Charismen. Eine biblisch-theologische Annäherung
Die urchristliche Mission hängt an Personen: Petrus, Paulus, Jakobus, Barnabas, Timotheus, Titus, Lydia, Priszilla, Phöbe, Junia, Maria von Magdala, Salome usw. In Paulus’ Missionsgemeinden finden sich keine Missionszentralen, keine Strategiekommissionen, keine Bürokratie, keine gesamtkirchliche Entscheidungsinstanzen. Was es aber gibt, ist ein feines Gespür für die Menschen und ihre jeweiligen Begabungen, ihre Charismen. Von diesen her entwickeln sich Strukturen, die – der konkreten Situation und den konkreten Menschen geschuldet – sehr flexibel sind. Hier gibt es auch Spannungen und Konflikte – alles andere würde auch überraschen: Spannungen zwischen den verschiedenen Diensten und Ämtern, zwischen den Gemeindemitgliedern, zwischen dem Apostel und den Gemeinden. Diese Konflikte „haben aber auch ein großes Energiepotential entstehen lassen … Gefragt waren Gemeindemitglieder, die zur Bejahung ihrer eigenen Begabungen wie auch der Talente und Verantwortlichkeiten anderer, zur Zusammenarbeit …, auch zur Anerkennung des apostolischen Verkündigungs- und Leitungsdienstes“ (Söding 2014a, 66) in der Lage waren.
Paulus und die Charismen
Gerade Paulus ist ein Paradebeispiel der Wahrnehmung eigener und fremder Charismen. Er hat Menschen gewonnen: für das Evangelium und den Glauben, aber eben auch für eine aktive missionarische Arbeit! Er hat es geschafft, um sich herum eine große Anzahl von Menschen (50 sind im NT namentlich bekannt) zu versammeln. Für Thomas Söding ist dies nicht allein auf die Begeisterung der Anfangszeit und die Kleinheit der Hausgemeinden zurückzuführen, sondern v. a. auf die theologische Grundbotschaft des Apostels: „die Freiheit der Christenmenschen … (1 Kor 9; Gal 5; Röm 8), die fundamentale Gleichheit aller Getauften (1 Kor 11,11f.; 1 Kor 12,13; Gal 3,28) und die charismatische Begabung jedes einzelnen Gemeindemitglieds (1 Kor 12,4–11; Röm 12,6f.)“ (Söding 2014a, 67).
Gerade die Pluralität charismatischer Begabungen zieht in der Konsequenz eine Kooperation gemeindlicher Dienste nach sich. Dass es dabei auch zu Problemen kommen kann, zeigt schon Korinth: Die „Starken“, also die, die in den Sprachen der Menschen und Engel sowie prophetisch reden können, die alle Geheimnisse wissen, alle Erkenntnis haben, alle Glaubenskraft besitzen und Berge damit versetzen können, die, die ihre ganze Habe verschenken und sogar ihren Leib dem Feuer übergeben (vgl. 1 Kor 13,1ff.), „täuschen sich über ihre wahre Lage“ (Söding 2014a, 68): diese umfasst auch Schwäche, Unzulänglichkeit, Begrenztheit und Sündhaftigkeit – Eigenschaften, die die „Starken“ bei den „Schwachen“ (1 Kor 8,7–13) deutlich wahrnehmen und diese daher nicht als vollwertige Christen anerkennen, sondern als Christen 2. Ordnung abqualifizieren. Paulus’ Reaktion auf diese verfahrene Situation ist beispielhaft: Er relativiert nicht die charismatischen Begabungen, sondern zeigt auf, woher sich die ganze Gemeinde speist. Hier geht es nicht um Ethik, um die Regeln des Umgangs miteinander, hier geht es um Pneumatologie! In 1 Kor 12,1–11 (und ähnlich auch in Röm 12,3–8) findet sich die entscheidende Argumentationslinie des Paulus:
Auch über die Gaben des Geistes möchte ich euch nicht in Unkenntnis lassen, meine Brüder. …
Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist.
Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn.
Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen.
Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.
Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem andern durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln,
dem dritten im gleichen Geist Glaubenskraft, einem andern - immer in dem einen Geist - die Gabe, Krankheiten zu heilen,
einem andern Wunderkräfte, einem andern prophetisches Reden, einem andern die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem andern verschiedene Arten von Zungenrede, einem andern schließlich die Gabe, sie zu deuten.
Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will. (1 Kor 12,1.4–11)
In Korinth fand sich offensichtlich eine besondere Wertschätzung pneumatischer Gaben (1 Kor 12,1; 1 Kor 14,1: πνευματικά), v. a. der ekstatischen Zungenrede, die jedoch exklusiv verstanden wurde. Gegen diese ausschließende Wirkung argumentiert Paulus und betont die allgemeine Geistbegabung der Glaubenden und Getauften (1 Kor 12,3.12): Der Geist verleiht jedem Gemeindeglied eine spezifische Gabe zum Nutzen der Gemeinde (12,7), des Leibes Christi (12,12–27) und zur Auferbauung der Gemeinde (14,5.12.26). Die Vielfalt der Gnadengaben verdankt sich dem einen Gott, dem einen Herrn, dem einen Geist! Dabei schenkt Gott – so ist es anscheinend seine Gewohnheit – ein Übermaß an Gnade. Besonders der Römerbrief ist dafür ein Beleg:
Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden. (Röm 5,20)
und
Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? (Röm 8,31b.32)
Das gilt natürlich auch für die Gnadengaben, die Gott im Übermaß an alle austeilt: „Die Christen können aus dem Vollen schöpfen; und sie bekommen alle die Gnadengaben, die ihnen angemessen sind. Es bedeutet einerseits: Niemand hat alle Charismen (1 Kor 12,29ff.) … [und] andererseits: Niemand, der das Bekenntnis ‚Der Herr ist Jesus!‘ mitspricht, ist ohne Geist (12,3). Und es bedeutet …: Es fehlt der Gemeinde dank der Kreativität des Geistes an nichts“ (Söding 2014a, 69).
Umso deutlicher ist die Notwendigkeit einer theologischen Klärung des Charismenbegriffs: Stärken, Talente, Begabungen, Gaben, Charismen – viele, z. T. schillernde Formulierungen liegen in der Diskussion auf dem Tisch und werden synonym oder gegensätzlich gebraucht. Zunächst sind so natürliche Begabungen, wie z. B. Organisationstalent, Intelligenz und Schlagfertigkeit zu nennen. Es gibt Tugenden wie Mitleid, Hilfsbereitschaft und Klugheit; erworbene Kenntnisse, Möglichkeiten und Fertigkeiten wie Bildung, Reichtum und Einfluss, „aber auch spezifische Glaubensfähigkeiten wie Wunderkraft, Bekenntnisstärke und Wahrheitsbewusstsein“ (Söding 2014a, 69). Hier können Charismen anknüpfen, sie „gehen aber nicht darin auf“ (ebd.). Stefan Moosburger macht an diesem Punkt darauf aufmerksam, dass „hinter dem Verhältnis natürliche Begabung vs. geistgewirktes Charisma … die Diskussion um die Beziehung von Natur und Gnade“ (Moosburger 2014, 404) steckt.
Die Charismen sind Teil göttlichen Heilshandelns, in ihnen kommt Gottes rettende Gnadenmacht individuell zum Tragen. Gerade dadurch sind die beschriebenen Charismen Wirkkräfte (1 Kor 12,6), da „sie Mittel sind, mit denen Gott seine Herrschaft ausübt“ (Söding 2014a, 70). Zugleich sind sie Dienste (1 Kor 12,5), „weil sie am Dienst Jesu Christi teilhaben und deshalb nichts anderes als geschenkte Möglichkeiten sind, die Mitchristen in ihrem Glaubensleben zu unterstützen“ (Söding 2014a, 70). Charismen sind also alles in allem Gnadengeschenke, Gnadengaben. Ihr Sinn und Zweck ist nicht vom Sinn und Zweck der Gnade Gottes, der liebenden göttlichen Zuwendung zum Menschen, zu trennen. Diese Zuwendung nimmt in Jesus Christus konkrete Gestalt an, verleiblicht sich in ihm und teilt sich im Heiligen Geist als Gabe zuinnerst mit. Die Gnade Gottes aber zielt nicht allein auf eine persönliche, individuelle Weiterentwicklung oder Stärkung der Christen, sondern auf den Aufbau der ganzen Gemeinde (1 Kor 14)! Der persönliche Weg des Christen kann somit nicht vom Weg der Kirche getrennt werden, denn „wenn es nicht zum Aufbau der Gemeinde dient, dann ist es kein Charisma“ (Moosburger 2014, 405). Daher sind reine Selbstverwirklichungsstrategien im Kontext der Charismenentwicklung kritisch zu betrachten (ebd.). Auch Papst Franziskus stellt diesen Aspekt in Evangelii gaudium 130 heraus:
Ein deutliches Zeichen für die Echtheit eines Charismas ist seine Kirchlichkeit, seine Fähigkeit, sich harmonisch in das Leben des heiligen Gottesvolkes einzufügen zum Wohl aller.
Dienst in der Kirche und persönlicher Glaubensweg sind beim Thema Charismen so zwar voneinander abzuheben, aber nicht voneinander zu trennen. Konkret ist es Paulus gelungen, die Pluralität der Charismen mit einem kooperativen gemeindlichen Leben zu verbinden. Damit wurden „Personalität des Glaubens, … Individualität der Begabungen und … Vielfalt der ekklesialen Lebensvollzüge mit der originären Gemeinschaft, der ethischen Verantwortung und der soteriologischen Gleichheit aller Glaubenden“ (Söding 2014a, 70) kombiniert. Charismen können so insgesamt als „getaufte Kompetenzen, die sich in den Dienst Anderer stellen und dadurch die Kirche aufbauen“ (Söding 2014b, 395) verstanden werden: sie sind „Gaben des Heiligen Geistes, die zu Aufgaben werden; aber sie sind deshalb ebenso Gaben der Gläubigen, die ein Geschenk an die Kirche sind“ (ebd. 396). Paulus’ Aufzählung der Charismen in 1Kor 12,8ff. 28ff. und Röm 12,6ff. lässt dabei keine methodische Ordnung oder systematische Geschlossenheit erkennen, auch wenn die Wortverkündigung stark betont wird (1Kor 12,8). So kann man sehen, dass für ihn manche Charismen mehr als andere zum Aufbau der Kirche beitragen (1Kor 12,31; 1 Kor 14). Für Paulus ist aber auch deutlich, dass die Charismen erkannt, gefördert, aber auch kritisiert und koordiniert werden müssen, „so dass sie einander wechselseitig bestärken können“ (Söding 2014b, 397).
Das II. Vatikanische Konzil und die Charismen
Das II. Vatikanische Konzil hat mit der in Lumen gentium (LG) zu findenden Ekklesiologie auch auf die Charismen zurückgegriffen. Das u. a. in LG 10 beschriebene pneumatologisch akzentuierte Kirchenverständnis geht von einem dialogischen Miteinander bei gleichzeitiger Differenzierung aus. Dem entspricht die Gleichheit aller Glieder des Volkes Gottes hinsichtlich der „gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi“ (LG 32), gerade weil in allen Gläubigen der eine Geist Jesu Christi wirkt (Kehl 1994, 1015f.). Insofern es durch die Taufe „keine Mitglieder erster und zweiter Klasse gibt, sondern nur erstklassige Positionen“ (Söding 2014b, 395), sind auch die Charismen aller notwendig. LG 12 verweist darüber hinaus darauf, dass die Charismen „den Nöten der Kirche besonders angepaßt und nützlich“ sind. So wie die Heiligen als Antwort Gottes auf die Nöte ihrer jeweiligen Zeit verstanden werden können, so lassen sich auch die Charismen, die ja immer mit bestimmten Menschen verbunden sind, als Antwort Gottes auf konkrete Nöte verstehen. Und daher sollten auch keine Charismen unter den Tisch fallen, sie alle sind Teil der Antwort auf die aktuellen (pastoralen) Herausforderungen. Eine Kirche, die sich an solcher Charismentheologie orientiert, muss dann auch „genügend Raum … [lassen] für das undiskriminierte Zusammenwirken aller Charismen, für den vom Geist bestimmten Wandel der charismatischen Begabungen und für das Auftreten neuer Charismen“ (Dautzenberg 1994,1015). Die Frage nach „genügend Raum“ führt aber zur Frage nach dem Verhältnis vom Amt und Charisma.
Das Verhältnis von Amt und Charisma
Vielerorts findet sich die Vorstellung, Amt und Charisma stünden im Gegensatz zueinander. Diese Vorstellung ist jedoch eine Projektion (Söding 2014b, 394). Sowohl Charisma als auch das Amt haben ihr je eigenes Recht. Hinzuweisen ist aber darauf, dass der Begriff „Amt“ neutestamentlich nicht vorkommt. Dort wird von „Dienst“ gesprochen – und dieser wird in 1 Kor 12,4ff. mit dem Charisma parallelisiert: „Jeder Dienst ist Charisma … und hat ,Energie‘, nämlich die des Heiligen Geistes; jedes Charisma ist ,Dienst‘ insofern es keine andere Wirkung anzielt als die, Anderen zu nutzen (1 Kor 12,7)“ (ebd.). Das in der Kirche zu findende sakramentale Amt nun, der Ordo (Bischofsamt, Priester, Diakone), ist in diesem Kontext „letztlich die einzige bleibende und verbindliche Struktur, die sozusagen die vorgegebene feste Ordnung der Kirche bildet und sie als ,Institution‘ konstituiert“ (Ratzinger 2007, 19). Da das Amt aber – wie die Taufe und Firmung – sakramental verstanden wird ist, muss es immer wieder neu von Gott geschenkt werden, es entsteht durch den Ruf Gottes und muss von ihm erbeten werden. Damit hat auch das Amt einen durch und durch charismatischen Charakter. „Die Kirche muss [daher] ihr eigenes Institutionsgefüge immer wieder überprüfen, damit es nicht zu schwergewichtig wird – sich nicht zu einem Panzer verhärtet, der ihr eigenes geistliches Leben erdrückt“ (ebd. 21). Die Bischöfe dürfen im Blick auf die Vielfalt der Charismen, so Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., „keinem Uniformismus seelsorglicher Gestaltung und Planung huldigen … Sie dürfen nicht ihre eignen Pastoralpläne zum Maßstab dessen erheben, was dem Heiligen Geist erlaubt ist zu wirken …; lieber weniger Organisation und mehr Geist!“ (ebd. 55). Charismen brauchen Freiraum, um sich zu entwickeln! Sie bringen eine gewisse heilige Unruhe in alle menschlichen Strategien, denn der „Heilige Geist, wo immer er einbricht, stört das eigene Planen des Menschen immer“ (ebd. 17). Ein solcher Freiraum und eine „Übertragung von Aufgaben entsprechend der jeweiligen Talente [sprich Charismen, beinhaltet aber auch] … die Übertragung von Verantwortungs- und Entscheidungskompetenz“ (Pastoralplan für das Bistum Münster 2013, 34). So ist insgesamt ersichtlich, dass eine Gegenüberstellung bzw. eine Gegensätzlichkeit von Amt und Charisma nicht statthaft ist. Für das Zueinander gilt, dass das geistliche Amt, das Priestertum, selbst ein Charisma darstellt, „der Priester selbst ein ,Pneumatiker‘, ein homo spiritualis, ein vom Heiligen Geist erweckter und angetriebener Mensch“ (Ratzinger 2007, 23) ist. Eben daher bedarf es einer „innere[n] Offenheit für das Charisma, eine Art ,Witterung‘ für den Heiligen Geist und sein Tun“ (ebd. 23f.). Auf der anderen Seite fordert Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: „So ist an die Bewegungen [– und dies ist sicher auch auf eine charismenorientierte Pastoral hin zu verstehen –] eine Mahnung zu richten, dass sie … ein Geschenk ans Ganze der Kirche und im Ganzen sind und sich den Forderungen dieser Ganzheit unterwerfen müssen, um ihrem eigenen Wesen treu zu bleiben“ (ebd. 55).
Ausblick
Wenn wir nun von diesen Überlegungen ausgehen, dann stellt sich die Frage, wie die Charismen konkret entdeckt und gefördert werden können, wie die „Witterung“ aufgenommen werden kann. Dies ist kein nebensächlicher Aspekt missionarischer Überlegungen, sondern ein zentraler Punkt jeder Evangelisierung. Hier schließen sich die folgenden Überlegungen Monica Dörings an.