Zeit des Meisters
Mitten in der Fußgängerzone zieht mich das große offene Portal einer Kirche an. Ich trete ein und finde mich in einer anderen Welt wieder. Es ist still. Dunkler als draußen, aber bunte Fenster und eine Menge Kerzen schaffen ein besonderes Licht. Ich höre leise Musik, rieche einen besonderen Duft. In den Bänken sitzen einzelne Menschen und beten oder lesen. Einige knien auf Gebetsbänken. Andere bewegen sich langsam durch den Raum. Was kann man hier erleben?, frage ich mich und entdecke in den nächsten Minuten den Raum. Der Ton einer Klangschale unterbricht mich, und ich fühle mich gerufen. „Zeit des Meisters“ – dieser Titel ist mir vor der Kirche aufgefallen und begegnet mir drinnen auf Flyern und den Textheften, die in den Bänken liegen. Ich öffne eins und verfolge mit, wie ein Gebet gesprochen wird.
„Zeit des Meisters“ ist ein Angebot für spirituell Kreative. Suchende, religiös Interessierte, oft belesen, weit gereist. Sie sollen sich in einer Kirche wiederfinden können. In einem offenen sakralen Raum mitten in der Stadt, mitten im Leben (oder auch: auffindbar am Rand der Stadt). In einer Kirche, einer Kapelle, die ein Dach für die Seele bietet. Einem Erfahrungsraum für Gebet, Meditation und Stille. Einem Ort, der eine Insel der Ruhe ist. Gelegenheit, innezuhalten, nach innen zu sehen, Heiligem nachzuspüren. In der Innenstadt von Essen im Ruhrgebiet, in Hannover-Linden, in Pirna, in Berlin-Schöneberg. In einer Industriestadt, einem Ort für Touristen, einem Szene-Stadtteil in der Hauptstadt.
Von 9 Uhr früh bis 20 Uhr spät (während der Ladenöffnungszeiten) gibt es je zur vollen Stunde ein Gebetsangebot, in Anlehnung an die Tradition klösterlicher Stundengebete. Zum Beispiel ein Morgengebet, ein Schöpfungs- und ein Friedensgebet. Das Gebet der Zweifel. Ein Atemgebet. Eine Meditation zum Inneren Heiligen Raum. Das Gebet mit den Perlen des Glaubens. Am Schluss des Tages das Gebet für Familie Mensch. Der Gedanke der Achtsamkeit ist bedeutend. Das bewusste Atmen. Die Idee von Verwobenheit. Die Mitarbeitenden haben entschieden: „Wir erklären nicht. Wir schaffen einen Raum für Erfahrung. Wir feiern ein Geheimnis.“
Jeweils zur vollen Stunde läutet der Ton der Klangschale das nächste Gebet ein und hilft dabei, still zu werden, dem leiser werdenden Ton nachzuhören und dabei selber zur Ruhe zu kommen. Die Sprecherin oder der Sprecher (Teilnehmende aus dem Team) verneigt sich kurz zur Begrüßung. Texthefte liegen in den Bänken und auf den Plätzen vor den Kniebänkchen und Yogamatten, so können die Gebete, wenn gewünscht, mitgesprochen und mitverfolgt werden.
In der folgenden 10- bis 15-minütigen Gebetszeit gibt es verschiedene Impulse:
Texte aus der Mystik, Liedzeilen von Jochen Klepper. Gebete und Impulse aus verschiedenen Traditionen, aus dem Judentum, dem Christentum, dem Buddhismus, dem Sufismus. Texte von Dietrich Bonhoeffer, Martin Buber, Jalal od-Din Rumi, Thich Nhat Han. Texte aus der Bibel. Zeit zum Schweigen und bewussten Atmen. Kleine Lieder aus Taizé, gemeinsam gesprochene Texte. Zum Beispiel heißt es im Mittagsgebet:
Ich bin auf der Suche nach der Mitte.
Ich möchte ins Zentrum des Ganzen finden.
Ich mache mich auf die Reise nach innen.
Ich würde gerne Zusammenhänge verstehen,
die Einseitigkeit hinter mir lassen,
die Lebenskunst der Balance lernen.
Meine Sehnsucht zieht mich.
Dabei vertraue ich mich Gott an.
Ich öffne mich für Eindrücke aus der Anderswelt.
Ich wünsche mir die Haltung der Aufmerksamkeit.
In der Mitte des Tages
mache ich mich auf die Suche
nach der Mitte meines Lebens.
„Zeit des Meisters“ wird von einem „Kloster-auf-Zeit-Team“ begleitet, von einer Gruppe Ehrenamtlicher, Menschen aus der Gemeinde oder von ihrem Rand, die ihrer eigenen Suche nachgehen wollen. Sie nehmen für eine Woche oder einige Tage Urlaub oder richten ihren Alltag für diese Zeit so ein, dass sie z. B. täglich nach der Arbeit in die Kirche kommen. Die Team-Mitglieder nutzen diese Zeit für sich selbst, ihre Anwesenheit, ihre Beteiligung beim Sprechen der Texte und beim Singen trägt gleichzeitig zur Stimmung in der Kirche bei und bietet den Gästen Orientierung.
In einer Woche kann viel passieren. Menschen kommen zufällig oder verabredet, über den ganzen Tag verteilt. Menschen, die neugierig sind, angelockt durch die Presse oder durch das große Banner außen an der Kirche, eingeladen von Freundinnen und Freunden; sie kommen einmalig vorbei oder sie kommen wieder. Was sie lockt: In der eigenen Stadt ein Kloster erleben. Mit großer Freiheit und Freiwilligkeit ausprobieren, welche Elemente des Glaubens sie erfüllen. Beteiligt zu sein ohne Zwang. Kommen und gehen zu dürfen. Worte zu entdecken, Gesten und Bilder/Zeichen, die sie inspirieren.
Es duftet nach Räucherstäbchen. Die Musik im Hintergrund ist eine Mischung aus Gregorianik, Taizé, Händel, Zen-Connection, Sting und Seal. Man kann sitzen, schweigen, durch die Kirche gehen, Bilder ansehen, auf dem großen Büchertisch stöbern, ein Buch mit auf einen Platz nehmen, lesen, im Gästebuch blättern, eine Kerze anzünden oder, nach dem Vorbild eines der Team-Mitglieder, ein Kniebänkchen ausprobieren oder eine Yoga-Matte.
Im Gästebuch kann man lesen:
„Eine Oase der Stille mitten im Lärm der Stadt.“
„Danke, ich brauchte einen Raum zum Weinen.“
„So gelingt mir der Wiedereintritt in den Glauben.“
Ganz praktisch: Eine Woche, das sind 91 Stundengebete. Etwa 840 Teelichte. 40 Räucherstäbchen. 30 Päckchen Taschentücher. Viele frische Blumen.
Wir haben erlebt: Dass Weite uns öffnet. Dass die Kirche ein Dach für die Seele bieten kann. Dass viele weinen. Dass viele dankbar sind, die eigenen mystischen Wurzeln wiederzuentdecken. Dass die Anknüpfungspunkte aus verschiedenen Traditionen wie offene Fenster wirken. Dass aus pilgernden Einzel-Seelen eine singende, betende, schweigende, hoffende Gemeinschaft wird.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Brudereck, Christina / Kateghe, Kisuba / Sulaksono, Endri / Währisch-Oblau, Claudia, Aufmachen. Wie wir heute Kirche von morgen werden, Neukirchen-Vluyn 2013.