„No risk, no fun“ – Fördern von Charismen in der Großpfarrei
euangel: Mit der Schaffung von Großpfarreien ändern sich nicht nur Strukturen, es werden auch Rollen neu verteilt und definiert. Hat sich aus Ihrer Sicht das Mit- und Zueinander von Priestern, hauptamtlichen und ehrenamtlichen Laien damit wesentlich verwandelt?
Galluschke: Es ist dabei, sich wesentlich zu verändern, und diese Veränderung stellt hohe Anforderungen an das hauptamtliche Personal und die Priester. Denn sie werden sich immer mehr darauf einlassen müssen, von einer Rolle der Leitenden und Tonangebenden zu Begleitern und geistlichen Coaches zu werden, damit die Freiwilligen („ehrenamtliche Laien“ ist nicht mein Lieblingswort und „Freiwillige“ nur etwas glücklicher – besser wäre „volunteers“, denn damit verbindet sich im angelsächsischen Raum eine andere Kultur) in der übernommenen Verantwortung gestärkt werden und zur eigenen Zufriedenheit und der ihnen anvertrauten Christen Verantwortung ausüben können.
Um die sich verändernde Situation mit einem Modewort zu beschreiben: Es geht um einen gemeinsamen Lebensstil „auf Augenhöhe“. Diesen Weg zu gehen ist nur möglich, wenn eine große Wertschätzung der Freiwilligen von Seiten der Hauptamtlichen vorhanden ist, die alltägliche Anerkennung der gemeinsamen Taufweihe und in keinem Fall ein „Besserwissen“. Hier aktualisiert sich das, was Christus sagt: „Ich bin nicht gekommen, um mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen“. Diese Haltung real umzusetzen, ist die größte Herausforderung für die Theologen einerseits und für die Freiwilligen andererseits.
Anders ausgedrückt: Die wesentliche Veränderung ist, dass sich die Pyramide der Hierarchie (Christen unten, Hierarchen oben) „auf den Kopf“ stellt – die Priester und Hauptamtlichen kommen in eine eindeutige Dienstfunktion an den Christen. Wenn das keine „Revolution“ ist!
euangel: Wie würden Sie Ihre Rolle als Leiter in diesem neuen Miteinander verstehen und beschreiben?
Galluschke: Meiner Wahrnehmung nach muss sich mein Leitungsstil nicht großartig verändern, da es mir schon immer wichtig war, im Team mit den Hauptberuflern und Freiwilligen voranzugehen. Das liegt auch an meiner spirituellen Prägung, die ich seit Studientagen (durch die Fokolarbewegung) verinnerlicht habe. Die Rolle des Pfarrers wird aber grundsätzlich immer mehr die eines Coaches für die Hauptberufler und Engagierten in der Pfarrgemeinde werden und die Aufgabe der Hauptberufler ebenfalls immer mehr die von Coaches für die Freiwilligen, d. h. es gilt einerseits darauf zu achten, dass jeder das tun darf, was er will und kann, und andererseits gut mit den Engagierten ihre Tätigkeiten zu evaluieren und sie weiter zu qualifizieren.
Das gilt auch für mich persönlich: In sich verändernder kirchlicher Situation ist Qualifikation und Weiterbildung, gerade auch weltkirchliches Lernen, angesagt. Es kann nicht sein, dass von Hauptberuflern oder von Freiwilligen etwas erwartet wird, wozu sie keine Grundbegabung haben und sie dann letztlich überfordert werden. Jeder und jede muss die Möglichkeit haben, dazuzulernen und zu wachsen.
Auf den Punkt gebracht lautet die Aufgabe des Leiters in der sich verändernden kirchlichen Situation: die Sorge um die Einheit und Vernetzung in der Pfarrei und die eines geistlichen Coaches.
Die Sorge um die Einheit und das Zusammenspiel im „Leib Christi“ ist prioritär.
euangel: Wie beschreiben die hauptamtlichen Laien ihre neuen Rollen und welche Erfahrungen machen sie damit?
Galluschke: Auf den ersten Blick sind die neuen Rollen sehr gewöhnungsbedürftig. Denn die engagierten Gemeindemitglieder, die beginnen echte Verantwortung zu übernehmen, bringen eigene Ideen ein, die vielleicht nicht immer automatisch mit den Vorstellungen der Hauptberuflichen übereinstimmen. Da sind Hören, Geduld, Zurückhaltung und Unterstützung durch uns Theologen angesagt und nicht so sehr Bestimmung, wo es langzugehen hat!
Es geht damit für die Hauptberufler immer mehr um eine Dienstfunktion an den getauften Christen und ihrer Würde und um Ermutigung der Getauften, sich ihren Gaben entsprechend etwas zuzutrauen, nicht immer auf die Theologen zu schauen, sondern auch dem „sensus fidelium“ zu folgen. So mancher der Hauptberufler tut sich allerdings schwer damit, als Begleiter zu fungieren – denn diese Haltung bringt, wie für uns Pfarrer, auch den Geschmack des Machtverlustes mit sich.
euangel: Werden Gemeindemitglieder, die sich engagieren möchten, anders einbezogen als früher?
Verändert sich das Selbstverständnis der Menschen in der Pfarrei – und damit die Bereitschaft, sich aktiv ins Gemeindeleben einzubringen, und die Motivation dafür?
Galluschke: Gerade in unserer Region gibt es schon immer eine hohe Eigenverantwortung auf den Dörfern für die eigene Kirche. Das kommt der Entwicklung von lokaler Verantwortung sehr zu Gute. Was sich verändert, ist die Entstehung von lokalen Leitungsteams. In vielen Pfarrgemeinden gibt es nicht nur den zentralen PGR und KV, sondern auch lokale Gremien, die mit der pastoralen und verwaltungstechnischen Sorge um den Kirchort von der Gemeinde vor Ort beauftragt wurden. In diesen lokalen Gremien gilt es mit Geduld in einem geistlichen Prozess Leitungsteams herauszufinden, zu begleiten und zu stärken, damit sie das „Gesicht“ der Kirche vor Ort sein können.
Dieser Prozess bedarf natürlich auch einer guten Vernetzung auf der Gesamtebene der Pfarrgemeinde, d. h. größtmögliche Wahrung der Selbständigkeit der einzelnen kirchlichen Orte und gleichzeitig gute Kommunikation mit den zentralen Gremien. Die Aufgabe, lokales Leitungsteam zu sein, stärkt die Verantwortungsträger vor Ort und motiviert gleichzeitig. Bisher machen wir die Erfahrung, dass es nicht weniger Ehrenamtliche gibt, die sich darauf einlassen – wenn nicht Alleskönner, sondern Teams gesucht und begleitet werden.
Auf der zentralen Ebene der Pfarrei scheint es mir sinnvoll, als Bindeglied zwischen zentralem PGR und KV ein kleines Pfarreileitungsteam zu installieren, in dem gleichberechtigt unter der Moderation des Pfarrers reflektiert und geplant wird – als Dienst für die Gremien PGR und KV.
euangel: Oft stellt sich die Frage, ob Gemeindemitglieder Aufgaben übernehmen können und wollen, die nicht mehr von Hauptamtlichen geleistet werden können. Ein anderer Ansatz ist es, statt von den Aufgaben eher von den Charismen der Menschen auszugehen, die sich in der Gemeinde engagieren möchten. Findet ein solcher Perspektivenwechsel statt?
Galluschke: Gott sei Dank findet dieser Perspektivwechsel statt, denn für Aufgaben Ehrenamtliche oder Freiwillige zu suchen, damit die Hauptberuflichen entlastet werden, macht die Ehrenamtlichen zu verlängerten Armen z. B. des Pfarrers oder nur zu Mitverantwortlichen. Das ist zu wenig und entspricht nicht der Berufung und Würde der Getauften oder Taufgeweihten. Diese müssen und sollen in echte Verantwortung kommen.
Durch die Gabenseminare für Ehrenamtliche arbeiten wir kontinuierlich daran, dass die Getauften sich ihrer von Gott geschenkten Gaben, Charismen bewusster werden und diese dann auch einsetzen – wo auch immer. Ziel dabei ist, glücklich zu werden. Denn erfüllende Mitarbeit geschieht dann, wenn Wollen, Können und Sollen übereinstimmen. Freilich geschieht es dann, dass für Aufgaben, die bisher immer üblich waren, keine Personen mehr zu finden sind, weil die Gaben dafür fehlen. Andererseits kann durch Engagierte, denen ihre Gaben bewusst sind, eine spannende Profilierung der Pfarrgemeinde wachsen.
Übersehen darf man allerdings nicht, dass die Energie und Dynamik, die durch effektiv eingesetzte Gaben aufkommen, leicht dort verpuffen können, wo große Schwachstellen in der Pfarrgemeinde sind (sozusagen ein Leck im Rumpf des Schiffs, das sich Gemeinde nennt). Das kann z. B. ein starkes Kirchturmdenken sein oder wenig ausstrahlende Gottesdienste und Vieles mehr. Gemeinsam mit den Gremien muss dann kritisch überlegt werden, wie man diese Lecks schließen kann.
euangel: Wie wird die Entdeckung und Entwicklung von Charismen gefördert? Wer ist dafür zuständig? Gibt es dafür bestimmte Strategien oder Instrumente? Sie sprachen schon kurz „Gabenseminare“ an.
Galluschke: Seit einigen Jahren arbeite ich – auch mit ökumenischen Partnern – mit einem Seminar, das ich bei der größten amerikanischen Freikirche „Willow Creek“ kennengelernt habe. Mit Mitarbeitern haben wir dieses Seminar „katholisiert“ und weiterentwickelt. Es geht dabei darum einen Mix zu erstellen: ein persönliches Profil aus Neigungen – von Gott gegebenen Charismen – Persönlichkeitsstil.
Das geschieht in Einzelarbeit, Tests, Kleingruppen und Plenumsarbeit. In der Regel entdecken dabei Teilnehmer bisher Verborgenes in der eigenen Person oder erfahren Bestätigung ihrer Gaben. Ziel ist ein erfüllendes und erfülltes Engagement.
Zuständig für dieses Qualifikationsinstrument sind momentan die Hauptberufler mit dem Pfarrer, ich habe solche Seminar aber auch schon zusammen mit erfahrenen Gemeindemitgliedern geleitet.
euangel: Wie verstehen Sie Ihre Leitungsaufgabe in Bezug auf die Charismen? Wie geben Sie den entdeckten – und vielleicht überraschenden – Charismen Raum? Ist das manchmal eine Herausforderung? Wenn ja, wie gehen Sie damit um?
Galluschke: Meine Aufgabe als Pfarrer sehe ich in vier Schwerpunkten: Hüter der Einheit sein, Charismen entdecken und fördern, Predigt und Sakramentenspendung. Wenn überraschende Charismen zu Tage treten, dann ist es selbstverständlich, dass diese Raum in der Pfarrgemeinde bekommen müssen. Das kann für die Gemeinde schon eine Herausforderung sein, wenn sie Bereiche betreffen, die unüblich sind, oder aber wenn keine Charismen vorhanden sind für Bereiche, die man immer abgedeckt hat – oft mit Mühe und Not und ohne Ausstrahlung.
Eine weitere Herausforderung ist, die Charismenträger nicht an die katholische Pfarrgemeinde zu binden. Sie sind frei, sich in dem gesellschaftlichen Bereich einzusetzen, wo sie möchten – das muss jede und jeder Einzelne selbst entscheiden. Denn Freiheit ist oberstes Gebot – keiner soll rekrutiert werden, aber jeder motiviert werden, seine Gaben zu geben. Es ist spannend darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn sich in Leitungsgremien der Pfarrgemeinde herausstellt, dass es einen deutlichen Schwerpunkt an Gaben der Gastfreundschaft gibt, aber keine im Bereich der Diakonie. Daraus müsste sich auch ein Programm ergeben – auch für die Diakonie.
Grundsätzlich halte ich viel davon, den Charismen ihren Raum zu geben, damit sie ausprobiert werden können, sich entwickeln und zum Geschenk für andere werden können. Wenn das nicht meinen Ideen entspricht, dann ist das auch gut. Auch ein Pfarrer muss lebenslang dazulernen und flexibel sein mit dem, was Gott seiner Gemeinde in den Menschen schenkt.
euangel: Wenn man den Charismen als Gaben des Heiligen Geistes dabei eine so hohe Priorität gibt – sind der Umbruch hin zu einem großen pastoralen Raum und die Veränderung der Rollen dann als geistlicher Prozess zu verstehen?
Galluschke: Wir müssen den Umbruch zu einem größeren pastoralen Raum und die Rollenveränderung als geistlichen Prozess gestalten. Allein das Festlegen von neuen Strukturen und das Finden von verantwortlichen Freiwilligen mit Charismen für das, was immer so üblich war, ist in der Gefahr, ohne Ausstrahlung oder blutleer zu sein.
Wir müssen uns auf den Weg machen, die Engagierten zu einem geistlichen Entwicklungsprozess zu motivieren, sie zu begleiten, damit sie dann echte Verantwortung vor Gott und der Kirche übernehmen können. Wenn wir den geistlichen Prozess vergessen, der natürlich nur von dem Einen gesteuert werden kann (und wird!), dann hat Kirche den Geschmack einer mehr oder minder gut organisierten Institution, aber nicht den Geschmack Gottes – und das wäre fatal.
euangel: Wie würden Sie Ihre persönliche Erfahrung mit der Charismen-Arbeit ganz kurz zusammenfassen?
Galluschke: Grundsätzlich gilt, was die Arbeit mit und an Charismen angeht: No risk, no fun! UND: Sie bedeutet maximale Partizipation von Getauften und höchstes Vertrauen auf das Wirken Gottes heute.