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Geistlich Leiten. Eine theologische Reflexion

„Geistlich leiten“ ist einer der Forschungsschwerpunkte im Institut zur Er­for­schung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) in Greifs­wald. Patrick Todjeras entwickelt ein an der Schrift geschärftes Verständnis geistlicher Leitung als Weiterführung der Schöpfungstätigkeit Gottes. Sein Konzept geistlicher Leitung ist eingebettet in die missionarische Aufgabe von Christen und Gemeinde im Kontext der Welt.

Der Begriff „geistlich Leiten“ ist in den letzten Jahren zu einem wesent­li­chen Begriff in der kybernetischen Diskussion und der gemeindlichen Praxis geworden. Obwohl es in der Vielfalt unserer Kirchen nicht selbst­verständlich ist von geistlicher Leitung zu sprechen – leider! –, gibt es doch vielgestaltige Bemühungen, das Führungs- und Leitungsge­sche­hen mit einer spirituellen / geistlichen Dimension im Gespräch zu ver­knüpfen. Es tauchen Begriffe auf wie „geistliche Leitung durch Geistli­che“, „christliche Leitung“ oder „spirituelles Gemeindemanagement“. Im folgenden Artikel sollen weder alle aktuellen Fragen dieses Diskurses vorgestellt werden, noch der Versuch unternommen werden, sich in eine „Schule“ oder theologiegeschichtliche Strömung einzuordnen. Hier soll es um eine biblisch-theologische Reflexion geistlicher Leitung gehen. Der Bezug auf die Bibel als Richtschnur und Maßstab unseres theologischen Denkens soll damit unterstrichen werden. All unsere theologische Reflexion bezieht sich dabei auf die norma normans, die Heilige Schrift. Darum soll an dieser Stelle auch nicht auf die begriff­liche Unterscheidung von „leiten“ und „führen“ eingegangen, sondern beides synonym verwendet werden. Leiten und Führen stehen für ein absichtsvolles, zielgerichtetes personen- oder aufgabenorientiertes Geschehen.

Im Anfang schuf Gott ... „geistliche Leitung“?

Wer war der erste geistliche Leiter der Bibel? War es Saul, der durch den Propheten Samuel in sein Amt als erster König und Leiter gerufen wur­de (1 Sam 8,31), oder war es Samuel, der als Geistlicher schon leitete? War es Abraham, der Hirte, der von Gott berufen wurde, Vater großer Völker und Nationen zu werden (Gen 12)? Oder war es Noah, der geistli­che Leitung im familiären Kontext ausübte?

Der erste Leiter, der berufen wurde, war der erste Mensch – Adam. Im ersten Buch Mose steht geschrieben: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (Gen 2,15). Sogleich nach der Erschaffung wird dem ersten Menschen ein Auftrag gegeben, eine Aufgabe übertragen: Er sollte „be­bauen“ und „bewahren“. Sein Aufgaben- und Verantwortungsbereich wird in der Folge erweitert, Adam sollte auch „essen“ (V. 16), sich ver­­mehren oder den Tieren Namen geben. Sein primärer Auftrag war es jedoch, das zu bewahren und weiterzuführen, was Gott geschaffen hat­te. Weil Gott erschuf, konnte der Mensch in das Handeln Gottes mit hineingenommen werden. Es zeigt sich, dass schon zu Beginn Gottes Handeln und Wirken, Gottes Absicht für diese Welt und in dieser Welt mit einer Leitungsaufgabe des Menschen verbunden ist. „Geistlich“ ist Leitung dann insofern, als sie sich auf Gottes Handeln und Wirken be­zieht und an Gottes Handeln teilhat. Geistliche Leiter verwurzeln ihr Tun im Handeln Gottes. Dies ist ein voraussetzendes Merkmal geistli­cher Leitung. So wie Menschen ihr Handeln von Gottes Handeln ablei­ten, verwirklicht Gott seinerseits sein Wirken in dieser Welt durch irdi­sche Ordnungen und Strukturen (Röm 13,1–4). Hier kann eine Rezipro­zität beschrieben werden.

Gottes Handeln erschöpft sich jedoch nicht in irdischen Optionen, zeigt sich aber in dieser von ihm selbst gewählten und eingesetzten Option. Wir wissen aus der Geschichte Israels, dass Leiter und Führer immer wie­der Gottes Willen und seine Anweisungen verlassen haben und damit ihre Autorität und Legitimation verloren haben. Dass Gottes Handeln und Wirken in dieser Welt nicht begrenzt ist, wird in der Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk und darüber hinaus mit der gesamten Menschheit immer wieder sichtbar. Immer wieder braucht es Korrektur, neue Wegweiser, Leiter und Propheten, die ihr Handeln von Gottes Mission ableiten. Denn „es ist Gottes Werk, an dem wir miteinander arbeiten“ (1 Kor 3,9).

Es zeigt sich, dass Gott zu Leitung beruft, um an seinem Willen und Wirken für diese Welt teilzuhaben. Leitung aus biblischer Perspektive hat damit eine immanente geistliche Dimension und bewegt sich von einer ausgewählten Person oder Gruppe hin zu Vielen. Der Segen zuerst für Abraham wird danach für alle Familien und Nationen verheißen, Got­tes Offenbarung für Israel wird für die ganze Welt erweitert, Herr­schaft wird versprochen, von David als König hin zu Gott selbst als Herrscher. (Bauckham 2004, 27–54)

Weil Gott Menschen zu Leitern beruft und begabt, ist von Gott einge­setzte Leitung immer geistliche Leitung. Leitung geht demnach von Gott aus, indem er ruft und begabt. Könige im Alten Israel wollten wie­derholt Gottes Willen berechnen oder erzwingen und haben damit ei­nen inneren Berufungsverlust erlebt und damit auch die äußere Legiti­mation verloren. Zur Frage der inneren Berufung meint Wilhelm Loehe, dass sie sich über viele Jahre hinweg bewährt, geläutert und bestärkt haben muss, bevor der äußere Ruf hinzukommt  (Loehe 1852, 24). Bei Leitern in der Bibel zeigt sich, dass die Entfernung von Gottes Willen für sein Volk und seine Welt den Verlust der geistlichen Leitung mit sich zieht. Hier wird eine eindeutige Abhängigkeit der Leiter von Gottes Willen, Wirken und Handeln offenbar.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Erstens ist alles Leiten ein „abgelei­te­tes Handeln“. Weil Gott in dieser Welt tätig ist und er handelt, können wir an Seinem Wirken partizipieren. Unsere Partizipation ist getragen von einem Ruf Gottes, einer Berufung. In der Mis­sionswissenschaft hat sich in den letzten 70 Jahren hierfür der Begriff „missio dei“ etabliert. Gott hat eine Mission in dieser Welt, an der wir Menschen teilhaben dür­­fen. Gott sendet sich sozusagen selbst in diese Welt. Die Sendung Gottes ist in der Trinität begründet, wie Karl Barth 1938 auf der Mis­sions­konferenz in Brandenburg hinwies (Küster 2011, 38). Weil sich die drei Personen der Trinität einander selbst hingeben und Anteil anein­ander haben, ist die Selbsthingabe Gottes in dieser Welt ein Ausfluss dieses sich gegenseitig durchdringenden Tanzes der drei Personen. Wie menschliches Handeln und Leiten als Teilhabe an Gottes Mission nun konkret in dieser Welt verstanden werden kann, wurde in dem Ökume­ni­schen Rat der Kirchen besonders in den 50er bis 80er Jahren kontro­vers diskutiert (Bosch 2012, 432–602).

Zweitens steht geistliche Leitung in der Spannung eines inneren und äußeren Rufs. Menschen wurden durch Gottes Ruf und durch das offi­zielle Einsetzen zu Leitern bestimmt. Driften diese zwei Pole auseinan­der, kommt es zu einem Konflikt. In Anlehnung an Fresh X, eine ökume­nische Initiative in Deutsch­land, die kontextuelle, missionale, lebens­verändernde und gemeinde­bildende Formen christlichen Lebens fordert und fördert, kann geist­liche Leitung als ein von Gott abgeleitetes Han­deln folgendermaßen erfasst werden: Geistliche Leitung ist ein hören­des, kontextualisiertes, dienendes, auf das Evangelium bezogenes, in die Nachfolge Jesu füh­rendes Geschehen. Hören auf Gott, den Kontext wahrnehmen und den Menschen dienen, sind Qualitätskriterien geist­licher Leitung. Daneben ist geistliche Leitung immer an die Schrift ge­bunden und rüstet Men­schen aus, am großen Werk Gottes teilzuhaben (vgl. Mt 28,14–16).

Wer leitet „geistlich“?

Eine wesentliche neue Qualität geistlicher Leitung, die im Blick auf das Neue Testament angeführt wird, ist die Sendung des Heiligen Geistes. Vom Neuen Testament ausgehend, kann man sagen, dass jeder Christ, d. h. jeder, der Jesus Christus als Herrn bekennt (1 Kor 12,1–3), ein Geistlicher ist. Diesem Menschen ist der Heilige Geist zugesagt und geschenkt.

Waren im Alten Testament noch Priester durch Geburt, Herkunft und ausgesondertem Lebensweg zu einem Dienst an Gott in der ersten Reihe berufen (in der Regel), so wird durch das Leben, das Sterben und die Auf­erstehung Jesu der Platz des Menschen vor Gott neu gedeutet. Nach­folger Jesu sind demnach nicht wie das alttestamentliche Volk Israel von dem Glauben oder Unglauben ihrer Leiter abhängig und damit Heil oder Unheil ausgeliefert. Vielmehr wird im Wechselspiel von notitia (Kennt­nis, Inhalt), assensus (Anerkenntnis und Zustimmung) und fiducia (per­sönliches Vertrauen) dem Menschen durch den Heiligen Geist Glaube geschenkt und damit Verantwortung zugesprochen.

Wenn wir nach geistlicher Leitung für unsere Gemeinden und Kirchen fragen, ist es sinnvoll besonders den Apostel Paulus mit seinen Ansät­zen geistlicher Leitung zu betrachten. Paulus bespricht in seinen Briefen das besondere Charisma der Leitung eines Geistlichen für die Gemein­schaft der Heiligen. In der paulinischen Charismenliste  (z. B. 1 Kor 12,28) taucht Leitung als Charisma auf, das der Gemeinde Christi die­nen soll und damit eine legitimierte äußere Form bekommt. Hier zeigt sich wiederum das Verhältnis der inneren zur äußeren Berufung, da vom Heiligen Geist begabte Menschen mit dem Charisma der Leitung der Gemeinde dienen sollen. „Dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als gute Haushalter der mannigfachen Gnade Gottes“ (1 Petr 4,10).

Erst durch die frühchristliche und später altkirchliche Ämterlehre wird eine zusätzliche Qualität geistlicher Leitung in Form einer funktionalen Zuordnung (Ämterlehre) geschaffen.

Die frühchristliche Gemeinde ist durchaus von einem pragmatischen Leitungsverständnis geprägt. George Eldon Ladd meint dazu: „Es ist wahrscheinlich, dass es in apostolischer Zeit keine maßgebliche Vorga­be von Gemeindeleitung gab und dass die Organisationsstruktur der Gemeinde in der Theologie kein essentielles Element der Gemeinde ist“ (Ladd 1993, 389). Moynagh hebt hervor, dass sich Paulus bei seinen Mis­sionsreisen und der Ausbreitung des Christentums auf die Leitungsver­antwortung der Haus­vor­steher stützte (vgl. Moynagh 2012, 25) und sich zu­sätzlich auf reiche, gut ausgebildete Personen konzentrierte, da diese Leitungspotential hatten (vgl. Dunn 2009, 571; vgl. Apg 16,13–5). Haus­vorsteher waren in Leitung bereits eingeübt. Gehring kommentiert: „The church in the house came with its leadership so to speak ‚built in‘“ (Gehring 2004, 194).

Zusätzlich geschieht eine Differenzierung der Leitungsverantwortung im Neuen Testament. Älteste leiten und verantworten (Apg 11,30; Apg 15; Jak 5,14–15), es werden außerdem Katecheten und Diakone ge­nannt. Sie alle haben Leitungsaufgaben, die von außen (durch Wahl oder vereinbarte moralische Anforderungen) legitimiert werden und damit ein Amt formulieren und auch durch den Heiligen Geist bestätigt werden müssen. Die Nachwahl der Apostel durch das Los drückt eine solche Form der Geistführung aus.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jeder geistbegabte Christ, jeder Mensch, der durch die Taufe am Heil Gottes für diese Welt teilhat, prin­zi­piell zum Dienst an der Gemeinde gerufen ist. Dies kann durch die Aufgabe der Leitung geschehen. Damit ist Leitung eines Geistlichen (oder wie Paulus sagt „Heiligen“) ein geistgewirktes Geschehen.

Wohin führt geistliche Leitung?

Bei all den bisherigen idealtypischen Formulierungen ist es schwer, sich nicht resigniert von dem biblisch-theologischen Anspruch abzuwenden. Wenn Leiten ein Mitwirken und Mittragen des Menschen, ein Fördern aber nicht Bewirken göttlichen Heils, ein Teilnehmen an Gottes Wieder­herstellung dieser Welt ist, ein Zurückführen ins „gelobte Land“ oder, mit einem anderen Bild zu sprechen: eine Einladung zum großen Fest­mahl ist, dann kann und soll Leitung zum Heil und Wohl führen. Lei­tung entscheidet mit, wie Gottes Kirche in dieser Welt Sein Reich em­pfängt. Es ist darin Vorsicht geboten, Gottes Handeln in dieser Welt von unserem Handeln abhängig zu machen und darauf zu begrenzen. Gleich­zeitig ist es problematisch davon auszugehen, dass Gott auch ohne unser Handeln sein Werk vollenden würde. Rudolf Bohren spricht dieses Wechselgeschehen im Zusammenhang der Predigt mit dem Stich­wort der „theonomen Reziprozität“ an (Bohren 1974, 82). Peter Böhlemann meint dazu: „Gottes Wort bewirkt [in uns] ein Verhalten zu ihm hin“ (Böhlemann 2009, 13). Zeigen lässt sich diese Spannung an­­hand der ersten Bitte des Vater-Unsers „Geheiligt werde dein Name“. Denn wie auch Gottes Name ohne unser Lob trotzdem ständig geheiligt wird (siehe dazu die Auslegung von Martin Luther zum Vater Unser) und Gott nicht abhängig von unserem Lob oder unserem Handeln ist, so ist es doch unsere Bestimmung, am großen Lobgesang teilzuhaben, der Gott verherrlicht (Offb 5). Anteil an dem Lob Gottes haben wir durch den Heiligen Geist und durch das Verfolgen unserer Berufung als Christinnen und Christen.

Eine Bemerkung zum Ort geistlicher Leitung soll an dieser Stelle folgen. Zum einen geschieht geistliche Leitung im Kontext der Gemeinschaft. Für Paulus geschieht das im Kontext der Gemeinde (Eph 4) aber auch im Kontext eines Teams, so wie bei Paulus selbst, der nie alleine unterwegs war, sondern zu zweit oder zu dritt (Apg 13,5; Apg 16,1–2). Diese Aufga­be kann in unseren Gemeinden heute von getauften haupt- oder ehren­amtlichen Christinnen und Christen wahrgenommen werden. Wesent­lich ist, dass sie wahrgenommen wird, denn Leitung ist Aufgabe der Ge­meinde, ebenso wie Gebet, Predigt oder Diakonie. Denn dort, wo keine geistliche Leitung klar und transparent, auf den Heiligen Geist bezogen und in der Gemeinschaft verantwortet, wahrgenommen wird, liegt die Gefahr der Beliebigkeit, der Orientierungslosigkeit und der Unordnung. Zwar wird auch dort geleitet, denn es gibt keinen leitungs-freien, neu­tra­len Raum, doch dann vermutlich nicht geistlich.

Zum Schluss

Im Sinn einer theologischen Orientierung geistlicher Leitung dient Böhlemanns und Herbsts Definition als Zusammenfassung: „Geistliche Leitung ist Leitung durch den Göttlichen Geist, vollzogen in der Ge­mein­schaft der Heiligen durch die vom Geist eingesetzte Leitung.“ (Böhlemann / Herbst 2013, 22) Bei all den oben aufgeworfenen Frage­stellungen zeigt sich, dass geistliche Leitung, wie Böhlemann und Herbst betonen, eine richtungsweisende, eine theologische, d. h. Bibel auslegende und sachkompetente und drittens eine seelsorgliche und gemeinschaftsstiftende Funktion hat (Böhlemann / Herbst 2013, 15). Sie ist insofern richtungsweisend, als sie der Gemeinde zu neuen Schrit­ten in ihrer alten Mission verhilft. Weiter hilft sie der Gemeinde, im Lichte der Heiligen Schrift in eine von Gott verheißene Zukunft zu ge­hen. Zuletzt verhilft sie der Gemeinde, über Trauer und Verluste hinweg als Gemeinschaft unterwegs zu sein.

Zum Schluss eine thesenartige Zusammenfassung:

  • Geistliche Leitung ist ein von Gott abgeleitetes und auf Gott bezoge­nes Handeln.
  • Geistliche Leitung ist auf Gemeinschaft bezogen, durch diese legiti­miert und in dieser verantwortet.
  • Menschen, von Gott gerufen und durch den Heiligen Geist begabt, partizipieren durch geistliche Leitung an Gottes Wiederherstellung dieser Welt.
  • Geistliche Leitung lebt in der Spannung menschlichen Tuns und göttlichen Wirkens.