurde. Seine Lebensaufgabe vor Gott und den Menschen besteht darin, dieses Gnadengeschenk anzunehmen und es fruchtbar zu machen. Wo dies gelingt, findet der Mensch zu sich selbst. Er gewinnt schließlich nicht nur innere Ruhe und äußere Stärke, son­dern auch das, was für jedes Charisma typisch ist: eine Ausstrahlung, die besonders anziehend wirkt.