Mitten im Leben
Hans-Hermann Pompes Missionstheologie für die Volkskirche fragt, wie das Evangelium in einer postmodernen, nachchristlichen Gesellschaft neu ins Gespräch gebracht werden kann. Pompe, Leiter des EKD-Zentrums Mission in der Region (ZMiR), legt damit ein Grundlagenpapier vor, das eine Frucht der nunmehr vierjährigen Arbeit des Zentrums darstellt – ein handhabbarer und praxisnaher Text, der zur Orientierung beiträgt und zum missionarischen Handeln vor Ort ermutigt.
Gleich zu Beginn bestimmt Pompe den Begriff „Mission“ als „Kürzel für die liebende Zuwendung des dreieinen Gottes zum Menschen und für den Sendungsauftrag der Kirche“ als Basis aller weiteren Überlegungen. Kapitel 1 bietet eine Analyse der postmodernen gesellschaftlichen Realität, die „völlig neue Wege“ der Kommunikation des Evangeliums verlangt. Hier hält Pompe fest, dass in der Postmoderne allgemeingültige Wahrheitsansprüche zunehmend unter Ideologieverdacht stehen und Wahrheit vielmehr nur in Beziehung, in Begegnung Geltung beanspruchen kann. Eine solche „relationale Wahrheit“ aber sieht er nicht zuletzt in Joh 14,6 gut biblisch begründet. Im Anschluss werden zügig sowohl „Todsünden der Postmoderne“ (Langeweile, Irrelevanz, Erfahrungsarmut, absolute Wahrheiten, Monokausalität, Dekontextualisierung) als auch offene Türen zu postmodernem Denken (Kreativität, Humor, Relevanz, Erfahrung) benannt und aufgetan. Ob Letztere nur für postmoderne Gesellschaften von Bedeutung sind und nicht aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit auch als Brücken zu vielen anderen Denkwelten gelten können, darf allerdings angezweifelt werden – falsch werden sie dadurch aber nicht.
Kapitel 2 analysiert die missionarischen Chancen der „Volkskirche“. Ausgangspunkt ist hier eine geistliche Krisendeutung, die weniger ein kirchliches Scheitern und Versagen als einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel diagnostiziert. In diesem Kontext entfaltet Pompe sein Plädoyer für eine Verschränkung von Volkskirche und Mission bzw. Missionskirche, da die „,Volkskirche‘ als Verkünderin der Ur-Gratifikation … auch als Minderheitskirche bleibend ihren Auftrag als Kirche für das Volk, Kirche durch das Volk und Kirche im Volk“ behält. Daraus ergeben sich sowohl Chancen (u. a. Menschennähe, Öffentlichkeitsrelevanz) als auch Spannungen (u. a. der Mitgliedschaftsbegriff) der Volkskirche. In den „Zeiten des Übergangs“ wird zudem eine „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten“, die sich u. a. in parallelen Ekklesiologien und einem „Flickenteppich von … Innovativem und … Überholtem“ ausdrückt, identifiziert. In diesem Zusammenhang kommen auch Erfahrungen der anglikanischen Kirche ins Spiel, die (aus ihrer Krisenerfahrung heraus) die Mission als pastoralen Ausgangspunkt benannte und so Kirche als „mission-shaped church“, als eine durch die Mission „geformte“ Kirche bestimmte.
Den theologischen Kern des Buches macht Kapitel 3 aus, das die Mission als „DNA der Kirche“ charakterisiert, denn „im Kern … antwortet unser Echo auf die missionarische Liebe Gottes“, die missio Dei. Ausgehend vom aufgrund seiner Offenheit und damit schwierigen Profilierung bisweilen problematischen Konzept der missio Dei zeichnen sich für Pompe drei Dimensionen ab, in denen sich Existenz und Zeugnis der Kirche ereignen: Mission, Dialog und Konvivenz, die einerseits zu unterscheiden sind, andererseits jedoch zusammengehalten werden müssen. Mission selbst aber ereignet sich auf dreierlei Weise: durch Proklamation (öffentliche Verkündigung), Kommunikation (Weitergabe in alltäglichen Kontakten) und Attraktion (Anziehungskraft gelebten Glaubens) des Evangeliums. Eine so konzipierte Mission findet Anknüpfungspunkte, nicht zuletzt bei den spirituellen Sehnsüchten der Menschen (u. a. Selbstfindung, Verzauberung, Heilung, Festigkeit, Gemeinschaft). Wichtig ist es Pompe dabei anzumerken, dass „Ausfall oder Unglaubwürdigkeit einer dieser Ebenen … die anderen [behindert] oder … ihnen sogar [widerspricht]“.
Was eine „gute Mission“ ausmacht, versucht Kapitel 4 abzustecken. Von neutestamentlichen Missionserfahrungen ausgehend wird „gute Mission“ grundsätzlich als ein „Weg auf den Spuren des menschgewordenen Gottes“ bestimmt, der sich unter der Frage „Was fördert Biotope des Glaubens?“ konkreten Kriterien stellen muss, z. B. dem der Christusförmigkeit, der Außenorientierung und der Lebensdienlichkeit. Sehr praktisch schließt Pompe eine Reihe von Vitalitätsprüfungen an, die vor Ort, regional realisiert werden können, z. B. die Fragen nach der Wahrung der Freiheit der Angesprochenen, nach der Relevanz und Menschennähe der Mission, nach der Sensibilität für Zweifel und Scheitern, nach der Selbstevangelisierung etc.
Kapitel 5 bietet eine Vielzahl konkreter Erfahrungen gelingender Mission. Auch und gerade, weil ein „Defizit an gelingenden Umsetzungen“ festzustellen ist, bietet Pompe „best practices“, umsetzbare Modelle und Ansätze in lokaler wie regionaler Perspektive, die zu Neuaufbrüchen anregen sollen. Genannt seien auswählend nur Übungen zur Sprachfähigkeit des Glaubens, Möglichkeiten des katechumenalen Weges und Glaubenskurse. Kapitel 6 zeigt Konsequenzen für eine gemeinsame Mission in der Region. Dabei kommt vor allem das Potential regionalen Denkens für die Kirchentwicklung in den Blick, das sich für Pompe u. a. in räumlicher Nähe und regionaler Identität ausdrückt. Lernerfahrungen können und sollen trotz „Nazareth-Effekt“ (vgl. Mk 6,4: „Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie.“) verbreitert werden.
Insgesamt hat Pompe eine kompakte und praxisorientierte Missionstheologie vorgelegt, die sich als Agenda für Regionen, Gemeinden und Engagierte der evangelischen Kirche, aber auch darüber hinaus, verstehen lässt. Die eingängig lesbaren Texte im ansprechenden Layout drängen weg von einer Selbstreferentialität der Kirche hin zu einer „mission-shaped church“. Dabei spielen Kreativität („Gott liebt Experimente“) und Qualität, die die postmoderne Pluralisierung und notwendige Kontextualisierung des Evangeliums ernst nimmt, eine entscheidende Rolle. Die „regionale Brille“, die die Ortsgemeinde ins Blickfeld rückt, bietet unmittelbare Anknüpfungspunkte zu Erfahrungen in der katholischen Kirche, die ihr Schwergewicht auf eine „lokale“ Kirchenentwicklung legen (z. B. im Bistum Hildesheim, beim Prozess „Vor Ort lebt Kirche“ [VOlK] im Bistum Magdeburg, bei der Gemeindebildung im Bistum Poitiers, bei den Kleinen Christlichen Gemeinschaften etc.). Auch wenn die spezifisch evangelische Perspektive durchtragend ist (es handelt sich ja um eine evangelische Missionstheologie), so sind diese Ausführungen auch aus ökumenischer Sicht ein Gewinn; viele Partien erinnern an Texte anderer christlichen Konfessionen oder nehmen diese auf, wie z. B. Zeit zur Aussaat der DBK oder die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils. Mit der Ökumene, die bei Pompe selbst nicht eingehender behandelt wird, aber strukturell durchscheint, kommt letztlich eine „Überlebensfrage“ des Christentums (Bischof Joachim Wanke) ins Spiel: Das Christentum wird in Zukunft nur dann als Gesprächspartner ernst genommen werden, wenn es sich als eine einheitliche christliche Kirche präsentiert, nicht als widersprüchliches Durcheinander. Es geht darum, gemeinsam, nicht gegeneinander, den Menschen den Gotteshorizont zu eröffnen. Hans-Hermann Pompe trägt dazu bei, nicht zuletzt mit seiner Missionstheologie.
Markus-Liborius Hermann