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Zur Einführung

Neue Spiritualität, Christentum und Gesellschaft im Wandel

Der spirituelle „Wanderer“ steht im Mittelpunkt dieses Schwerpunktteils. Martin Hochholzer skizziert aktuelle Entwicklungen, die den Hintergrund der heutigen religiösen Landschaft bilden, und zeigt, dass der „Wanderer“ geradezu als Paradigma für die Herausforderungen dienen kann, denen sich eine missionarische Pastoral angesichts der heutigen weltanschaulichen Pluralität ausgesetzt sieht.

Geht man am Abend durch Erfurt, kann man nicht nur Impressionen ei­ner wunderschönen Stadt erleben, sondern bekommt womöglich auch eine Einladung in die Hand gedrückt, beim Nightfever-Abend in der Lo­renzkirche kurz (oder länger) zu verweilen. Kerzenschein, ruhige Musik, besinnliche Impulse, die Einladung zu persönlicher Fürbitte im Stillen – und das ausgesetzte Allerheiligste. Doch passt dieser starke konfessio­nelle Identitätsmarker zu einem Angebot, das in unverbindlicher Weise an alle ungeachtet ihres Glaubens (oder Unglaubens) ergeht, die vor­über­gehen oder in sonst einer Weise davon erfahren haben?

Wohl eher ist es diese Frage, die nicht mehr recht zur heutigen Zeit und Gesellschaft passt. Denn im Setting von Nightfever bekommt das ausge­setzte Allerheiligste ganz unterschiedliche Bedeutungen: Wohl nur für wenige wird es ein klares Bekenntnis zu Jesus Christus in einer spezi­fisch konfessionellen Gestalt darstellen. Ein Großteil der Besucher wird gar nicht wissen, um was es sich da handelt, und die Monstranz einfach als ein weiteres ästhetisches Gestaltungselement im Kirchenraum wahr­­nehmen. Für andere eröffnet das Allerheiligste schließlich in mehr allgemeiner Weise zusammen mit anderen Elementen einen Ort der Präsenz Gottes oder des Göttlichen.

Zwar ist die religiöse Landschaft in Deutschland nach wie vor stark von den zwei großen Konfessionen geprägt. Doch zunehmend verschwim­men nicht nur die Konfessionsgrenzen, sondern auch andere gewohnte Konturierungen in der religiös-weltanschaulichen Landschaft:

Dass Protestanten auch schon wegen des Papstes aus der Kirche ausge­tre­ten sind, hat sich mittlerweile längst herumgesprochen. Dass aber Neuheiden teilweise zu einer Annäherung an „die Kirche“ tendieren, lässt dann doch aufhorchen: zum einen, weil der Auslöser einer solchen Annäherung die Abwehrhaltung gegen „den Islam“ (bzw. eine befürch­tete Islamisierung Europas) ist und man in der Kirche einen potentiellen Verbündeten vermutet; zum anderen, weil die neuheidnische Szene ja die germanische, keltische etc. Religiosität vor der Christianisierung wiederbeleben möchte und sich damit geradezu automatisch in eine Gegenposition zu Christentum und Kirche begibt.

Diese Beispiele weisen darauf hin: Es sind heute oftmals – zunehmend? – weniger Fragen der Glaubenslehre und der dogmatischen Stimmig­keit, die die religiös-spirituelle Verortung bestimmen, sondern andere Aspekte: kulturelle Beheimatung, Orientierung und Führung, anspre­chende Ästhetik, Erfahrungsintensität, Heilung, Menschen mit einem ähnlichen Blick auf die Welt … Die Passung zu den eigenen Bedürfnis­sen ist entscheidend.

In einer Welt, in der die Mobilität nicht nur von Personen, sondern auch von Informationen so hoch ist wie nie, können Menschen (zumindest in freiheitlichen Gesellschaften wie in Deutschland) nicht nur aus einer Fülle an kulturellen und religiösen Entwürfen wählen; nein, sie sind geradezu dazu gezwungen (Peter L. Berger spricht vom „Zwang zur Häresie“). Religionsgemeinschaften wie die großen Kirchen, die tradi­tionell von einem Modell formaler, fester (idealtypisch lebenslanger) Mitgliedschaft geprägt sind, geraten dabei strukturell unter Druck.

Es geht nämlich auch ohne Mitgliedschaft. Das weiß jeder, der sich bereits intensiver mit Religionsstatistik befasst hat: eigentlich ein unmögliches Unterfangen, will man die verschiedensten Gruppierun­gen und Richtungen wirklich vergleichbar zahlenmäßig nebeneinan­derstellen. Denn während die katholische Kirche und die Kirchen der EKD punktgenaue Zahlen von Mitgliedern nennen können, die freilich oftmals sehr kirchenfern sind oder sich gar nicht mehr bewusst sind, dass sie einer Kirche angehören, kennen etwa der Islam, aber auch viele andere religiöse Gemeinschaften eine solche durchstrukturierte Mit­glie­der­erfassung nicht. Und die Bedeutung mancher Gruppen kann man nur richtig einschätzen, wenn man den großen Sympathisantenkreis um die engeren Anhänger/Mitglieder herum berücksichtigt.

Vollends deutlich wird die Problematik, will man eine Zahl der „Esote­riker“ bestimmen. Die Menschen, die sich in der Esoterikszene bewe­gen, zeichnen sich nämlich oftmals durch eine Distanz zu Institutionen und festen Mitgliedschaften aus, sodann durch eine Unbestimmtheit bzw. Flexibilität in Glaubensfragen und schließlich durch eine hohe Bereitschaft, an den verschiedensten spirituellen Angeboten anzu­docken.

Auch sonst finden wir Mehrfachmitgliedschaften, Nichtmitgliedschaft bei dauerhafter Nähe zu einer Richtung, fließende Übergänge von einer religiösen Richtung/Gruppierung zu einer anderen etc. Religiosität wird heute vielfach fluide gelebt: Bisherige Grenzziehungen/Abgrenzungen bzw. die Verortung in einer Religionsgemeinschaft sind aufgeweicht oder völlig verschwunden zugunsten eines Sich-Bewegens in einem spirituellen Raum, der von den eigenen Bedürfnissen bestimmt ist – ein Raum, der von Andockpunkten bei möglicherweise vielen religiösen „Anbietern“ geprägt ist.

Solche Such- und Wanderungsbewegungen zeigen sich paradigmatisch beim Typus des „Wanderers“, wie er in der Studie „Die unsichtbare Reli­gion in der sichtbaren Religion“ beschrieben ist. Er lebt eine Spirituali­tät, die wesentlich auf die eigene Erfahrung und die Eigenkompetenz des religiösen Subjekts setzt, die offen ist für viele Wege, die sich nicht gegenseitig ausschließen, und die sich deshalb jenseits aller konfessio­nel­len Verengungen und Vorgaben verortet.

Ein solcher antiinstitutioneller Affekt ist heute weit verbreitet. Gerade dadurch aber, dass traditionelle (konfessionelle …) Grenzziehungen für viele obsolet geworden sind, kann sich auch ein neuer, ungezwungener Umgang mit den klassischen Kirchen ergeben, die freilich nicht mehr als alleinseligmachende Heilsverwalter, sondern als Anbieter neben ande­ren wahrgenommen werden.

So ergibt sich für die Wanderer ein ambivalentes Verhältnis zwischen neuer Spiritualität und klassischen christlichen Formen – noch ver­stärkt durch die Tatsache, dass viele Wanderer Kirchenmitglieder oder christlich sozialisiert worden sind und in ihrem Leben immer wieder auf Kirche treffen – etwa als „Kasualienfromme“. Ein Hinweis darauf, dass Glaube offenbar doch kaum ohne gewisse, insbesondere auch vorgegebene Strukturen auskommt.

Diesen Wanderern, ihrer neuen Spiritualität und ihrem Verhältnis zum Christentum widmet sich der Schwerpunkt dieser euangel-Ausgabe. Der Religionssoziologe Winfried Gebhardt stellt sie uns zu Beginn vor. Zwei weitere Beiträge zeigen exemplarisch Orte, wo sich der christliche Raum hin zu anderen Spiritualitätsformen öffnet – und Wanderer sind Experten für das Leben an diesen Orten, da sie in spiritueller Mehrspra­chigkeit geübt sind. Da ist zum einen das Phänomen des christlichen Zen, das Ursula Baatz für uns analysiert. Zum zweiten stellt uns Christina Brudereck mit „Zeit des Meisters“ ein kirchliches Angebot für „spirituell Kreative“ vor. Abschließend macht sich Ottmar Fuchs an eine pastoraltheologische Betrachtung der Wanderer; er tut dies, indem er das Wesen der Sakramente durchdenkt, die nicht auf Absonderung an­ge­legt sind, sondern vielmehr Zeichen der immer schon vorgängigen Präsenz und Liebe Gottes unter allen Menschen sind und somit die un­be­­dingte Gnade Gottes entgrenzen, die kirchlicherseits immer wieder durch Bedingungen begrenzt zu werden droht.

Vor diesem Hintergrund sind die Wanderer dann nicht kirchliche Außen­seiter, sondern geradezu Paradigma des Gläubigen „nachkon­fessionellen Typs“. Sie stehen exemplarisch für eine Kirche, die sich selbst im Dialog mit allen Menschen sucht, die ihr Herz für einen Gott öffnen, der uns Menschen immer schon zuvorkommt: eine Absage an alle Evangelisierungsbestrebungen, die nicht das Evangelium, sondern doch wieder (nur) Kirchenmitgliedschaft als eigentliche Agenda haben; und eine positive Herausforderung für eine missionarische Pastoral, die sich selbstbewusst den Gegebenheiten und Dynamiken der heutigen religiös-weltanschaulichen Pluralität stellt und dabei die Denkscha­blo­nen und Grenzziehungen durchbricht, die 500 Jahre Konfessionalität geprägt haben.