Hildesheim, das nächste Poitiers?
Inspirationen einer konzilsgemäßen Gesamtpastoral
Hildesheim hat gute Chancen, das nächste Poitiers zu werden – das neue Lieblingsbistum der deutschsprachigen Pastoraltheologie. Was hier an Neuem gewagt wird, verdient Beachtung auch in scheinbar noch ‚gut katholischen’ Gegenden. Denn es ermöglicht einen Blick in die Zukunft der Kirche überhaupt. Über kurz oder lang wird auch das ‚Heilige Land Tirol’, wo ich gegenwärtig lebe und arbeite, eine Kirche in der Minderheit kennen, die so etwas wie eine „alpenländische Diaspora“ (Bauer 2014) bildet. Daher lohnt es sich dort und andernorts schon jetzt, beizeiten auf die entsprechende Situation anderer Ortskirchen zu blicken. Ganz so, wie es Rolf Zerfaß 1999 in seiner Würzburger Abschiedsvorlesung mit Blick auf die kirchliche Minderheitensituation in Frankreich bzw. Ostdeutschland vorschlug: „[Die französische Kirche] … ist uns auf dem Weg in die Diaspora schon ein paar Generationen voraus. Viele Mauern sind dort längst eingestürzt, die man bei uns mit großem Energieaufwand noch aufrechtzuerhalten bemüht ist. Aber schon ein Besuch in den neuen Bundesländern vermag die Augen dafür zu öffnen, was auch bei uns inzwischen die Stunde geschlagen hat.“ (Zerfaß 2000, 48) Ein Besuch in Ostdeutschland oder in norddeutschen Diözesen wie Hildesheim, Osnabrück oder Hamburg: Vielleicht mache ich doch irgendwann einmal eine Exkursion mit ‚meinen’ Tirolern in den hohen Norden – eine diasporapastorale Zeitreise in die Zukunft auch ihres noch weithin christentümlichen Kontextes?
Weiterdenken: Gesamtpastoral
Diese Erinnerung an die eigene Zukunft ermuntert zu einem näheren Blick auf den – im Austausch mit anderen weltkirchlichen Kontexten gewonnenen – Hildesheimer Programmbegriff der lokalen Kirchenentwicklung. Eingebettet in die interpastoralen Lernprozesse einer sich nachkonziliar globalisierenden Weltkirche, reizt dieses faszinierende Leitwort zu pastoraltheologischem Weiterdenken. Dieses soll im Folgenden entlang eines im deutschen Sprachraum bislang noch kaum bekannten weltkirchlichen Schlüsselbegriffs geschehen, den auch Christian Hennecke einmal beiläufig erwähnt (vgl. Hennecke 2011, 16): der Gesamtpastoral. Sie scheint mir ein konzilstheologisch geeigneter Impuls zu sein, um einige Grundbegriffe lokaler Kirchenentwicklung nach Hildesheimer Bauart konzeptionell zusammenzuführen und weiterzudenken, die in Henneckes inspirierendem Beitrag genannt werden: „Vielfalt kirchlicher Orte“, „relativierte Bedeutung der Gemeinden“, „Netzwerk, das nur insgesamt die Kirche in ihrer Vielfalt abbildet“. Angeregt durch Elmar Klinger haben sich für diesen Begriff in der deutschsprachigen Pastoraltheologie vor allem Rainer Bucher und Ottmar Fuchs stark gemacht. Im Rückgriff auf Gaudium et spes betont Klinger: „Das Besondere der Pastoralkonstitution liegt in ihrem Begriff der Pastoral. Er meint nicht mehr nur den priesterlichen Dienst am Laien, sondern den Dienst der Kirche insgesamt, also Priester und Laien zusammen, an der Welt im Ganzen. … Er ist konstitutiv für die Kirche … und betrifft alle Ebenen …, daher auch der Begriff einer Gesamtpastoral, der sich bei uns noch gar nicht durchgesetzt hat.“ (Klinger 2009, 87)
Mit Blick auf die hiesige kirchliche Situation diagnostiziert Rainer Bucher einen „Verlust der inneren Kohärenz der kirchenbildenden Orte“ (Bucher 1998, 218) nach dem Konzil: „Das grundlegende Problem der deutschen katholischen Kirche kann … als ihr Mangel an vernetzten und als vernetzt wahrgenommenen Orten der Kirchenbildung beschrieben werden. … Die unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfelder werden … nur sehr ungenügend im Sinne einer Gesamtpastoral wieder zusammengeführt. … Was weiß eine Gemeinde von der Caritas in ihrem Ort, welcher Austausch besteht zwischen jenen, die das Evangelium in der Schule und jenen, die es am Altar verkünden …? … Vor allem aber fehlt es an einer wechselseitigen ‚Kultur der Anerkennung’ kirchlicher Orte … Ohne eine solche Kultur … schwindet … der reale innerkirchliche Zusammenhalt …“ (ebd., 219; 233; 265). Ottmar Fuchs skizziert das Profil einer Kirche, in der entsprechende gesamtpastorale Anerkennungsprozesse die Basis gemeinsamer kirchlicher Weltpräsenz darstellen: „Dies wäre eine künftige Gesamtpastoral: Ereignisnah flexibel und alltagskontinuierlich stabil, klein beweglich und groß vernetzt, wenig zentralistisch und doch dachgeschützt, niederschwellig und anspruchsvoll – für Menschen mit loser Bindung (eher kasual- bzw. prozessorientiert als auf längere Zeit), für Menschen mit dichter und dauerhafter Anbindung. Bedingung dafür ist die gegenseitige Achtung der unterschiedlichen Vollzugsweisen der Pastoral, von Gemeinde- und Krankenhausseelsorge, von Jugendarbeit und Citypastoral, ein gegenseitiges Voneinander-Wissen, das für die anderen auskunftsfähig ist, und schließlich die Fähigkeit, Menschen wieder an andere Bereiche abzugeben und die Übergänge sanktionsfrei zu gestalten.“ (Fuchs 2010, 123f)
Gesamtpastoral interkulturell
Was von Ottmar Fuchs und Rainer Bucher programmatisch vorgedacht ist, lässt sich nun pastoralgeschichtlich in weltkirchlicher Perspektive kontextualisieren – und damit auch konkretisieren. Begonnen hat die Rede von der weltpräsenten Gesamtpastoral einer binnenpluralen Kirche in der französischen Vorgeschichte des Zweiten Vatikanums. Im dortigen „Kirchenfrühling“ (Suhard 1947, 174; vgl. Bauer 2004) kam es zu zahlreichen pastoralen Aufbrüchen, welche die Frage nach dem innerkirchlichen Zusammenhang aufwarfen – genannt seien nur drei kurze Stichworte: Mission de France, Arbeiterpriester, Madeleine Delbrêl. Roger Etchegaray, Sekretär der französischen Bischofskonferenz bzw. späterer Erzbischof von Marseille und Kurienkardinal, griff damals auf den von Fernand Boulard und Jean-François Motte geprägten Begriff der Gesamtpastoral zurück: „Das erste Ziel dieses gemeinsamen Apostolats besteht darin, alle verfügbaren Kräfte in derselben Hinsicht … zu orientieren: auf die Schaffung von lebendigen christlichen Gemeinschaften und zugleich darauf, die Pfarrei, die Diözese und schließlich das ganze Land in einen Zustand der Mission zu versetzen“ (zit. n. Mwansa 1979, 40; vgl. Chenu 1964). Es geht um eine Mobilisierung des gesamten Volkes Gottes in Bezug auf seine Sendung in die Welt: „Die Kirche von heute ist vor allem durch eine Erneuerung der Pastoral in ihrer ureigenen Dynamik gekennzeichnet, die ihr aus der Mission Christi heraus zukommt: allen Menschen die Mittel des Heils anzubieten. … Angesichts dieser reichhaltigen Blüte hat man vor allem in unserem Land begonnen, von einer ‚Gesamtpastoral’ zu sprechen …“ (Etchegaray 1962, 102f).
François Houtard, der auch an der Entstehung von Gaudium et spes maßgeblich beteiligt war, resümiert mit Blick auf die zeitgleich entstehenden ersten Pastoralpläne und verbindet beide Ansätze: „Der Begriff der Gesamtpastoral ist in Frankreich entstanden … Die Idee der Pastoralpläne ging … von den Entwicklungsländern aus, insbesondere von Lateinamerika und Afrika. … Der Gedanke stand ohne Zweifel in Parallele zu den Entwicklungsplänen. Ein solcher Plan sieht bekanntlich alle Elemente einer ökonomischen und sozialen Entwicklung vor und sucht … die … vorhandenen Kräfte so in Übereinstimmung zu bringen, dass sie möglichst angemessen dazu beitragen.“ (Houtard 1967, 175f) Ein pastoralgeschichtliches Schlüsseljahr in diesem Zusammenhang war das Jahr 1961. Damals veröffentlichte die chilenische Bischofskonferenz eine Vortragsreihe der beiden Pastoralsoziologen Boulard und Motte (1961) zur pastoral de conjunto, und zugleich beschloss die kongolesisch-zairische Bischofskonferenz, die pastorale d’ensemble zur Grundlage ihres Handelns zu machen: „Die Gesamtpastoral wird … als eine Organisation verstanden, deren Sinn darin besteht, zu vereinen, um besser dienen zu können [unir pour mieux servir] – und zwar indem man … die verschiedenen Probleme des Apostolats im Ganzen betrachtet, auf allen Ebenen und mit Blick auf die spezifischen Gaben jedes einzelnen Mitglieds.“ (Mwansa 1979, 37; 39)
Horizont der Gottesherrschaft
Mit dem Begriff der Gesamtpastoral sind also höchst spannende weltkirchliche Austauschprozesse (vgl. Nacke 2010) im Kontext des Zweiten Vatikanums verbunden. Dabei kommt es, wie bei allen interkulturellen Übersetzungsvorgängen, auch zu inhaltlichen Akzentverschiebungen. Im Falle Lateinamerikas ist dies nachkonziliar vor allem eine befreiungstheologisch inspirierte Ausrichtung der Gesamtpastoral auf das Reich Gottes hin. Das Schlussdokument der Bischofsversammlung von Medellín 1968 stellt sie unter ein sozialpastorales Vorzeichen im Sinne des Konzils: „In unserem Kontinent befinden sich Millionen von Menschen am Rande der Gesellschaft und werden gehindert, die ganze Fülle ihrer Bestimmung zu erreichen … Die Kirche muss dieser Situation mit geeigneten pastoralen Strukturen begegnen … Daraus ergibt sich, dass die kirchlichen Strukturen periodisch … neu angepasst werden müssen, so dass sich … das entwickeln kann, was ‚Pastoral de conjunto’ genannt wird; das heißt, all jene gemeinsame Heilsarbeit, die durch die Sendung der Kirche unter ihrem umfassenden Aspekt … gefordert ist.“ (Schlussdokument der CELAM-Generalversammlung von Medellin, Nr. 15)
Dieser heilsorientierten Mission des gesamten Volkes Gottes wird eine Gesamtpastoral entsprechender lokalkirchlicher Entwicklungsprozesse auch kirchenorganisatorisch Raum geben müssen: Sammlung im Dienste der Sendung. Im Rahmen einer auf beiden Kirchenkonstitutionen des Zweiten Vatikanums basierenden, kommunial-liturgisch und zugleich missionarisch-diakonisch ausgerichteten Doppelekklesiologie (vgl. Bauer 2013) könnte dann einerseits ein mit Lumen gentium rekonstruiertes Personalprinzip gelten (Stichwort: Orte kommunialer Nähe), andererseits aber auch ein mit Gaudium et spes begründetes Territorialprinzip (Stichwort: Räume missionarischer Weite). Letzteres ermöglichte dann auch eine „missionierende Jüngerschaft im Dienst des Lebens“ (Botschaft der CELAM-Generalversammlung von Aparecida an die Völker Lateinamerikas und der Karibik, Nr. 4; vgl. Bauer 2013a), wie sie die lateinamerikanische Bischofsversammlung von Aparecida 2007, die vom heutigen Papst Franziskus maßgeblich mitbestimmt wurde, unter Rückgriff auf die konziliare Leitdifferenz von communio und missio (vgl. LG 4) herausstellte: „Die vom Bischof geleitete Diözese ist der bevorzugte Ort der Gemeinschaft und der Mission. Die Diözese muss eine mutige und erneuernde Gesamtpastoral anregen und anleiten, so dass die verschiedenen Charismen, Dienste, Ämter und Organisationen auf ein gemeinsames missionarisches Projekt gerichtet sind, um das eigene Umfeld mit Leben zu erfüllen. Ein solches Vorhaben, das sich aus ganz unterschiedlichen Formen der Mitwirkung zusammensetzt, macht eine Gesamtpastoral möglich, die in der Lage ist, neuen Herausforderungen zu begegnen.“ (Schlussdokument der CELAM-Generalversammlung von Aparecida, Nr. 169)
Resümee
Auf der Suche nach Inspiration aus den Kirchen des Südens könnte man in Hildesheim und anderswo über das Bibelteilen bzw. Kleine Christliche Gemeinschaften hinaus auch deren gesamtpastoralen Orientierungsrahmen in Betracht ziehen. Dabei geht es nicht um die Übernahme von pastoralen Kopiervorlagen, sondern vielmehr um Provokationen zu Eigenem: zu eigenen Lösungen für den eigenen Kontext. Denn grundsätzlich gilt für den Import von kontextfremden Pastoralformaten ja die Formel von Bernhard Spielberg (2011): Südfrüchte sind leicht verderblich. Inspirierend wäre in jedem Fall die befreiungstheologisch ausgerichtete Reich-Gottes-Orientierung einer transversal vernetzten Gesamtpastoral, die auch in einigen Publikationen von Christian Hennecke aufscheint: Wem dienen eigentlich all unsere schönen Prozesse einer lokalen Kirchenentwicklung primär? Dem Wachstum der Kirche oder – was ja nicht dasselbe ist – dem Wachstum des Reiches Gottes in der Welt? Schließlich werden, so Rolf Zerfaß, auch die „Unschuldslämmer in unseren Reihen … schwerlich sagen: Gott ist derzeit voll davon in Anspruch genommen, die kooperative Pastoral bei uns zu installieren.“ (Zerfass 1998, 259) Er ist keineswegs nur mit der lokalen Entwicklung seiner Kirche befasst, sondern vielmehr mit der Vollendung seiner gesamten Schöpfung. Dazu gehört dann, im Horizont seines universalen Heilswillens, auch die jeweilige Kirche vor Ort als „Zeichen und Werkzeug“ (LG 1) dieser Vollendung – aber eben nicht nur. Und die Moral von der Geschicht? Vergiss die Gottesherrschaft nicht!