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Kulturtechnik Aberglaube

In der Pastoral in Deutschland hat sich der Fokus in den letzten Jahr­zehn­ten verschoben: Statt der Frage nach einem kirchlichen/katholi­schen Glauben stellt sich zunehmend (gerade, aber nicht nur angesichts der ostdeutschen Situation) die Frage nach Glauben(-können) über­haupt. Dabei fällt der Blick auch auf Formen von Gläubigkeit jenseits herkömmlicher Glaubensgemeinschaften – z. B. auf „Aberglaube“.

Die eben gesetzten Anführungszeichen weisen bereits darauf hin: Die 25 Beiträge des zu besprechenden Bandes begeben sich auf ein schwieriges Terrain, ist „Aberglaube“ doch keine Selbstzuschreibung, sondern eine implizit negative Fremdzuschreibung einer Materie, deren Abgrenzung schon deshalb geradezu unmöglich ist, weil sich das Aberglaubensver­ständnis im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verschoben hat. Ent­sprechend befassen sich viele der Beiträge damit, wie in früheren Jahr­hunderten – etwa im Rahmen von Volksaufklärung oder Kriminalwis­sen­schaft – mit dem Phänomen als abergläubisch bewerteter Praktiken umgegangen worden ist.

Der Band geht auf ein interdisziplinäres Symposium zurück, das im Rah­­men eines Forschungsprojekts „Superstition – Dingwelten des Irrationalen“ am Universalmuseum Joanneum Graz stattfand. Dieser Hintergrund spiegelt sich in einigen Artikeln wider, die sich mit der Präsentation von einschlägigen Exponaten in Museen befassen. Andere Beiträge widmen sich historischen Quellen für die Volkskunde (Ethnolo­gen machen die stärkste Gruppe der Autoren aus!), bestimmten Gegen­ständen oder bestimmten Lebensbereichen, in denen Praktiken des Aberglaubens früher stark präsent waren (z. B. Volksmedizin, Schwan­ger­schaft und Geburt). Ein Beitrag ist sogar ein Ausgrabungsbericht zu einer Sonderbestattung (einer Heilerin?) des 17. Jahrhunderts.

So widmet sich ein großer Teil der Beiträge mehr in der Art von Einzel­studien dem Aberglauben in der Vergangenheit – v. a. in der Zeit vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert; Ausnahme ist der einleitende Arti­kel von Karl-Heinz Göttert, der Entwicklungen von der Antike bis zur frühen Neuzeit skizziert.

Daneben bzw. dazwischen stehen aber auch Artikel, die Linien zur Ge­gen­wart ziehen, dem allgemeinen Wesen des Aberglaubens nachgehen oder die wissenschaftliche Befassung mit Aberglauben problematisie­ren: So skizziert Eva Kreissl, wie abergläubische Bräuche, Heilmethoden und Glücksbringer früherer Zeiten heute ihre Fortsetzung finden, be­tont Christoph Daxelmüller die Macht der Bilder, die für Aberglauben zentral ist, und identifizieren Martin Scharfe und Andreas J. Obrecht Rationalitäten und Sinn in der Superstition – wie übrigens auch sonst die Autoren bemüht sind, eine negative Bewertung des an sich pejorati­ven Begriffes „Aberglaube“ zu vermeiden, sondern die untersuchten Phänomene in ihrer Eigenlogik zu verstehen. Erfrischend selbstkritisch sind der Beitrag „Aberglaube in der psychotherapeutischen Praxis“ von Bernd Rieken und die Gedanken der Ethnologin Angela Treiber. So zeigt sich: Die Sicht auf den Aberglauben ist kulturabhängig; das Weltbild, das hinter Aberglauben steht, ist unserer heutigen westlichen Kultur weitgehend fremd; aber trotzdem: Auch uns ach so aufgeklärten Men­schen liegt abergläubisches Denken oft näher, als wir meinen.

Insgesamt bietet der Band also ein buntes Potpourri unterschiedlicher Artikel aus unterschiedlichen Fachperspektiven (Ethnologie, Kriminolo­gie, Geschichtswissenschaft, Psychotherapie, Archäologie, Soziologie, Museologie, Judaistik …). Metareflexionen wechseln sich munter mit Einzelstudien ab. Obwohl Kapitelüberschriften das Inhaltsverzeichnis gliedern, erschließt sich dem Rezensenten die Logik der Reihenfolge nicht recht.

Davon sollte sich der Leser aber nicht beirren lassen (auch nicht vom Steiermark-Fokus, der den Band prägt) und sich beim Schmökern in den gut zu lesenden, teilweise bebilderten Beiträgen das heraussuchen, was ihn interessiert. Immer wieder wird er auf interessante Denkanstöße und weiterführende Einsichten stoßen – wenn er es wagt, sich ein Stück weit auf die Eigenlogik des Aberglaubens, des „anderen Glaubens“, ein­zulassen. Das lohnt sich gerade auch für an pastoralen Grundfragen In­te­ressierte, finden sie doch in der Auseinandersetzung mit dem Aber­glauben Einblicke, wie sich Glaubensvorstellungen in der konkreten Lebenswelt der Menschen konstituieren (Stichwort Inkulturation!) – in Auseinandersetzung, aber häufig auch sehr konträr zu hochreligiösen Vorgaben ebenso wie zu unserem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild.

Martin Hochholzer