Charismen, Dienste und die Sendung des laikalen Gottesvolkes. Ein Zwischenruf
Neben allen vordergründig „missionarischen“ Techniken und Grundhaltungen führt die Thematik der Charismen und der Dienste hinein in das Zentrum des Verständnisses, wer die Kirche als Gottesvolk in (all) ihren Gliedern ist, wie sie sich versteht und wie sie in ihren Gliedern ihre Heilssendung ausdrückt und realisiert.
Dies scheint derzeit besonders geboten angesichts der Tatsache, dass in Deutschland immer mehr Menschen vor dem Standesamt den Austritt aus der Kirche erklären. Sicher hat dies recht unterschiedliche Gründe, der Austritt steht dann in der Regel als Folge eines auslösenden Impulses und markiert das Ende eines mehr oder weniger langen Entfremdungsprozesses. Bei jüngeren Menschen, die in den Beruf eintreten und erstmalig auf der Gehaltsabrechnung wahrnehmen, was die Kirchenmitgliedschaft sie „kostet“, spielt oft eine Kosten-Nutzen-Abwägung eine Rolle. Andere nutzen den Austritt als öffentliches Zeichen ihres Protestes, dem ganz unterschiedliche mehr oder weniger stichhaltige Begründungen zugrunde liegen. Man kann sogar zunehmend den Eindruck gewinnen, dass der Austritt als Zeichen des Protestes niedrigschwelliger als früher realisiert wird. Um es etwas flapsig zu formulieren: Ob das Licht des Kölner Doms anlässlich einer Pegida-Demonstration eingeschaltet bleibt oder ausgeschaltet wird; die Verantwortlichen der Kirche können machen, was sie wollen, es treten in jedem Falle Menschen aus der Kirche aus.
Ehrlichkeitshalber muss hier jedoch auch gesagt werden, dass sich die Frage nach der Kirchenzugehörigkeit angesichts der besonderen religionspolitischen Lage in Deutschland in spezifischer Weise stellt, wo die theologisch verstandene Kirchenzugehörigkeit an die Mitgliedschaft in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts in Analogie eines Vereins gekoppelt ist. Das Leipziger Oberverwaltungsgericht lehnte zwar den Antrag des Freiburger Kirchenrechtsprofessors Hartmut Zapp, der aus der Körperschaft des Öffentlichen Rechts (mit Kirchensteuerpflicht), nicht aber aus der Heilsgemeinschaft der Kirche austreten wollte, ab. Auch wenn mancherorten Aufatmen zu hören war, wo man sich um die zukünftige Finanzbasis der Kirche aus der Kirchensteuer sorgt, wird man jedoch sagen können, dass ein säkulares Gericht mitnichten über die theologischen Gesichtspunkte und Hintergründe von Kirchenmitgliedschaft befinden kann.
Jedenfalls wird man dem Thema Kirchenaustritte kirchlicherseits nicht durch kurzfristig realisierte „Feuerwehraktionen“ und PR-Bindungsstrategien beikommen können. So manchen Bestrebungen, das Thema „Kirchenbindung“ in dieser Weise anzugehen, dürfte weder kurz-, erst recht nicht mittel- und langfristig Erfolg beschieden sein. Es zeigt sich vielmehr, dass die grundsätzliche Art und Weise des Kirche-Seins, der Zugehörigkeit und der Partizipation sowie der Kommunikation intern und extern in erneuerter Weise gedacht und praktiziert werden muss.
Nach LG 4 ist die Kirche communio und ministratio, Gemeinschaft und Dienst. In der Vergangenheit ist möglicherweise zu viel Aufmerksamkeit auf ein Verständnis von Kirche als Gemeinschaft gelegt worden, bei dem darüber hinaus nicht ganz klar war, wer denn in der Kirche eigentlich die Bedingungen formuliert, unter denen die Gemeinschaft existiert und aufrechterhalten wird. Und schließlich sei hier noch die Bemerkung erlaubt, dass Gemeinschaft und Partizipation offenbar nicht mit Geselligkeit und Aktivismus verwechselt werden darf, was in der Realität vieler Pfarreien derzeit zur Krise des bisherigen gemeindlichen Selbstverständnisses führt.
Mit diesen einführenden Überlegungen sind wir bereits mitten in den Thematiken des Verständnisses von der Kirche, der Zugehörigkeit zu ihr, ihrer Sendung, ihren internen Differenzierungen (Charisma und Amtlichkeit), von Partizipation und den Gestalten von kirchlicher Gemeinschaft, die mit der Thematik von Berufung und Leitung verknüpft sind.
Lassen Sie mich noch einige Beobachtungen hinzufügen, die die Aktualität des Themas auf verschiedenen Ebenen zeigen:
Das Erzbistum Paderborn hat im letzten Jahr einen 10-jährigen pastoralen Prozess der Vergewisserung und Positionierung mit einem „Zukunftsbild“ abgeschlossen, das eine klare Option für die Kategorie „Berufung“ zeigt. Weit davon entfernt, hier nur über Priester- und Ordensberufungen zu räsonieren, entfaltet das Erzbistum den Begriff in die Berufung zum Menschsein, die Berufung zum Christsein und erst dann die Berufung zu Diensten und Ämtern in der verfassten Kirche. Es zeigt sich also eine Weite, die Berufung von einer schöpfungsgemäßen Grundlage her versteht und damit Christen zum Bewusstmachen ihrer eigene Berufung ermutigt sowie zur Kooperation mit Menschen, die nicht den christlichen Weg der Berufung gehen.
Anlässlich der Bischofsynode über „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“ wurden – zwar kurzfristig, jedoch offenbar bewusst – mittlerweile von Rom her zwei Fragebögen versendet mit dem Ziel, eine möglichst breite Zahl an Gläubigen zu befragen. Ein solches Vorgehen zum Einbezug des Gottesvolkes in der Vorbereitung einer Bischofssynode ist neu und ungewohnt. Inhaltlich zeigen sich in den zusammenfassenden Rückmeldungsvoten der meisten Bischofskonferenzen eine große „Differenz zwischen offizieller kirchlicher Lehre und den Vorstellungen der Laien, ganz zu schweigen von der Praxis“ (Neuner 2015, 15).
Die „Gemeinsame Konferenz“ der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat bereits 2010 Arbeitsthesen zum „Zusammenwirken von Charismen und Diensten im priesterlichen, prophetischen und königlichen Volk Gottes“ vorgelegt, die in der Folge dazu führten, dass die Pastoralkommission (K III) und die Kommission für geistliche Berufe und kirchliche Dienste (K IV) ein gemeinsames Papier erarbeiteten, das anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von Lumen Gentium eine Relecture der Berufung zur Heiligkeit als gemeinsame Aufgabe aller in der Sendung der Kirche vornimmt. Leider wird dieses Papier erst kurz nach dieser Ausgabe von euangel erscheinen, man darf jedoch gespannt sein, inwieweit es die Diskussion darüber die hier vorgestellten Gedanken weiter verarbeitet und weiterführt.
Des Weiteren ist kürzlich auch ein Papier der Internationalen Theologische Kommission zum „Sensus fidei im Leben der Kirche“, dem Glaubenssinn der Gläubigen, erschienen und versucht, die Wechselwirkungen von Glaubenssinn des Einzelnen und des Gottesvolkes, der wissenschaftlichen Theologie und des Lehramtes zu beschreiben.
Schließlich sind die Fragen nach Zugehörigkeit und Partizipation in der Sendung der Kirche für die Veränderungsprozesse in der Pastoral vor Ort deutlich zu spüren. Priestermangel, zunehmende Säkularität in Deutschland und die Veränderungen der pastoralen Strukturen im Sinne der Entstehung größerer pastoraler Räume lassen neu nach der Rolle und der Verantwortung der Getauften und Gefirmten fragen. Die Verantwortlichen sehen sich dem Verdacht ausgesetzt, angesichts des oft genannten dreifachen Mangels (Priester-, Geld-, Gläubigenmangel) ein Downsizing des „alten Systems“ unter unveränderten Vorzeichen als „Aufbruch“ darstellen zu wollen. Oft kommt in der Vermittlung der Grundlagen und Ziele der Veränderungsprozesse nicht an (oder es wird nicht geglaubt), dass es angesichts veränderter sozio-kultureller und mentaler Rahmenbedingungen (Modernisierung) tatsächlich um neue Haltungen und Gestalten von Kirche, letztlich um einen Wechsel des „Betriebssystems“ geht, und nicht nur um die Vergrößerung von Strukturen bei Verbleib in der herkömmlichen pastoralen Logik. Viele Gläubige haben schlichtweg den Eindruck, dass angesichts weniger werdender Priester die „Ehramtlichen“ nun „zwangsläufig“ die „Arbeit“ machen müssten, jedoch immer in Abhängigkeit, unter Kontrolle und als „Helfer“ der „eigentlich“ pastoral Handelnden: des Klerus.
Der (immer noch neue) Papst wird jedoch nicht müde mit seiner Ermutigung und Herausforderung, das Weiter-so-wie-bisher (business as usual) zugunsten einer pastoralen Umkehr und Erneuerung hinter sich zu lassen (EG 25; 27). Unter missionarischem Aspekt ist hier nach dem Zusammenhang einer sich als missionarisch verstehenden Kirche und dem Bewusstsein der Sendung der Laien, damit nach einer partizipativen Kirche zu fragen. Damit ist nicht nur das Grundverständnis von den Getauften und Gefirmten angesprochen und von dem, was Gott in ihnen seiner Kirche schenkt, um „seine“ Sendung in der Welt zu realisieren. Damit sind auch die Rollen und das theologische Selbstverständnis von pastoralen Diensten und der Rolle des Priesters erneut herausgefordert, sich zu diesen Fragen in Beziehung zu setzen, also: sich theologisch zu positionieren und eine entsprechende Praxis anzustreben.
In einem jüngst erschienenen Buch „Abschied von der Ständekirche. Plädoyer für eine Theologie des Gottesvolkes“ hat der Systematiker Peter Neuner den Versuch unternommen, die Entwicklung des Verhältnisses von Laien und Klerikern für ein Verständnis der Kirche als Gottesvolk historisch nachzuzeichnen. Seine These: In der Schrift wird das Gottesvolk als Ganzes (alttestamentlich, hebräisch: am) und in seiner Tradition die christliche Gemeinde mit laós bezeichnet. Er zeigt die Tendenz des Neuen Testaments auf, tatsächlich klassische priesterliche Funktionsbezeichnungen zu vermeiden, um sich vom ersttestamentlichen Priesterverständnis zu unterscheiden. Für das Neue Testament ist Jesus Christus selbst der Hohepriester, der ein für alle Mal das Opfer dargebracht hat (vgl. Hebr 10,10–14). Daher vermeidet das NT die eigene priesterliche Semantik (die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes für Priester kohen wäre hiereus) innerhalb der christlichen Gemeinde, vielmehr gehören alle Mitglieder des messianisch-eschatologischen Gottesvolkes zu dieser „königlichen Priesterschaft“, dem „auserwählten Geschlecht“ und „heiligen Stamm“ (1 Petr 2,9). Ämter, die sich allmählich entwickeln, werden mit aus der „profanen“ sozialen Wirklichkeit stammenden Funktionsbegriffen (presbýteros – Ältester, epískopos – Aufseher, diákonos – Diener) bezeichnet. Möglicherweise gerade deshalb, um keine Trennung zwischen einem „profanen“ Bereich und der neuen in Christus angebrochenen Wirklichkeit (der Gnade) zu transportieren. Es ist gerade die „profane“ Wirklichkeit, die durch die Fleischwerdung des Gotteswortes (Inkarnation) und durch das Sterben und die Auferweckung Christi (Pascha) zum angebrochenen Gottesreich als Raum des Heils und der Gottespräsenz geworden ist. Ämter sind in diesem Stadium der frühen Kirche nicht den Charismen entgegen geordnet, sondern sind ihrerseits Teil der verschiedenen Gnadengaben, die Gott seiner Gemeinde als ganzer zur Auferbauung des Leibes Christi (vgl. der Tempel seines Leibes, Joh 2,13–22) schenkt. Neuner unterscheidet die Gruppen der kerygmatischen, ekstatischen, organisatorischen und karitativen Charismen (Neuner 2015, 27f). Es waltet bei aller Verschiedenheit der Charismen eine wahre Gleichheit aller. Bereits im NT zeigt sich jedoch eine „Entwicklungstendenz, die auf Amtlichkeit, auf Ordination und institutionelle Vollmacht hinzielt“ (Neuner 2015, 40). Es gibt also – so Neuner – im NT keinen Sammelbegriff für den Nicht-Amtsträger, der als Subtraktion vom Amt übrigbliebe wie es im heutigen Sprachgebrauch des „Laien“ geschieht; laós umfasst vielmehr das Gottesvolk als Ganzes, auch der Begriff Klerus (von klerós: Los, das einem zufällt, ein Anteil, der durch dieses Los zugeteilt wird) ist noch im Rahmen der Gesamtberufung zum Gottesvolk verstanden (so z.B. 1 Petr 5,3). Der Begriff „Geistlicher“ ist ebenfalls nicht eine reservierte Bezeichnung für Amtsträger, sondern bezeichnet – im Unterschied zu den Nicht-Christen als Nicht-Glaubenden – alle, die aus Christus leben, weil sie seinen Geist empfangen haben. „Alle Begriffe also, die im heutigen Sprachgebrauch Differenzierungen innerhalb der Kirche aussagen und einen Stand im Gegensatz zu einem oder zu mehreren anderen Ständen bezeichnen, sind im Neuen Testament jeweils Umschreibungen der Kirche als Ganzer und aller ihrer Glieder“ (Neuner 2015, 42).
Eine solche Entwicklung hin zu verschiedenen Ständen in der Kirche, die verschiedenen Ebenen (des Heiligen und des Profanen, der Kirche und der Welt) zugeordnet waren, führte über die so genannte „Konstantinische Wende“, bei der kirchliche Ämter Anteil an der staatlichen Aufsicht erhielten, über das Mittelalter und die Neuzeit bis zum Vorabend des II. Vatikanischen Konzils dazu, dass über viele hundert Jahre die Amtsträger als Klerus mit der Kirche identifiziert wurden, der „Restposten“ dagegen, was man dann als „Laien“ bezeichnete, als hörende Kirche, als Objekt der sakramentalen pastoralen Sorge und der „Versorgung“ durch den Klerus verstanden wurde. Erst die theologischen Vorarbeiten und Entwicklungen in der Bibelbewegung, der Liturgischen Bewegung, bei Yves Congar und Karl Rahner führten dazu, dass das Konzil in seinem Verständnis des Gottesvolkes auf das neutestamentliche und frühchristliche Zeugnis zurückgreifen konnte und in Lumen gentium, Gaudium et spes und in Apostolicam actuositatem eine erneuerte Ekklesiologie formulieren konnte. Dazu griff das Konzil auch auf reformatorisch vorgetragene Vorstellungen zurück, wie auf das in Taufe und Firmung (Initiation) übertragene dreifache Amt, zu dem als Teilhabe am Leib Christi der und die Getaufte berufen ist. Zum Priester (heiligen), König (leiten), Prophet (verkündigen) gerufen zu sein, zielt eine Teilhabe am Dienst der Kirche an, was das Heiligen, Leiten und Verkündigen betrifft. Da diese Theologumena aus der Reformationszeit (insbesondere von Calvin) stammten, ist es wiederum verständlich, dass im 16. Jahrhundert das Trienter Konzil sich in der Folge der Reformation theologisch eher auf das Amt und den Amtspriester konzentrierte, um sich von den reformatorischen Ansätzen zu unterscheiden. Mit dem II. Vatikanischen Konzil wird jedoch deutlich: Sakramentalität, in der Taufe vermittelt, wird als Hineingetauchtsein in Christus (vgl. Röm 6) zur Gliedschaft am Leibe Christi verstanden und beruft zur Partizipation in und an der Kirche als dem allumfassenden Heilssakrament (vgl. GS 45; LG 1).
Diese Überlegungen haben Auswirkungen für das Verhältnis der Kirche zum einzelnen Glaubenden. Oft steht zunächst die Kirche im Mittelpunkt des Interesses. Thomas Pröpper hat in seiner Theologischen Anthropologie transzendentalphilosophisch den Gedankengang entfaltet, dass der Mensch als Subjekt personaler Freiheit sich selbst zum Thema wird und die Erfüllung des Menschen als Freiheitssubjekt sich erst an anderer Freiheit erfüllt. Daher setzt für Pröpper das Geschehen zwischen Gott und Mensch die „Ansprechbarkeit“ des Menschen voraus, die von Gott her in der Offenbarung zu einer „Beanspruchung“ wird, auf die der Mensch in Freiheit antworten kann. Das Geschehen zwischen Gott und Mensch zeigt sich somit als eines der Kommunikation, als ein Beziehungsgeschehen. Für ein Verständnis des Evangeliums heißt dies zunächst: Es gibt das Evangelium nicht einfach nur im „luftleeren Raum“ oder als vorhandenes bzw. zuhandenes, gleichsam als Paket. Vielmehr „inszeniert“ es sich zwischenmenschlich und zwischen Gott und Mensch, indem der Mensch als Person am Anderen und mit ihm in der Entfaltung freier Subjekthaftigkeit lebenslang zur Person wird. Das Evangelium ist also eher als ein Prozess, als Verlaufsform wahrzunehmen. Ich muss es mir „an-eignen“, indem ich mich öffne und auf es höre, ich muss es gewissermaßen durch mich hindurchgehen lassen, dass es mit mir „geschieht“. Das Evangelium er-eignet sich immer wieder je neu, weil es die Mission (Sendung) Gottes ist (missio Dei). Man versucht, an etwas festhalten, was nicht festzuhalten ist, was sich als personales Freiheitsgeschehen je neu ereignet. Es geht also in der Kirche darum, die Wirklichkeit, von der Christus gesprochen hat, in der jeweils personalen Dimension, erlebbar zu machen. Es stehen also nicht primär bestimmte Glaubensinhalte, Moral, Verhaltensweisen, bestimmte religiöse Praktiken, die Institution im Mittelpunkt. Vielmehr geht es beim Kirche-Sein darum, Räume zu eröffnen und Gelegenheiten zu gestalten, dass der einzelne Mensch das Angesprochen-Sein durch Christus als Beanspruchung in seinem Leben erfahren kann. Es ist also weniger so, dass das Ziel des Christseins die Kirche ist, sondern eher umgekehrt: Die Kirche dient dem Ziel der personalen Verbindung des Menschen mit Gott durch Christus. Das ist letztlich die Dimension dessen, was Lumen gentium als Sakramentalität entfaltet, wenn es die Kirche in Christus gleichsam als Sakrament, nämlich Zeichen und Werkzeug (signum et instrumentum) für die innigste Vereinigung mit Gott (intima unio cum Deo) und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts (unitas generis humani) versteht (vgl. LG 1).
Unser Gedankengang bringt uns damit zu einer erneuerten Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt. Einerseits wird durch die Anerkennung der Autonomie der zeitlichen Dinge (GS 36) zugestanden, dass, wie es die Luhmannsche Systemtheorie gezeigt hatte, die funktionale Ausdifferenzierung einer Gesellschaft zur Segmentierung von Teilbereichen mit jeweiliger Eigenlogik der Segmente führt. Kirche als institutionalisierte Religion kann in einer solchen modernen Gesellschaft also die Wahrheit ihrer Botschaft zwar einladend anbieten, jedoch nicht monopolistisch durchsetzen. In diesem Sinne kann Säkularität durchaus positiv als Emanzipation gesellschaftlicher Bereiche vor religiöser, insbesondere kircheninstitutioneller Bevormundung und überhaupt erst als Eröffnung eines „Raumes“ einer (als positiver und negativ verstandener Religions-) Freiheit durch den säkularen Verfassungsstaat verstanden werden (vgl. Art. 4 GG), in dem die (nicht nur inhaltlich verstandenen) Beiträge von unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen und auch nicht-religiösen Akteuren überhaupt erst ermöglicht werden und für die Gestaltung einer offenen Gesellschaft auch erwünscht sind. Für Christen als Glieder der Kirche bietet sich hier (in einer vorrangig nicht-institutionalisierten Logik von Kirche) ein weites Feld der Kooperation mit „Menschen guten Willens“, Anders-Gläubigen und Nicht-Gläubigen, zur Gestaltung des gemeinsamen Lebensumfeldes aus dem Geist des Evangeliums (vgl. GS 21).
Andererseits hat Gaudium et Spes die Logik der Inkarnation des göttlichen Wortes in die Welt ernstgenommen und durchbuchstabiert: Es kann keine klare Trennung von weltlichem und kirchlichem Bereich, kein dualistisches „Zweistockwerk-Denken“ geben, das dann auch zwei entsprechende Stände in der Kirche vorsähe. Damit hat das Konzil in gewisser Weise ein extrinsisches Heilsverständnis (von außen, von oben kommt die Gnade) hinter sich gelassen. Damit verbindet sich auch ein vertieftes und erneuertes Verständnis von der Sakramentalität der Kirche, an der die Glieder des Gottesvolkes kraft ihrer baptismalen Gnade teilhaben. Von daher gewinnen die Charismen ihre Bedeutung, da sie in Christus als dem eigentlichen Grundsakrament, in dem sich Gott und Mensch begegnen, verwurzelt und pneumatologisch entfaltet sind. Sie sind nicht primär Beiträge zu einer „profan-organisatorischen“ Organisation von Kirche (Fähigkeiten, damit der Laden läuft), vielmehr sind sie im Rahmen der kirchlichen Sakramentalität personal verstandene Werkzeuge des göttlichen Wirkens in der Welt.
Der Systematiker Christoph Theobald formuliert im Blick auf die Kirche als universales Heilssakrament im Missionsdekret Ad Gentes 1 und 5: „die sich unvorhersehbar zeigenden messianischen Zeichen und die hic et nunc geschenkten Charismen überschreiten die klassische Sphäre der sieben Sakramente und damit auch im gewissen Sinne der Kirche, lassen sich aber im biblischen Begriff des μυστήριον (mystérion, H.S.) zusammenfassen, dessen körperlich-zeichenhafte Dimension in der Übersetzung mit sacramentum präzise erfasst ist“ (Theobald, Lebensstil 211). Für Theobald ist die sakramentale Dimension also eine Zielrichtung des Christentums als Lebensstil: „Die ekklesiale Präsenz des Christentums zeigt sich als spezifisches Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt, das dann sakramental wird, wenn die jeweils in dieses Geschehen einbezogenen Personen, vor allem die letzten einer Gruppe oder Gesellschaft, in ihrer Einzigartigkeit zu messianischen ‚Zeichen‘ werden“ (Theobald 2014, 214f).
Demgegenüber wird man mit Blick auf die pastorale Realität konstatieren müssen, dass das Sakramentenverständnis bei heutigen Zeitgenossen noch weithin den mittelalterlichen Vorstellungskategorien entspricht: In der (punktuellen) „Spendung“ der Sakramente „fließt Gnade“ und ereignet sich das Heil von Christus her, es gibt (ordentliche und außerordentliche) Spender und Empfänger der Sakramente, also Subjekte und Objekte, Leitung heißt in der Kirche zumeist: Priester entscheiden, Laien sind die „Helfer“ des Priesters“, der Priester hat die „Letztverantwortlichkeit“. Ein junger Kaplan formulierte kürzlich auf einer Fortbildungsveranstaltung: „Ist doch alles kein Problem. Letztlich entscheide ich ja als Priester, wohin es lang geht in der Pfarrei.“ Es bleibt ein Problem, wenn priesterliche Identität in negativer Abgrenzung oder Exklusion zu Laien gedacht und formuliert wird. Reservierung von Rechten und Erlaubnisdiskurse: „Was darf ein Laie (oder nicht), was darf ein Diakon, was darf ein Priester?“ sind vermutlich ungeeignet, das Priesteramt theologisch zu definieren, zu erhalten und angesichts des mangelnden Priesternachwuchses attraktiv zu machen. Der Blick auf das Neue Testament und das II. Vatikanische Konzil legt nahe, die Praxis und auch den Sprachgebrauch hinsichtlich der Reservierung der Bezeichnungen „Geistliche“, „Seelsorger“ und „Priester“ zu überprüfen und ggf. im Blick auf die Sendung des gesamten Gottesvolkes anzupassen.
Wenn man diesen Gedanken folgen will, so verändert sich der Blick auf das, was gemeinhin mit „Pastoral“ oder Verkündigung gemeint wird. Weit davon entfernt, über Reservierungen die Aufgaben und Rollen in der Kirche zu definieren, geht es um ein weites Verständnis der Verkündigung, das für die Füllung durch das alltägliche christliche Leben und Zeugnis des Christen und der Christin offen ist. Wer den Begriff „Seelsorge“ exklusiv für den Geweihten verwendet, braucht sich nicht zu wundern, dass Wortschöpfungen wie „beauftragt mit den Aufgaben der Jugendseelsorge“ für einen Gemeindereferenten, nur um den Begriff des „Seelsorgers“ zu vermeiden, mittlerweile auf breites Unverständnis stoßen oder Belustigung hervorrufen. Neuner hält die nachkonziliare Entwicklung, die insbesondere durch die Dokumente Christifideles Laici (1988) und die Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester (1997) geprägt ist, für einen Rückschritt hinter das vom Konzil gewollte (Neuner 2015, 171).
Papst Franziskus ermutigt hingegen erneut dazu, das gesamte Gottesvolk als Subjekt der Sendung zu verstehen. Die einschlägigen Stellen in Evangelii Gaudium (2013) lassen da keinen Zweifel aufkommen: „Das ganze Volk Gottes verkündet das Evangelium“ (111), „In allen Getauften, vom ersten bis zum letzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes, die zur Evangelisierung drängt“ (119), „Ein Ohr beim Volk“ (154). Für Franziskus sind die Laien nicht die Objekte der Seelsorge, sondern Träger der Evangelisierung: „Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger“ (102).
Mit einer solchen Entwicklung, die Sendung des gesamten Gottesvolkes als Zeugnis und Pastoral in den Blick zu bekommen, ist dann auch eine Spiritualität der Laien als Glieder des Gottesvolkes verbunden. Es geht nicht um eine weltlose Religiosität, die die natürliche Schöpfung überspringen zu können meint. Vielmehr braucht es für alle Glieder des Gottesvolkes eine Theologie des Alltags, eine Mystik, die die Erfahrung des Unendlichen im Endlichen und damit Gott in der Welt erfahrbar macht.
Angesichts dieser Herausforderungen mutet es seltsam anachronistisch an, wenn Laienengagement nur, insofern es sich in absolutem Gehorsam zum Amt versteht, sozusagen als „Helfer“ oder „Werkzeug“, als verlängerter Arm des Amtes, fungieren darf. In der Vergangenheit wurde dies insbesondere im Streit um die „Katholische Aktion“ deutlich. Auch heute scheint diese Herausforderung nicht überwunden: In den Debatten um die Neue Evangelisierung oder der Synode über die Rolle der Familie in der Evangelisierung zeigt sich – manchmal vermittelt – aber immer wieder die Vorstellung von den Laien als den verlängerten Armen der Hierarchie. In der aktuellen Debatte über Charismen hört man immer wieder, die Prüfung der Charismen, das Befinden über ihre „Kirchlichkeit“, sei Aufgabe der Hierarchie. Auch im Papier über den Sensus fidei der Internationalen Theologischen Kommission ist die Tendenz spürbar, den Glaubenssinn des Einzelnen (sensus fidelis) und der Gemeinschaft (sensus fidelium) letztlich doch an die autoritative Entscheidung durch das Lehramt anzubinden und davon abhängig zu machen.
Aber ist dies nicht vielmehr ein Geschehen, das die Gesamtkirche in einem lebendigen Kommunikationsprozess als Unterscheidung der Geister und unter Moderation der Amtsträger vollziehen muss, welche Charismen authentisch sind und zum Aufbau des Ganzen eingebracht werden können? Dies ist viel schwieriger, als nach Beckmesser-Manier autoritative Entscheidungen zu treffen, und es braucht Zeit und Vertrauen. Aber ist es nicht partizipativer und kommt es nicht dem sakramentalen Charakter der Kirche näher? Was bedeutet dies für die Beauftragungspraxis von Laien durch die Hierarchie? Muss möglichst viel durch Beauftragung an den Amtsträger angebunden werden, damit Ordnung und Kontrolle da ist, was sich als Kirche realisieren darf? Welches Handeln ist aber Ausfluss eines genuin in Taufe und Firmung gründenden Laienapostolates, der aus sich heraus, und nicht erst durch Erlaubnis des Amtsträgers zum authentischen Zeugnis wird? Kann der Amtsträger überhaupt realistischerweise alles wahrnehmen, kontrollieren und entscheiden? Muss er es?
Ich möchte jedoch gerne noch einmal die Frage nach dem Gottesvolk aufnehmen, das nach Franziskus Subjekt der Verkündigung des Evangeliums ist. Was ist das Gottesvolk und wer gehört ihm an? Eine einfache Antwort: die als Gesellschaft (societas) in dieser Welt sichtbar verfasste Kirche mit der Taufe als Grundlage und den von Robert Bellarmin her rührenden drei Bindungen (vincula) Glaubensbekenntnis (vinculum liturgicum), Sakramente (vinculum sacramentale) und kirchliche Leitung (vinculum hierarchicum, vgl. LG 14 und c. 205 CIC). Das Konzil hat als „pastorales“ jedoch versucht, diese traditionelle Sicht von Gliedschaft an die geänderten ekklesiologischen Bedingungen anzupassen. Obwohl die Kirche als Mysterion, als mystischer Leib Christi, zwar nicht von der sichtbar verfassten Kirche getrennt betrachtet (vgl. LG 8) werden darf, kann das berühmte subsistit (LG 10) jedoch gerade als Öffnungsklausel (einer Nicht-Deckungsgleichheit im Sinne direkter Identität) verstanden werden. Auf derselben Ebene ist die Sicht des Konzils von Gliedschaft als persönlichem Willensakt (votum, vgl. Begierdetaufe) anzusiedeln. Die Gliedschaft und Zugehörigkeit zum Gottesvolk ist also nicht so einfach zu beschreiben und darf offenbar auch nicht zu eng verstanden werden. Dem tragen pastoraltheologische Entwürfe Rechnung, die bsw. die Religionsgemeinschaft von der (umfassender verstandenen) Pastoralgemeinschaft unterscheiden (Hans-Joachim Sander) oder die einen weiteren Begriff des Gottesvolkes annehmen und dies als eine Herausforderung zur positiven Gestaltung von Pluralität verstehen (Jan Loffeld).
Diese Gedanken haben fundamentale Auswirkungen auf die derzeit laufenden Veränderungen in der pastoralen Landschaft in Deutschland. Warum ist es offenbar so schwer, die Vergrößerung pastoraler Räume als Öffnung zu einer größeren Weite unterschiedlicher Gemeinschaften, pastoraler Orte als Bezeugungsorten des Evangeliums zu sehen? Und nicht vielmehr als ein Downsizing einer überkommenen Kirchen- und Pastoralvorstellung von „Versorgung“ durch Priester und Hauptberufliche, nun unter dem Vorzeichen des Mangels. Kann nicht in Zeiten gesellschaftlicher Differenzierung und Pluralisierung gerade dies als positive Herausforderung, das Wirken Gottes im Hier und Jetzt auf unterschiedliche Weise neu zu entdecken und dann auch zu bezeugen sein? Die Fragen nach einer charismenorientierten, einer partizipativen Kirche und den damit verbundenen Neuorientierungen führen uns direkt hinein in die Fragen nach der Bezeugungsqualität des Evangeliums in einer sich radikal transformierenden sozialen Wirklichkeit. Das, was wir brauchen, sind neue Bilder vom Handeln Gottes, einen neuen Blick auf die vielfältige Kirche und auf das, was Gott in Gang bringt, und was sich dann (auch) als Kirche realisiert. Wenn die verfasste Kirche sich auf eine solche Entdeckungsreise begeben würde, könnte sie vielleicht etwas erleben …
Eine Reise auf die Philippinen war mit dem Titel „Lern- und Begegnungsreise Partizipative Kirche“ überschrieben. Ich erlebte dort eine Pfarrei in den Randbereichen der Millionenmetropole Manila, zu der 80.000 Katholiken gehören. Der Pfarrer versteht sich als Moderator und Inspirator eines Prozesses, in dem die Menschen ermutigt werden, vor Ort Kirche zu sein. Wir erlebten die Pfarrei als eine Gemeinschaft von Gemeinschaften vor Ort in den Nachbarschaften (neighborhoods). Die Menschen kamen zusammen, um zu teilen: Leben, Zeit, den Glauben und die Schrift. Sharing scheint mir viel mehr als nur ein vordergründiges, materiales Abgeben zu sein. Sharing ist vielmehr eine Chiffre für Partizipation: Teilnehmen und Teilgeben, eben Teilhaben. Dabei haben wir die Ernsthaftigkeit gespürt, Glaube und alltägliches Leben, Gebet, Bibelteilen und Verantwortung füreinander und für andere als Kirche vor Ort zusammenzubringen. Ich habe dort ein Verständnis von Sakramentalität der Kirche wahrgenommen, das sich nicht allein aus dem Amt oder der Praxis des Pfarrers oder der priesterlichen Erlaubnis speist. In Deutschland kann der Beobachter der pastoralen Diskurse und Prozesse oftmals den Eindruck gewinnen, dass es tatsächlich um eine „Versorgung“ geht, weil das eigentlich Kirchliche letztlich doch vom Priester/Amtsträger gewirkt würde. Die Redeweise ist entlarvend: Anstatt „Wir gehen in die Kirche“ müsste gesagt werden: „Wir sind Kirche vor Ort auf unterschiedliche Weise.“
Natürlich bedeutet ein solcher Umschwung des Verständnisses eine hohe Herausforderung zunächst für alle Gläubigen, dann aber auch und erst recht für die Priester und die Hauptberuflichen in der Pastoral. (Kann man diese noch „Mitarbeiter“ nennen? Wessen Mitarbeiter sind sie, des Gottesvolkes oder des vorgesetzten Pfarrers?) Yves Congar schrieb: „Es bleibt noch viel zu tun, um die Laien von der Manie zu heilen, immer Bestimmungen zu suchen, die sie von der Verpflichtung entbinden, selber ihre Probleme zu durchdenken – und die Kleriker von ihrer Gewohnheit, alles vorzusehen, zu entscheiden und vorzuschreiben.“ (Congar, 1964, 715) Der Professionalisierungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Deutschland eine bunte Landschaft von pastoralen Diensten mit sich gebracht, pastorale hauptberufliche Laiendienste sind kirchenhistorisch gesehen ein relativ junges und ein nordeuropäisches Phänomen. Unterschiedliche Einsatzfelder in den Bistümern haben für die hauptberuflichen pastoralen Dienste zu unterschiedliche Profilierung geführt. Diskursflächen ergeben sich einerseits im Verständnis des Miteinanders von Priester und Laien, dann aber auch im Spannungsfeld von pastoraler Aufgabe in Pfarrei und/oder kategorialem Seelsorgefeld. Des Weiteren ergeben sich Reibungsflächen zwischen den einzelnen Berufsgruppen, bsw. der Ständigen Diakone, der Pastoralreferenten und Gemeindereferenten, die in theologischer und pastoral-praktischer Hinsicht in den größeren pastoralen Räumen zunehmend neu herausgefordert werden. Dies kann nur gelingen, wenn alle hauptberuflichen Dienste sich tatsächlich im Dienst an der Gesamtverantwortung des Gottesvolkes verstehen, um die Pastoral des Gottesvolkes zu unterstützen und zu entwickeln.