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Leiten für engagierte haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende in der Gemeinde

Für Willow Creek ist das Thema „Leitung“ von zentraler Bedeutung. Im 2-Wochen-Rhythmus werden Leitungsimpulse vom Bill Hybels, dem leiten­den Gründungspastor versendet, die die Frage der Leitung unter der Über­schrift „Everyone wins when a leader gets better!“ auf verschiedensten Feldern beleuchten. Daneben findet sich auch Hybels Buch „Die Kunst des Führens“, das auf die Wichtigkeit, Brisanz und Erfahrungen rekurriert und zur Verbesserung anregt. Grund genug, diese Erfahrungen auch in die Dis­kussion in der katholischen Kirche einzubringen. Dies geschieht durch Jörg Ahlbrecht, der in seinem grundsätzlich angelegten Beitrag eine Analogie zwischen der Vielstimmigkeit eines Orchesters und einer Gemeinde herstellt und dabei auf die Bedeutung des Dirigenten – der „dienenden Leitung“ – verweist.

Es war bei Stillen Tagen in der Benediktiner-Abtei Gerleve. Ich hatte ein paar sehr intensive Tage hinter mir, hatte viel geschwiegen, viel nachge­dacht, viel gebetet, kurz: hatte den Frieden Gottes neu erlebt; und nun, am letzten Tag, wollte ich in der großen Kirche des Klosters meine jähr­liche Zeit des Schweigens abschließen, bevor ich in meine täglichen Aufgaben als Pastor einer Ortsgemeinde zurückkehren sollte. Ich hatte in den vergangenen Tagen viel in dieser Kirche gesessen. Hatte immer wieder das Jesus-Mosaik betrachtet, das in der Apsis angebracht war, und viele innere Dialoge mit diesem Mosaik geführt. Diese alte Kirche war ein guter Ort für solche Gespräche. Was mir für den Abschluss vor­schwebte, war ein besinnlicher Abschluss meiner Kloster-Zeit. Gott nochmal in der Stille erleben, die letzten Tage nochmal durchgehen und dann aus der Ruhe des Klosters zurück in den Alltag gehen. So sollte das sein. Dachte ich! Ich betrat die Kirche durch den Seiteneingang – und traute meinen Augen und Ohren nicht: ich stand mitten im Chaos!

Mein schöner, besinnlicher, ruhevoller Ort war plötzlich voller Men­schen! Menschen, die herumliefen, lachten, sich unterhielten; der gesamte Raum vor dem Altar war mit Stühlen vollgestellt und mit Instrumenten belegt. Die schummrige Atmosphäre hatte man durch helle Strahler ersetzt! Die Ruhe war einem hektischen Hin- und Her­laufen vieler Menschen gewichen! Es wurde gerufen und gelacht. Und dazwischen kamen die seltsamsten Töne an mein Ohr!

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Und nur ganz langsam durchdrang mein Bewusstsein die Erkenntnis, dass hier gerade ein Orchester auf­bau­te. Völlig enttäuscht musste ich feststellen, dass es nichts war mit meinem besinnlichen Abschluss! Zumindest nicht hier, wo ich die letzten Tage so intensiv verbracht hatte. Innerlich wütend vor mich hin schimpfend, wollte ich die Kirche gerade wieder verlassen, da meldete sich diese leise, vertraute innere Stimme zu Wort! Diese Stimme, die ich in den letz­ten Tagen öfter gehört hatte! Und diese Stimme forderte mich auf, mich hinzusetzen.

Ich dachte: „Ich hab mich wohl verhört! Was soll ich hier?“ Und schon war ich innerlich am Lamentieren: „Herr, ich finde das ungerecht. Ich hatte mich so auf diesen Abschluss gefreut und nun fühle ich mich um das Ergebnis meiner Stillen Tage betrogen. Und wieso soll ich mich hier nun ins Chaos setzen? Chaos habe ich zu Hause schon genug!“

Aber die Stimme ging nicht weg! Sie hat oft eine eigenartige Beharr­lichkeit:  „SETZ DICH HIN!“

Mittlerweile versuche ich, so oft es geht, dieser Stimme zu folgen, es lohnt sich einfach nicht, sie zu ignorieren. Also drückte ich mich in die Bank und schaute dem Treiben zu. Musiker stimmten ihre Instrumente, Leute trugen Notenständer hin und her. Es war laut, es war ein großes Durcheinander. Es vergingen 10 Minuten, – ich habe mir das Chaos betrachtet und nicht verstanden, warum ich hier sitzen sollte. Ich war schon drauf und dran aufzustehen und zu gehen, als eine Frau mit energischen Schritten durch den Mittelgang nach vorne ging, sich auf einen kleinen Holzblock stellte, einen Taktstock hervorzog und dreimal auf ihren Notenständer schlug. Es war unglaublich, aber diese drei Schläge brachten das gesamte Chaos mit einem Schlag zur Ruhe. Es folgte ein Moment der Stille, die nach der enormen Geräuschkulisse geradezu brüllend war – dann hob sie beide Arme, gab einen Einsatz und das Orchester begann ein Musikstück zu spielen, mit einem so herrlichen Klang, der in der wunderbaren Akustik der großen Kirche zum Strahlen kam, dass ich völlig verzaubert in meiner Bank saß und zuhörte. Ich weiß nicht mehr, welches Stück sie gespielt haben, aber ich weiß, dass es mich tief berührt hat. In diesem Moment meldete sich wieder die sanfte Stimme zu Wort: „Schau es dir gut an. So soll es sein! Dies ist ein Bild, wie die Ortsgemeinde funktioniert.“ Ich schaute mir das Bild genauer an. Da gab es in der Tat eine Menge zu lernen. Ein Orchester und eine Ortsgemeinde haben viele Parallelen.

1. Jeder hat eine Aufgabe – jeder ist wichtig!

In einem Orchester gibt es keine unbeteiligten Mitglieder. Jeder hat sein Instrument und einen Klang, den er einbringen soll. Jeder ist wichtig, je­der hat seinen Part. Wenn Menschen diesen Part nicht ausüben, fehlt etwas am vollständigen Klang. So ist es auch in der Ortsgemeinde. Jeder hat etwas einzubringen. Kirche ist nicht ein Ort, an den man geht, Kir­che ist etwas, das man ist. Im Zusammenspiel mit anderen. In der Bibel hört sich das so an:

Der Körper des Menschen ist einer und besteht doch aus vielen Teilen. Aber all die vielen Teile gehören zusammen und bilden einen unteil­ba­ren Organismus. So ist es auch mit Christus: mit der Gemeinde, die sein Leib ist. … Nun aber hat Gott im Körper viele Teile geschaffen und hat jedem Teil seinen Platz zugewiesen, so wie er es gewollt hat. Wenn alles nur ein einzelner Teil wäre, wo bliebe da der Leib? (1 Kor 12,12.18f. [Übersetzung: Gute Nachricht])

Jeder und jede in der Gemeinde haben mindestens eine Gabe empfan­gen, die dem Aufbau des Leibes Jesu dienen soll. Und es kommt darauf an, dass jeder diese Gabe auch einsetzt. Dies ist keine Verpflichtung, son­dern ein Vorrecht. Jeder Mensch in der Gemeinde Jesu hat ein un­ver­brüchliches Recht darauf, an den Diensten des Reiches Gottes betei­ligt zu sein. Weil die Teilhabe an diesen Diensten der Schlüssel zum Le­ben in Fülle darstellt. Wenn wir Gott etwas von unseren empfangenen Gaben zur Verfügung stellen und erleben, dass er daraus etwas macht, ist das zutiefst erfüllend.

Weil die Gaben unterschiedlich sind, hat niemand alle Fähigkeiten. Wir brauchen gerade die Ergänzung des anderen. Erst wenn alle sich ein­brin­gen, entfaltet die Gemeinde ihre ganze Kraft. Und die Gaben sind kein Selbstzweck. Sie dienen nicht der Profilierung des Einzelnen, sondern dem Aufbau des Ganzen. Daher heißt es in 1 Petr 4,10 (Luther-Übersetzung):

Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, zur Ehre Gottes!

2. Vielfalt und Unterschiedlichkeit ist nicht Bedrohung, sondern Gabe.

Im Orchester hat jeder sein Instrument. Und dieses Instrument be­stimmt, was gespielt wird. Nicht jeder spielt das Gleiche. Aber es muss zu dem passen, was die anderen spielen. In der Gemeinde bedeutet das: Nicht alle tun das Gleiche. Jeder hat seine Gabe, jeder hat seine Aufgabe. Manche können organisieren, andere sind künstlerisch begabt, manche können lehren, andere sind begabte Leiter. Im Zusammenspiel mit an­deren soll eine große Harmonie entstehen. Gott hat die Menschen un­ter­schiedlich gemacht, diese Vielfalt ist Reichtum und Chance. Dabei gibt es nicht gute und schlechte Instrumente. Und es ist auch völlig unnötig, jemand anderen um sein Instrument zu beneiden. Jeder hat seine individuelle Gabe, die er einbringen kann. Im 1. Korintherbrief hört sich das so an:

In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller;  dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wun­der zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will. (1 Kor 12,7–11)

Ziel der Mitarbeit ist der „Nutzen aller“. Wir sind Diener. So wie das Spielen eines Instrumentes Übung erfordert, so erfordert auch der Ein­satz meiner Gabe Übung. Niemand ist sofort ein Meister. Darum ist die Gemeinde Jesu auch ein großes Übungsfeld, ein Trainingslager, wo wir Dinge falsch machen dürfen, wo wir Gaben ausprobieren können, wo der Freiraum ist, etwas einzuüben – indem wir einander bei der Aus­übung der Gabe unterstützen.

3. Eine dienende Leitung setzt die unterschiedlichen Gaben frei.

Jedes Orchester braucht eine Leitung. Diese Leitung dient dem Ganzen und hilft den einzelnen Instrumenten und Stimmen, zu einem großen Ganzen zu werden. Durch den Dirigenten oder die Dirigentin wird das, was jeder einzubringen hat, kanalisiert und aufeinander abgestimmt. Der Dirigent hilft den einzelnen Instrumenten, den gemeinsamen Takt zu finden, zusammenzubleiben. Der Dirigent übt mit den einzelnen Stimmen und er fügt das Ganze zusammen.

Unter den Gaben, die das Neue Testament erwähnt, ist die Gabe der Lei­tung die strategisch wichtigste, weil sie allen anderen Gaben erst zur Entfaltung und zur Zusammenarbeit verhilft. Ohne die Gabe der Lei­tung droht immer das Chaos. Dabei ist entscheidend, dass die Leitung eine dienende Leitung ist. So wie Christus ein dienender Herr ist, so dienen die Leiter sowohl Christus als auch den Menschen in der Gemeinde.

4. Ein Orchester und eine Gemeinde benötigen Klarheit, „was gespielt werden soll“.

Bei dem Orchester braucht es eine gemeinsame Partitur, in der Gemein­de braucht es Einigkeit über den Auftrag und welche Rolle der Einzelne darin hat.  Wenn im Orchester die einen Bach spielen, die anderen Mo­zart und wieder andere Heavy Metal, dann wird es schwer sein zueinan­derzufinden. Das Lied kann man nicht den einzelnen Stimmen überlas­sen. Wenn jeder spielt, wie es ihm gefällt, ist das noch keine Musik – zumindest keine, der man gern zuhört.

Ebenso braucht es in der Ortsgemeinde eine Verständigung, was genau „gespielt werden soll“. Was sollen Menschen in der Ortsgemeinde erle­ben? Wie sollen sie Hilfe zum Glauben erfahren? Wie laden wir Men­schen ein? Auf welche Weise wird der Not von Menschen begegnet, wel­che Angebote haben wir zur Begleitung? Wie werden Menschen auf ihrem Weg in der Christusnachfolge in der Gemeinde unterstützt? Nur wenn jedem klar ist, was gespielt wird und welche Rolle er dabei hat, entsteht ein Klang, der größer ist als die Summe der Einzelteile. Die Verantwortung für diesen Prozess der Klärung liegt bei den Menschen, die die Gabe der Leitung haben.

5. Orchester und Gemeinde – auf die richtige Stimmung kommt es an.

Wissen Sie, wer in einem Orchester für die richtige Stimmung sorgt? Ich wusste es lange Zeit nicht, bis mich ein Freund darüber aufgeklärt hat. Die Stimmung der Instrumente kommt in einem Orchester von der Oboe. Sie ist der Orientierungspunkt für alle anderen Instrumente. Daher gehen alle Spieler nacheinander zur Oboe, um sich den richtigen Ton abzuholen. Bleibt diese Abstimmung aus, wird das gemeinsame Musikstück recht grauselig klingen.

Dabei ist völlig klar: es reicht nicht, sich innerhalb einer kleinen Gruppe im Orchester einig zu sein. Es ist nicht genug, wenn die Geigen die glei­che Stimmung haben oder die Trompeten sich einig sind. Es kommt darauf an, dass alle sich in der Stimmung einig sind und von der Oboe den richtigen Ton aufgenommen haben.

In der Gemeinde Jesu kommt die gemeinsame Stimmung von Christus her. Und es ist die Liebe, die die einzelnen Teile verbindet. Fehlt diese Stimmung, ist jeder gemeinsame Klang von vornherein getrübt. Diese Stimmung muss jeder Einzelne sich täglich neu bei Christus abholen. Wir müssen immer wieder neu nach der inneren Übereinstimmung mit ihm suchen – ohne dies wird die Arbeit in seinem Leib schwierig.

Dies gilt in besonderem Maße für die Menschen, die leitende Funktion haben. An ihnen wird immer wieder deutlich werden, welche Stim­­mung sie verbreiten. Sie können Vorbild und Anstoß sein für den gan­zen Leib Jesu, immer wieder neu den Klang aufzunehmen, der dem Sinn und dem Verständnis Christi entspricht. So wie von einem Orches­ter ein inspirierender, berührender Klang ausgehen kann, wie Men­schen innerlich aufgebaut werden, zur Ruhe kommen, ins Staunen geführt werden, eintauchen in Schönheit und Majestät, so sollen in viel umfassenderem Maße die Menschen durch die Gemeinde Jesu aufge­baut, inspiriert, geheilt, getröstet und ins Staunen gebracht werden.

Die entscheidende Frage für die Kirche der Zukunft wird sein, ob es gelingt, die Gaben der einzelnen Mitglieder freizusetzen.

Und es beginnt mit der Gabe der Leitung.